Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 417-419
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha
Uta
Wehde
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
Stellen Sie sich vor, es geht Ihnen sehr schlecht,
Sie sind traurig, können nachts nicht schlafen, Sie haben
Angst, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen sich
in den dunkelsten Bildern und Farben. Sie fühlen sich nicht
erst seit einem Tag so, sondern seit längerer Zeit, und manchmal
denken Sie daran, sich umzubringen.
In dieser Situation steckte mein Bruder im Sommer 1979. Nicht
zum erstenmal ging er zum Psychiater eher unwillig, auf
Bitten meiner Eltern, die damals keine andere Möglichkeit
sahen. Mein Bruder war 22 und studierte.
An jenem Tag teilte der Psychiater ihm, der hoffnungslos und
schweigend vor ihm saß, sinngemäß folgendes mit:
Sie werden ihr Studium nie abschließen können! Sie
sind unheilbar krank und gehören in eine Psychiatrische Anstalt!
Einen Tag danach hängte mein Bruder sich auf. Der Psychiater,
der meinen Bruder als sehr suizidal eingeschätzt hatte, begründete
später sein 'therapeutisches' Vorgehen 'Wie mache ich einen
Menschen noch depressiver, als er sowieso schon ist?', es solle
beim Depressiven Widerstände und Gegenreaktionen provozieren,
ihn wachrütteln.
Mein Bruder hat bestimmt viele Gründe gehabt, sich selbst
zu töten. Er stand am Abgrund, bereit zu springen, und dieser
Psychiater hat nichts getan, ihn davon abzuhalten im Gegenteil,
er hat ihm den letzten Anstoß gegeben.
In dieser Erfahrung liegt der Grund für mein antipsychiatrisches
Engagement. Als Sechzehnjähriger offenbarten sich mir auf
sehr schmerzliche Weise Brutalität und Zynismus des psychiatrischen
Systems, dessen Behandlungsmethoden schon viele Identitäten
ausgelöscht haben. Ich brauchte sie nicht zu durchschauen,
sie nicht zu analysieren, die Logik psychiatrischen Denkens und
Handelns, ich weiß um seine Unmenschlichkeit!
Seitdem trug ich einen tiefen Hass in mir, eine unbändige
Wut, aber zusätzlich Gefühle von Ohnmacht. Als ich 1987,
vor sechs Jahren, begann, in einem antipsychiatrischen Verein
mitzuarbeiten, konnte ich mich von meinem Hass befreien, ihm eine
andere Gestalt verleihen, ihn konstruktiv verwandeln. Und nicht
nur das, durch diese Arbeit habe ich Fundamentales gelernt
über mich und über die Gesellschaft, in der wir leben.
Eine Gesellschaft, in der die psychiatrische Logik das alltägliche
Denken tief durchdrungen hat. Bei Veranstaltungen oder persönlichen
Gesprächen stellte ich immer wieder fest, wie stark die Abwehr
ist, dieser Logik den Laufpass zu geben.
Insbesondere sogenannte ExpertInnen, zu denen ich als Psychologin
auch gehöre, sind eine stark gefährdete Gruppe; entsprechend
sozialisiert durch ihr Studium, geraten sie schnell in die Einbahnstraße
des diagnostischen Blicks und merken oft nicht, welche Mauern
sie um andere, aber auch um sich selbst bauen. Im Rucksack das
Krankheitsmodell, den Diagnoseschlüssel und die passende
Begrifflichkeit damit lässt es sich gut leben, oder?
Ich bin 'gesund' und die anderen sind 'krank', ich bin 'normal'
und sie sind 'schizophren', ich bin der 'Experte' und sie sind
die 'Patienten', ich bin wissend und sie wissen nichts. Es ist
wie im Märchen »Des Kaisers neue Kleider«: Das
psychiatrische System schmückt sich mit vielerlei Begriffen
und Theorien und stolziert aufgeplustert als Wissenschaft durch
die Welt. Und wenn wir genauer hinschauen? Wenn wir seine Theorien,
Begriffe und Behandlungsmethoden hinterfragen, ihm im wahrsten
Sinne die Kleider ausziehen? Dann ist es nackt. Aber es
ist mächtig, mächtig wie ein Kaiser, denn es wird getragen
von der bestehenden Normalität. Antipsychiatrie stellt im
Kern diese Normalität infrage, diesen Gradmesser, diese allumfassende
Norm, die wir alle in uns tragen, die auch uns diszipliniert.
Antipsychiatrie geht letztlich uns alle an, genauso wie die 'Normalität',
in der wir leben. Derzeit, unter dieser herrschenden Normalität,
werden in Deutschland Menschen als 'Scheinasylanten' etikettiert,
werden Mordanschläge auf Menschen verübt, die in Deutschland
Schutz suchen, brennt das jüdische Museum in Sachsenhausen
nach einem Brandanschlag ab... Antipsychiatrie heißt Kampf
gegen jede Form der Ausgrenzung von Menschen, gleich ob Schwarze
oder Weiße, Alte oder Junge, Frauen oder Männer, Heteros
oder Homos, Du oder ich.
Über
die Autorin
Psychologin, geboren 1963 in Niedersachsen, lebt in Berlin. Ihr
Bruder nahm sich während psychiatrischer Behandlung das Leben.
Seit 1987 engagiert sich Uta Wehde in verschiedenen antipsychiatrischen
Gruppen. Innerhalb des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer
Gewalt e.V. arbeitet sie für die Errichtung des Berliner Weglaufhauses;
außerdem ist sie im Vorstand des Forums
Anti-Psychiatrischer Initiativen e.V. (FAPI). Buchveröffentlichung:
"Das
Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene. Erfahrungen,
Konzeptionen, Probleme", Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
1991. (Stand: 1993) Mehr
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© 1993 by Uta Wehde