Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 401-403
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha,
Uta
Wehde
Sylvia
Marcos
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
Es gibt viele Möglichkeiten, das begrifflich
zu fassen, was Verrücktheit genannt wird. Die Psychiatrie
macht aus ihr eine 'psychische Krankheit' und leugnet damit ihre
existentielle Bedeutung. Kulturell und historisch gesehen, stellte
Verrücktheit ein Tor zum Übernatürlichen dar oder
sogar einen Weg der heiligen Läuterung. Manchmal wurde sie
kriminalisiert. Verrückte durchbrachen Schranken, wurden
aber trotz der gesellschaftlichen Notwendigkeit solcher Grenzen
nicht isoliert. Vielmehr fanden sie ihren Platz als die Ausnahmen,
die zum Verständnis der bestehenden Verhältnisse beitrugen.
Zu manchen Zeiten wurden sie verehrt, zu anderen gefürchtet;
aber in der Regel begegnete man ihnen mit Ehrfurcht. Außerdem
ist Verrücktheit nach wie vor eine Möglichkeit, sich
gesellschaftlichen Zwängen und unterdrückenden Normen
und Verpflichtungen zu entziehen, seien sie nun sozialen, familiären
oder gesellschaftlichen Ursprungs. Sie war immer schon ein
wenn auch schmerzhafter und schwieriger Weg, unerträglichen
Zwängen aller Art zu entfliehen.
Deshalb ist Verrücktheit etwas anderes als 'psychische Krankheit':
Das erste ist eine Form gelebten, wenn auch extremen Andersseins.
Das zweite ist ein soziales Konstrukt vermutlich gutwilliger Professioneller,
die mit ihrer 'fürsorglichen Umarmung' Besitz von 'kranken
Menschen' und deren Wünschen und Plänen ergreifen und
sie der Echtheit ihrer Erfahrung berauben.
Obwohl ihre 'Heilung' auf eine Tradition professioneller Unfehlbarkeit
(»nur zu deinem Besten«) gründet, entsteht 'psychische
Krankheit' in Wahrheit erst mit der Psychiatrischen Anstalt. Dort
bekommen die 'psychisch Kranken' den Patientenstatus zugewiesen,
samt Etiketten. So gesehen, stellt die Psychiatrische Anstalt
einen abgetrennten Raum dar, wo Verrücktheit kontrolliert
und in 'Geisteskrankheit' umgewandelt wird. Die 'Klinik' ist ein
Raum, in dem soziale Kontrolle mittels Einsperrung betrieben wird.
Erste Zweifel an der 'Heilung' von 'psychischer Krankheit' kamen
mir in den 70er Jahren, als ich Klinische Psychologie studierte.
Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit 'psychischer
Krankheit'. Irgend etwas in mir sträubte sich, die 'therapeutische
Distanz' zu akzeptieren, welche die Verrückten in eine bestimmte
Ecke rückt, sie zu 'psychisch Kranken' macht zu PatientInnen,
die sich behandeln lassen müssen. Intuitiv ahnte ich, dass
dies nichts mit der historischen Bedeutung von Verrücktheit
zu tun hatte. Ich erinnere mich an die Menschen, die man mir als
'Patientinnen' und 'Patienten' vorstellte. Die meisten waren arm,
arbeitslos, AußenseiterInnen oder (körperlich) krank.
Es gab auch Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt worden waren.
Es war, wie Franco Basaglia mir einige Jahre später klar
machte, eine Ansammlung von perspektivlosen Menschen, die nichts
zu essen hatten und niemanden, der für sie sorgte. Diese
Bedingungen waren es, die man in ein 'wissenschaftliches Problem'
verwandelte, um es durch die Isolierung vom 'gesunden' Teil der
Gesellschaft zu lösen. Ich begriff, dass Verrücktheit,
so wie ich sie hier beschreibe, nur ein Grund unter vielen ist,
in der Psychiatrie zu landen.
Schon vor langer Zeit habe ich den Gedanken aufgegeben, man könne
Verrücktheit als historisches Phänomen vom Antlitz der
Welt verbannen. Wer die Welt davon erlösen will, kann lediglich
die Verrückten einsperren, ihre existentielle Authentizität
zerstören und Verrücktheit zu einem 'Problem' machen,
das professioneller 'Lösungen' bedarf. Auf diese Art und
Weise wird eine ganze Dimension menschlicher Erfahrung verleugnet.
Es gibt professionelle Heiler der Verrücktheit, aber nur
wenige 'professionelle Verrückte'. Damit meine ich, dass
sich außerhalb Psychiatrischer Anstalten wenig Menschen
ihr Leben in ständigem Wahnsinn einrichten. In der Regel
ist er von vorübergehender Natur, und so wird er bis
zu einem gewissen Grad von den meisten erlebt, als mögliche
Erfahrung. Manchmal ist er auch die Antwort auf eine unerträgliche
Situation; ändert sich die Ausgangssituation, verschwindet
der Wahn wieder.
Wieso sollten soziale Missstände hinter der Fassade einer
Anstalt versteckt werden? Aus welchem Grund sollten wir die Verrücktheit
losgelöst von menschlichen Erfahrungen bewerten? Warum lassen
wir sie nicht ihren Ausdruck finden, als Teil der komplizierten
und manchmal beschwerlichen Situationen, die zu unserem Alltag
gehören?
