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in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 392-394
Beiträge von Lothar Jändke, Don Weitz, Peter R. Breggin, Bonnie Burstow, Wolfgang Fehse, Sylvia Marcos, Gisela Wirths, Peter Stastny, Theodor Itten, Sabine Nitz-Spatz, Kerstin Kempker, Thilo von Trotha, Uta Wehde

Alfredo Moffatt

Persönliche Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln

Meine primäre Motivation ergab sich aus meinem Eindruck vom Leben in den Irrenhäusern, wahren Konzentrationslagern, in denen Identität zerstört wird ohne Einsatz von Folterinstrumenten, die das immerhin schnell und ohne Verzögerung besorgen. Die massive Beraubung jeglicher sozialer Anreize in den Psychiatrischen Anstalten, die Unterdrückung von Liebe (Sexualität) und Arbeit (Beruf) zerstören die lebensgeschichtliche Identität der 'Patientinnen' und 'Patienten'. Darüber hinaus verlieren sie auch ihre vertraute Umgebung, ihre Geschichte, sie werden zu 'klinischer Geschichte', wo sie sich wie 'gute Irre' benehmen müssen, um die Diagnose des Psychiaters zu bestätigen, der für das Funktionieren des Irrenhauses zuständig ist.

Diese Welt voller Brutalität und psychologischer Grausamkeit erfahren zu haben und gleichzeitig jede Ungerechtigkeit zu hassen, wurde meine Energiequelle für den Versuch, diese Welt zu verändern. Meine Strategie ging in Richtung auf organisatorische Selbstverwaltung mit alternativen Techniken und Lösungen. Ich arbeitete so, als ob es um ein Volk ginge, das um seine Freiheit kämpft. Ich schlug den gemeinsamen Kampf gegen das System vor, wie er in den Armenvierteln Argentiniens üblich war.

Ich betrachtete die Leute nicht als Patientinnen und Patienten. Sie waren unterdrückte Mitbürger; mein Buch, in dem es um diese Erfahrungen geht, nannte ich deshalb »Psicoterapia del oprimi« (»Psychotherapie des Unterdrückten«). Resultat war, dass die Leute sich organisierten und es schafften, eine offene Therapeutische Gemeinschaft zu gründen. Diese Organisation hat etwas von der Philosophie der 'Gauchos' (Landarbeiter in den Pampas), etwas vom Anarchismus und viel vom Gedankengut Frantz Fanons, dem Befreiungsideologen Algeriens.

Dieser Kampf dauert nun schon eine Reihe von Jahren (unterbrochen von der blutigen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1982), und er hat uns, die wir diese Erfahrung mitgemacht haben, dazu verholfen, auch uns selbst als Bestandteile des professionellen Kleinbürgertums zu erkennen, uns klarzuwerden über unsere fehlende Einbettung in die Wirklichkeit des Volkes und uns in diese Realität zu integrieren. Und diese Erfahrung befreite uns auch von der abstrakten Art zu reden, wie sie sich für den argentinischen Intellektuellen so gehört.

In einem Bericht von Mona Moncalvillo (1) aus dem Jahre 1987 werde ich als »Sozialpsychologe der Gegenkultur« bezeichnet. Da ich mich in dem Bericht recht gut wiedererkenne, lasse ich der Einfachheit halber, von einigen kleinen Änderungen meinerseits abgesehen, Mona Moncavillo meine Tätigkeit beschreiben:

