Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 413-417
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Uta
Wehde
Thilo
von Trotha
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
»Was willst du?« Schweigen.
»Willst du hier bei uns bleiben?« Nein.
»Willst Du an einen anderen Ort, zu anderen Freunden?«
Nein. »Brauchst Du irgendetwas?«
Schweigen. »Willst du zu Deiner Mutter?«
Nein. »Sollen wir erst einmal ein paar Schritte rausgehen
und später über alles reden?« Schweigen.
»Möchtest du allein sein?« Nein.
»Willst du jemanden sehen, irgend jemanden besuchen,
anrufen?« Nein. »Sprich mit mir!«
Schweigen. »Soll ich gehen?« Nein.
»Soll ich bleiben?« Nein.
Dieses beharrliche, tonlos herausgepresste Nein bildete nach
einer über zweijährigen Existenz in der Anstalt und
ihrem ambulanten Dunstkreis für viele Monate den Gipfel der
Redseligkeit, zu dem ich mich selbst gegenüber den Vertrautesten
verstieg. Nach einer undramatischen Flucht aus psychiatrischer
Verwahrung ich kehrte nach einem kurzen Urlaub einfach
nicht in die Anstalt zurück nahmen mich Freunde in
ihrer Wohnung auf. Voraussetzung dafür war allerdings, dass
ich meinen hartnäckigen Widerstand gegen ihre nicht gerade
anspruchsvollen Bedingungen für unser 'Zusammenleben' aufgab
und wieder anfing, mich zu waschen, die Kleider zu wechseln, mehr
als ein Joghurt am Tag zu essen und hin und wieder abzuwaschen
oder einzukaufen. Nicht mehr. Keine Aufforderung, mich in irgendeiner
Weise 'behandeln' zu lassen, irgendeiner Beschäftigung nachzugehen,
irgendeine Perspektive zu entwickeln. Dennoch ließ mich
allein schon das Bewusstsein, diese minimalen Konzessionen gemacht
zu haben, Wut auf diese mir wohlgesonnenen und verständnisvollen
Menschen empfinden, da sie mich daran hinderten, das radikale
Nein, in dem allein ich noch anwesend war, kompromisslos auszukosten.
Unsicher noch bei der kleinsten Alltagshandlung (Nehme ich das
Telefon ab? Und wenn ein Fremder dran ist, einer, der es noch
nicht gelernt hat, mit meinem Schweigen zu telefonieren?), überfordert
noch von der marginalsten Entscheidung (Kaufe ich ein Erdbeer-
oder ein Ananasjoghurt?), regte sich dagegen in mir zu keinem
Moment der geringste Zweifel an der Notwendigkeit meiner Verweigerung,
gerechtfertigt allein von dem unzugänglichen, höchst
intimen Wissen, dass an die rabenschwarze Finsternis meiner Psychiatrie-Erfahrungen
keine noch so behutsame Annäherung heranreichen könnte.
Woher dieser Hass? Bestand er allein aus dem Reflex auf die psychiatrisch
veranstaltete Existenz? Auf die neurotoxische Verunstaltung durch
Psychopharmaka? Oder entsprang er der sich unablässig aufdrängenden
Erinnerung an die Nächte in der Isolierzelle, angeschnallt
mit auseinandergespreizten Armen und Beinen? Der panischen Todesangst,
deren emotionale Realität von der psychologisierenden Frage,
ob ihre Ursachen nicht doch eher imaginärer Natur gewesen
seien, auf das zynischste verspottet wurde? Dem Vergnügen,
das einzelne Schlüsselinhaber darin fanden, meiner wahnsinnigen
Angst, auf bestialische Weise ermordet zu werden, Nahrung zu geben
(»So, Herr Trodda, jetzt esse mer ä bissle von dera
Kartoffelsupp. Des Unkrautvertilgungsmittel, des mir Ihne nachad
spritze, muess doch ebbes zum Beiße habbe...«)? Oder
Episoden wie der 'therapeutischen' Einzelsitzung, in der der Stationspsychiater
sich dafür rächte, dass ich ihn in der Regel nach spätestens
fünf Minuten wortlos mitten in seinem betulichen Redeschwall
sitzen ließ, indem er mich auf meine längst unauffindbar
im Psychodrogennebel abgetauchte Canetti-Lektüre ansprach,
wohl wissend, dass mir die Dosis des Neuroleptikums Benperidol
(Glianimon), die er mir dreimal täglich verabreichen ließ,
selbst das Entziffern der Schlagzeilen der Badischen
unmöglich machte?
Nur zu bereitwillig hätte ich solche Erlebnisse dazu genutzt,
die Untiefen meines Hasses auszuloten und auf ihren Grund zu stoßen!
