Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter
Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 403-405
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha,
Uta
Wehde
Gisela
Wirths
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
Menschen, die sich antipsychiatrisch engagieren,
sind so vermute ich meistens in irgendeiner Weise
selbst betroffen gewesen oder sind es noch. So auch bei mir.
Meine Mutter war, solange ich zurückdenken kann, von schwersten
Depressionen geplagt. Sicher gab es dafür viele Gründe,
aber in den 50er Jahren wusste man in der Bevölkerung darüber
so gut wie nichts. In ihrer Not suchte sie über Jahre hinweg
eine Vielzahl von Ärzten auf, bis hin zum sogenannten 'Wunderdoktor',
den es damals auf dem Lande noch gab. Mitte der 60er Jahre versprach
ihr ein niedergelassener Nervenarzt dann die lang erhoffte Heilung:
durch Elektroschocks. Drei bis vier Schocks würden die Depressionen
zum Verschwinden bringen! Verzweifelt beschlossen meine Eltern
gemeinsam, nun auch das noch zu versuchen, obwohl sie die Kosten
aus der eigenen Tasche bezahlten mussten, was ihnen nicht leicht
fiel. Letztendlich erhielt meine Mutter mehr als 20 Elektroschocks,
da die versprochene Wirkung niemals eintrat. Ich begleitete sie
meist in die Praxis und war obwohl ich das als Jugendliche
überhaupt nicht einschätzen konnte zunehmend
entsetzter über die Veränderungen, die ich an ihr bemerkte.
Sie wurde ständig verwirrter und suizidaler. Es begann ein
Kreislauf von stets kürzeren Aufenthalten zuhause und entsprechend
längeren in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrischen
Anstalt. Schließlich nahm sie sich 1971 gerade 50-jährig,
inzwischen auch noch medikamentenabhängig und in ihrer Persönlichkeit
völlig zerstört mit Schlaftabletten das Leben.
Während ich zunächst in Trauer erstarrte und ziemlich
kummerbeladen meine begonnene Ausbildung zur Krankenschwester
abschloss, erwachte schließlich bei einem Einsatz in der
Psychiatrie der lange verschüttete Kampfgeist in mir. Ich
war über die Verhältnisse dort so entsetzt, dass ich
beschloss, sie ändern zu wollen.
Der richtige Weg dahin schien mir damals eine Weiterbildung zur
sogenannten 'Fachschwester für Psychiatrie'. Unter teilweise
großen finanziellen und zeitlichen Opfern absolvierte ich
diese. Doch im Laufe der Ausbildung wurde mir nach und nach klarer,
dass ein Arbeiten in der psychiatrischen 'Klinik' mir nur das
Gefühl geben würde, die herrschenden Verhältnisse
dort zu festigen. Zwar fehlte mir zu dem Zeitpunkt noch jede Phantasie,
mir alternative, antipsychiatrische Projekte auch nur vorstellen
zu können, doch als ich später auch über
die politische Arbeit bereits bestehende kennenlernte,
änderte sich das rapide. Ich habe zwar nie in einem dieser
Projekte gearbeitet, sie aber kontinuierlich mit Fördermitgliedschaften
oder politischem Einsatz zu unterstützten versucht.
Wie erfreut war ich dann 1989, als Abgeordnete der Alternativen
Liste für Demokratie und Umweltschutz Berlin antreten zu
können. Sah es doch zunächst so aus, als sei die Finanzierung
einiger anti- bzw. nichtpsychiatrischer Projekte wie z.B. dem
Weglaufhaus aus dem Senatshaushalt zu sichern. Leider scheiterte
dies am zwar erklärten, aber gänzlich fehlenden politischen
Willen des damaligen Senats.
Und trotzdem, es gibt das Weglaufhausprojekt, und es gibt eine
steigende Zahl von Menschen, die, wie ich auch, eine Patenschaft
dafür übernehmen, weil sie wissen, es muss menschengerechte
Möglichkeiten geben, sich in psychischer Not vor der herkömmlichen
Psychiatrie zu schützen. Offenbar findet ein Umdenken statt,
und es scheint lohnend, weiter dafür zu kämpfen, dass
der Psychiatrie endlich Finanzmittel zugunsten antipsychiatrischer
Projekte entzogen werden. Der eine oder andere Politiker, ob Mann
oder Frau, ob betroffen oder nicht, wird sich, wie ich hoffe,
diesem wachsendem Bewusstsein zukünftig nicht mehr verschließen,
mag es auch, wie in meinem Fall, ein langer Weg sein.
Über die Autorin
Geboren 1949. Mutter zweier erwachsener Söhne. Von Beruf
bin ich Krankenschwester, derzeit (1993) arbeite ich als
Unterrichtsschwester in der Ausbildung von Krankenpflege-SchülerInnen.
In den Jahren 1989/90 war ich für die Alternative Liste
für Demokratie und Umweltschutz Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses
und dort vorwiegend für Gesundheitspolitik zuständig, wobei
mir die Durchsetzung anti- und nichtpsychiatrischer Ansätze
besonders wichtig war (1993).
© 1993 by Gisela Wirths
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Gisela Wirths
* 1949 2011
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