»Nach 25 Jahren, in denen Alfredo Moffatt gemeinsam mit einer Art 'Corte de los milagros' ('Hof der Wunder') (2) gekämpft hat, arbeitet er nun weiterhin mit einem ganzen Spektrum von Ausgegrenzten; von Verrückten bis zu Gefangenen sind es Menschen, die, bis hin zu ihrer Identität, alles verloren haben. Dabei versucht er, den Dialog herzustellen: die wirksamste Methode gegen Einsamkeit und Tod. Der Sozialpsychologe ist 53 Jahre alt und definiert sich selbst als Agent der Verrücktheit, wobei er allerdings nur wenig mit der weitverbreiteten psychoanalytischen 'Therapie auf der Couch' zu schaffen hat. Er pilgerte in Psychiatrische Anstalten, Armen- und Waisenhäuser sowie Gefängnisse und kümmerte sich dort um den Schmerz und die emotionalen und materiellen Bedürfnisse der Menschen, wodurch er eine magische Gemeinschaft der Liebe und Solidarität schuf. Dies führte einerseits zu seiner eigenen Ausgrenzung aus der akademischen Welt und andererseits dazu, dass er sich gut in das wirkliche Leben einfügte. Statt, wie es üblich ist, das eine zu predigen und das andere zu tun, lebt er in Buenos Aires im elften Stadtbezirk in einem winzigen, schmucklosen Zimmer, wo er ursprünglich mit Unterrichtsstunden etwas Geld verdienen wollte. Sein Zimmer verwandelte sich jedoch inzwischen in einen Zufluchtsort für gelegentlich aufkreuzende hilflose Menschen sowie in eine Kleidersammelstelle für die Internierten der Neuro-Psychiatrischen Anstalt Borda.

1971 gründete er hinter dieser Anstalt den 'Kreis Carlos Gardel', wo viele Menschen Hilfe fanden; durch Theater, Tanz, Wandmalerei und Essen. Nachdem die Aktivitäten während der Militärdiktatur vorübergehend zum Erliegen gekommen waren, wurden sie 1986, vor drei Jahren, mit frischem Elan und unter dem neuen Namen 'Cooperanza' ('Genossenschaft der Hoffnung') wieder aufgenommen.

1982 errichtete er gemeinsam mit sensibel gebliebenen Professionellen sowie ehrenamtlich Tätigen 'El Bancadero', eine psychosoziale Gemeinschaft gegenseitiger Hilfe, die in einem großen alten Haus in Almagro, einem Stadtteil von Buenos Aires, untergebracht ist. Dort kehren Hoffnungslose und Verzweifelte ein, die eine Psychotherapie wollen, sie aber nicht bezahlen können. Ohne Respekt gegenüber den klassischen Lehrformen entwickelt Moffatt neue Therapiemethoden für Geist und Körper, und zwar im Interesse derjenigen, um die sich sonst niemand kümmern will. Er schafft Orte, an denen sie zumindest Gehör finden, auch wenn ihn einige Kollegen mit gehässigen Bemerkungen wie 'populistischer Demagoge' oder 'Schwätzer' angreifen.«

Aus dem argentinischen Spanisch von Karin Gavin-Kramer und Birgit Holdorff

Anmerkungen der Herausgeber

(1) Original veröffentlicht unter dem Titel »Alfredo Moffatt – Psicólogo social de la contracultura« in: Humor (Buenos Aires), Heft 198 (Juni 1987), S. 34 Pfeil

(2) Kreis der Klientinnen und Klienten Alfredo Moffatts, benannt nach dem früheren Asyl der Pariser Gauner und Bettler Pfeil


Über den Autor

Alfredo Moffatt ist 59 Jahre alt und Psychologe an der Schule 'Enrique Pichon Riviere'. Im Bereich Sozialpsychologie koordinierte er in Argentinien, Brasilien und den USA Experimente mit therapeutischen Gemeinschaften. An der Universität von Buenos Aires besaß er von 1957 bis 1988 einen Lehrstuhl. Von 1970 bis 1971 arbeitete er im Krisenzentrum der Maimonides-Clinic in New York City. Anschließend führte er an Universitäten in San Pablos, Florianapolis, Belo Horizonte und anderen brasilianischen Städten für Psychiatrieverbände Kurse und Konferenzen über Krisentherapie durch. Seit 1977 erforscht er Kurztherapien, um ein Modell zu entwickeln, das noch wirksamere Möglichkeiten der Hilfe und Fürsorge bereitstellt. Buchveröffentlichungen: "Terapia de crisis. Teoría temporal des psiquismo", Buenos Aires: Ediciones Búsqueda 1982; "Psicoterapia del oprimido. Ideología y técnica de la psiquiatría popular", Buenos Aires: Editorial Humanitas 1988; u.v.m. (Stand: 1993). Mehr zu Alfredo Moffatt


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