Aber sie taugten nicht dazu und verblassten im Schatten jener
unbedingten Düsterkeit zu fragwürdigen Pointen einer
Geschichte, die mich zum unverstandenen Opfer stilisierte: Anekdoten.
Denn war nicht das Verdammungsurteil, das ich über mich
selbst gefällt hatte, immer um ein Vielfaches endgültiger
und vernichtender als die unberechenbar wechselnden psychiatrischen
'Diagnose'-Versuche, die ihre Verständnislosigkeit, Borniertheit
und Oberflächlichkeit auf geradezu naive Weise unter latinisierenden
Leerformeln zu verbergen suchten? Konnte ich mich wirklich als
'Psychiatrie-Überlebenden' begreifen? Vielleicht, aber nur,
wenn mit 'Psychiatrie' nicht ausschließlich dieser merkwürdige,
aus pseudomedizinischen, polizeitechnischen, magischen und rituellen
Versatzstücken zusammengeflickte Fleischwolf für alles,
was als sozial unverdaulich gilt, gemeint ist, sondern auch all
das, was im Brennpunkt meiner eigenen überbordenden Lebensfeindlichkeit
mit diesem heimtückischen Repressionsapparat korrespondierte
und ihm auf diese Weise seine destruktive Macht überhaupt
erst verlieh. Ich musste einsehen, dass mein Hass auf einzelne
Handlanger, die irgendwelche groben, leicht berechenbaren und
letztlich subalternen Funktionen in der psychiatrischen Maschine
exekutierten, mich daran hinderte, etwas über die mir zur
zweiten Natur gewordene Verweigerung zu erfahren. Auch deshalb
blieb ich so lang allein mit ihr.
Bis ich aus purem Zufall über eine Zeitungsannonce auf Leute,
Ideen, Theorien und Aktivitäten stieß, die meinem diffusen,
ungeschlachten Nein in verschiedenen Formen antipsychiatrischer
Tätigkeit Konturen verleihen konnten. Da waren Menschen,
die die psychiatrische Entstellung auf ähnliche und schlimmere
Weise am eigenen Leib erfahren und dennoch Wege gefunden hatten,
sich gemeinsam zu äußern. So befreiend es auch auf
mich wirkte, in den Chor der nur allzu berechtigten Anklagen gegen
die Psychiatrie einzustimmen, so war doch von Anfang an dieses
wunderbare, unerschöpfliche, variationsreiche 'Anti' das,
was mich am meisten in seinen Bann schlug und mich in seiner fröhlichen,
im besten Sinn verantwortungslosen Anarchie nach und nach aus
meiner Fixierung auf meinen dumpfen Hass und seine spiegelbildliche
Reproduktion der psychiatrischen Entfremdung herauslöste.
Denn es gab weitaus mehr zu sagen, zu denken, zu schreiben und
zu tun, als einfach nur »Nein«. Mit diesem beziehungsvollen
'Anti' war der erste Schritt in eine Dialektik des Hasses getan,
die weit über den selber nur vermittelten und symptomatischen
Charakter der psychiatrischen Repression hinausreichte und damit
meine eigene Psychiatrie-Betroffenheit in einen sozialen Raum
stellte, der neben ihr noch vieles andere umfasste und in dem
es möglich wurde, das negative psychiatrische Stigma nicht
einfach nur zur 'Position' der Betroffenheit umzukehren (und damit
insgeheim zu verdoppeln), sondern auf einen allen gemeinsamen
Horizont hin zu überwinden.
Das 'Anti' in der Antipsychiatrie öffnet ihr die Möglichkeiten
politischen Denkens und Handelns. Es reißt den psychiatrischen
Praktiken die scheinbar so neutralen, pragmatischen, psychologischen
und medizinischen Masken ab, mit denen jene Machenschaften die
Fratze ihrer Herkunft aus der politischen Sphäre von Macht
und Gewalt, Ausschließung und Einsperrung, Denunziation
und kollektiver Selbstvergewisserung überschminken.
Die bleischwere, sich selbst umkreisende und nach außen
blinde Realität der Psychiatrie-Betroffenheit, die sich in
meinem stummen Widerstand mehr verbarg als offenbarte, fand sich
in einem solchen auf einmal durchsichtig gewordenen, zu einer
kämpferischen Gegnerschaft gebündelten Hass aufgehoben
und in ihrem innersten Recht bestätigt. Dieser Hass machte
nicht blind, sondern schärfte den Blick für Wahrheiten,
die weder vom Pathos der reinen Opferrolle noch von der falschen
Hoffnung auf irgendeine Form von 'Verstehen' oder gar Versöhnung
erfasst wurden. Nicht ein verblasenes 'positive thinking'
(positives Denken), ein aufgeregtes Herumstochern im privaten
Psychodrama oder das verführerische Ausweichen in die diffuse
Allgemeinheit einer Klage über die Bösartigkeit der
'gesellschaftlichen Verhältnisse', sondern eine Haltung,
die dem Hass und der Angst, der Wut und der Ohnmacht ein persönliches
Gesicht und eine individuelle Sprache gaben, erlaubten es mir,
das Hassen zu lernen und mich dadurch allmählich seinem
Würgegriff zu entwinden.
Noch im Namen des Projekts, für das ich mich seit der Bekehrung
zum kreativen Nein-Sagen einsetze, schwingt dieses in eine Fülle
von beweglichen Konstellationen politischer, sozialer und ganz
persönlicher Natur aufgelöste 'Anti' unüberhörbar
nach: Weg-Lauf-Haus. Dieses pragmatisch konzipierte Projekt beweist,
dass jenes in eine lebendige, dialektische Bewegung entlassene
'Anti' eben nicht bloß destruktiv und hoffnungslos ist und
zu Stillstand und Passivität verdammt. Das vom normierten
Common-Sense stereotyp nachgeplapperte Dogma der 'Effizienz' und
'Machbarkeit' erweist sich in seiner affirmativen Einfalt als
Hindernis auf der Suche nach wirklich Neuem. Vielmehr gilt es,
all das kompromisslos umzusetzen, was man nicht will. Nicht das
beliebige, scheinbar so konstruktive und 'positive' Setzen von
etwas anderem, sondern das gezielte Widerlegen von etwas Falschem
schafft den leeren Raum, in dem sich eine Alternative zur psychiatrischen
Despotie gemäß ihren eigenen, zunächst noch unsichtbaren
und verschütteten Notwendigkeiten entfalten kann. Denn es
geht nicht um die möglichst professionelle Installation einer
neuen Sozialtechnik, sondern um kompetente und einfallsreiche
Schädlingsbekämpfung.
Jenes schillernde 'Anti' schützt in letzter Instanz auch
davor, sich in einer um keinen Deut geringeren ideologischen Verblendung
im Besitz der Wahrheit zu wähnen, nur weil man die tiefe
Unwahrheit der Psychiatrie erkannt hat. Keiner kann wissen, was
an der betäubten Oberfläche, auf der das psychiatrische
Geschwür heute wuchert, später einmal wachsen könnte!
Und sollte sich unser Projekt demnächst endlich gegen alle
Widerstände durchsetzen, so hindert nichts daran, dass es
selbst in den Strudel der Bewegung, der es seine Gründung
verdankt, gerät und mit einem Weglauf-Weglaufhaus konfrontiert
wird, das dann der Psychiatrie nicht einmal mehr als negativen
Horizonts bedürfte und sich endgültig aus ihrem Schatten
lösen würde...
Am Anfang meines Weges in ein antipsychiatrisches Engagement
stand die Lektüre vom »Chemischen Knebel«. Auf
eine ganz existentielle Weise hat mich dieses Buch in die Lage
versetzt, all das auszuspucken, was mich über lange Zeit
geknebelt hat, längst nicht nur chemisch. Es wäre mehr,
als ich hoffen kann, wenn auch mein kurzer Text jemanden, dem
die Psychiatrie die Sprache verschlagen hat, anstiften könnte,
den ihm eingepflanzten Hass herauszuwürgen und dabei zu wissen,
dass ein gestopftes Maul nach seiner Entknebelung nicht Hymnen
auf die Schönheit der Welt anstimmen kann, sondern zuallererst
einmal ein »Nein« hervorzustoßen hat, auch wenn
es noch so rauh, heiser oder schräg klingen mag.
Über den Autor
Geboren 1960, schreibt nach einem Studium der Philosophie
und der Germanistik in Freiburg/Breisgau und Berlin zur
Zeit an einer Arbeit über den Einfluss der Auseinandersetzung
mit dem Wahnsinn im Werk des französischen Philosophen Michel
Foucault. Nach Aufenthalten in unterschiedlichen Psychiatrischen
Anstalten arbeitet er seit 1989 in antipsychiatrischen Projekten
mit. Dabei engagiert er sich vor allem für die Errichtung
des Berliner Weglaufhauses für Psychiatrie-Flüchtlinge.
Veröffentlichung: "Die
Kampfschrift und das Schreibspiel", in: Wolfgang Fehse
/ Klaus Wehmeier (Hg.), "Renntag im Irrgarten. Beiträge
zur labyrinthischen Situation 3", Berlin: Labyrinth 1991
(Stand: 1993).
© 1993 by Thilo von Trotha
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Thilo von Trotha
* 1960 2009
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