Dies waren die Fragen, die mir durch den Kopf gingen, als ich
mit Basaglia die 'Öffnung' der Anstalt in Triest und mit
Felix Guattari in La Borde erlebt und mit David Cooper den Begriff
der Verrücktheit philosophisch erörtert hatte. In den
80er Jahren entschied ich mich, in Mexiko etwas Neues auszuprobieren.
Ich suchte mir etwa 40 Gleichgesinnte; wir begannen damit, Verrückte
zu empfangen, ihnen zuzuhören und ihnen unsere Zeit und Aufmerksamkeit
zu schenken. Wir nannten unser Projekt »Procesos de Accion
Comunitaris« (»Prozesse gemeinschaftlichen Handelns«).
Wir wollten diese Menschen, die von der psychiatrischen Medizin
als 'psychotisch' etikettiert worden waren, wieder in Gemeinde-
und Familienstrukturen integrieren. Einige von uns bezogen ihre
Gemeinde oder die eigene Familie als Verstärkung mit ein.
Jene Leidenden sollten sich an ihrem oder unserem Arbeitsplatz
aufhalten, uns bei unserem politischen Engagement begleiten und
an unseren Zerstreuungen und Vergnügungen teilhaben. Einige
GastgeberInnen lebten auf dem Land, in kleinen Bauerndörfern,
andere in der Stadt. Der Umgang und die Freundschaft, ebenso wie
das Verständnis und die Toleranz, die sie anzubieten hatten,
halfen ihren Gästen, den psychischen Druck und das Leiden
zu verringern und sich nach einer Weile des Zusammenlebens davon
freizumachen.
Für mich ist diese Arbeit und diese Erfahrung keineswegs
etwas Vollkommenes. Innerhalb einer ungesunden Gesellschaft können
wir uns dem nur annähern. Aber wir nahmen Verrücktheit
als das, was sie ist: eine existentielle Erfahrung, die uns beständig
mahnt, dass Verrücktheit keine 'Krankheit' ist, die es auszurotten
gilt, sondern gelegentlich zu überleben hilft.
Ich schenke niemandem Glauben, der mir erzählt, er wolle
Verrücktheit heilen, indem er Elektroschocks oder pharmazeutische
Wirkstoffe anwendet, die einen Menschen lähmen und zum Roboter
machen. Ebenso absurd ist es, Interesse für diesen Menschen
vorzugeben, wenn man ihn in seiner Bewegungsfreiheit einschränkt
und in die Psychiatrische Anstalt sperrt. Dies sind lediglich
Mittel zur Kontrolle abweichenden Verhaltens, orientiert an Normen,
die von den 'heilberuflich Tätigen' diktiert werden.
Die Begriffe 'heilen' und 'Anteil nehmen' beschreiben zwei verschiedene
Haltungen. 'Heilen' beinhaltet, dass es ein Modell oder ein Maß
für Normalität gibt und dass jemand die Macht hat, es
Dritten aufzuzwingen. Es unterstellt ein handlungsfähiges,
mächtiges Individuum auf der einen und ein passives, zauderndes
auf der anderen Seite. 'Anteil nehmen' heißt, für den
anderen Menschen da sein, für seine Bedürfnisse, seine
Begehren, seine eigenen Pläne. Ich lehne es ab zu 'heilen'.
Alles was ich versuche, ist Anteil zu nehmen.
Aus dem Amerikanischen von Rainer Kolenda
Über die Autorin
Forschte über Geschlechterrollen im alten und heutigen Mexiko.
Erhielt den 'Rockefeller Humanist in Residence Award', der ihr
einen Studienaufenthalt im Rahmen des Women's Studies Program
im Hunter College in New York City ermöglichte. Vorher Forschungsassistentin
beim Women's Program for Sociology and the Psychology of Religion
an der Harvard Divinity School. Derzeit Mitglied des internationalen
Herausgeberkollegiums von Gender and Society (Geschlecht und
Gesellschaft), Beigeordnetes Mitglied der Forschungsgruppe
am Nationalen Institut für Anthropologie und Geschichte in Mexiko
und Professorin für Sozialpsychologie an der Universidad Autónoma
de Estado de Morelos, Cuernavaca/Mexiko. Außerdem selbstständig
praktizierende Psychotherapeutin. Initiierte die Antipsychiatrie-Bewegung
in Lateinamerika. Veröffentlichungen: "Manicomios y Prisones",
Mexico, D.F.: Red Ediciones 1983; "Alternativas a la Psiquiatría.
Dossier México", Mexico, D.F.: Nueva Sociología 1982; "Antipsiquiatría
y Política", Mexico, D.F.: Extemporaneos 1980; "Frauen, Heilungsrituale
und Volksmedizin in Mexiko", in: Concilium, 27. Jg. (1991), Nr.
2; "Geschlecht und Moralvorschriften im alten Mexiko nach den
Texten des Bernardino de Sahagún", in: Concilium, 27. Jg. (1991),
Nr. 6; u.v.m. (Stand: 1993)
© 1993 by Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag