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in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 388-392
Beiträge von Lothar Jändke, Alfredo Moffatt, Peter R. Breggin, Bonnie Burstow, Wolfgang Fehse, Sylvia Marcos, Gisela Wirths, Peter Stastny, Theodor Itten, Sabine Nitz-Spatz, Kerstin Kempker, Thilo von Trotha, Uta Wehde

Don Weitz

Persönliche Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln

1951 brach ich mein Studium am Dartmouth College in den USA ab. Ich war 20 und ein sehr nervöser und wütender junger Mann. Ich drohte, aus dem Fenster zu springen oder zur Armee zu gehen. Das war während des Koreakrieges. Meine Schwester überredete mich, einen namhaften Psychoanalytiker in Boston aufzusuchen. Als 'Patient' fand ich mich kurz darauf wieder in Stockbridge, Massachusetts, in der Austen Riggs Foundation – das war ein Privatsanatorium und gleichzeitig Ausbildungszentrum für Analytiker. Dort war ich sieben Monate. Gegen Ende war ich noch aggressiver. Tätlich angegriffen habe ich niemanden; ich weigerte mich lediglich, zu den 'Patienten'-Versammlungen zu gehen. Dann kam mein Einberufungsbescheid – die US-Armee war hinter mir her. Ich wurde noch saurer.

Eines Abends, nachdem ich abgelehnt hatte, zur Patientenversammlung zu gehen, sagte ich zu meinem Seelenklempner (1): »Was hältst Du davon, dieses Telefon ins Gesicht zu kriegen?« Ich nahm den Hörer und hielt ihn vor sein Gesicht. Berührt habe ich ihn nicht. Aber es reichte schon. Er sagte dann: »Ich denke, Sie gehören in eine geschlossene Anstalt.« Auf der Stelle spritzte er mich nieder mit Sodiumamytal, einem Barbiturat (Schlafmittel) und 'Wahrheitsserum'. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in einem Auto auf dem Rücksitz saß, mit einem stämmigen Wärter auf der einen Seite und einer Krankenschwester auf der anderen – auf dem Weg in die geschlossene Anstalt, und zwar das McLean-Hospital, ein psychiatrisches Gefängnis außerhalb von Boston.

Ich fand mich in einem kleinen Raum wieder, mit Blick auf eine verschlossene Tür aus solider Eiche; das einzige Fenster war mit einem schweren Metallgitter versperrt. Mir war angst und bange.

Nach kurzer Zeit sah ich zum erstenmal den Seelenklempner, der für mich zuständig war, Dr. Sharpe. Innerhalb vier bis acht Wochen sagte er mir, er wolle mir Insulinschocks verabreichen. Ich wusste überhaupt nichts darüber. Später fand ich heraus, dass dies eine der drastischeren 'Behandlungsformen' bei 'Schizophrenie' war. Den Insulinschock hatte man schon jahrelang in Europa den USA und Kanada angewendet. Aber damals beschränkte sich mein Wissen darauf, dass Insulin ein Hormon der Bauchspeicheldrüse ist und dass es Diabetiker erhalten.

Etwas länger als einen Monat wurden mir subkomatöse (nicht zum ausgeprägten Koma führende) Insulinschocks verabreicht – ich glaubte, Jahre seien vergangen. Sie hatten mich bis kurz vor den Punkt gebracht, an dem das Koma eintritt, und die Reaktion dann gestoppt, indem sie mir Fruchtsaft zu trinken gaben. Der Saft war mit sehr viel Zucker versetzt. Zwei- oder dreimal pro Tag setzten sie mir gewaltsam eine Insulinspritze. Innerhalb einer halben Stunde fing ich an, wie ein Schwein zu schwitzen. Je höher die Dosis war, desto rascher und härter trat die Reaktion ein, und sie erhöhten meine Dosis ständig.

Das Insulin machte mich konfus, schwächte mich, und manchmal geriet ich in Panik. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren; zum Lesen oder Lernen war ich außerstande. Manchmal hatte ich einen Krampfanfall, ich konnte das Zittern dann nicht unter Kontrolle bringen. Etliche Male spürte ich als Reaktion auf das Insulin auch bohrende Stiche in meinem ganzen Körper. Ich litt an Hunger und Durst wie nie zuvor in meinem Leben – schlimmer, als mehrere Tage zu fasten. Die Qualen und Schmerzen erschütterten mich bis ins Mark. Das Insulin verbrannte den Zucker in meinem Blut. Wenn der Blutzuckerspiegel sinkt, entsteht Hungergefühl. Die Zellen erhalten schließlich keinen Sauerstoff mehr, und man fällt ins Koma. Ich wusste das damals nicht, und ich habe verdammtes Glück gehabt, dass ich dem ausgeprägten Insulinkoma-Schock und dem Elektroschock entgangen bin.

Einmal fiel ich doch ins Koma und dachte, ich müsste sterben – ich bin überzeugt davon, dass das gewollt war. Meistens war ich nach zwei oder drei Stunden von meinem eigenen Schweiß völlig durchnässt, total k.o., vollgeschissen.

Zu keinem Zeitpunkt informierte mich mein Seelenklempner über das Koma und andere Risiken des Insulinschocks, weder vor noch während der 'Behandlung'. Er hat mir nicht gesagt, dass ich leiden würde. Ich hätte die 'Behandlung' sonst rundweg abgelehnt. Mehr als einmal sagte ich zu ihm: »Hören Sie auf, mich zu foltern! Warum quälen Sie mich?« Gelassen antwortete er: »Ich verstehe nicht, warum Sie so etwas sagen. Ich quäle Sie nicht.« Und wenn ich dann erwiderte: »Ich bin mir sicher, dass ich das so empfinde«, dann kam von ihm, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem supersüßlichen Unterton in der Stimme, die Entgegnung: »Diese Beschwerden gehören halt zu Ihren Problemen.« Die alte Masche, dem Opfer die Schuld zuzuschanzen.

Aufgrund des mächtigen Hungers, den das Insulin verursachte, aß ich immer bei jeder Mahlzeit von allem zwei oder drei Portionen. Nach einem Monat und 50 Schocks hatte ich 50 Pfund zugenommen und wog 194 Pfund. Ich bin 1,67 m groß. Mein Aussehen war grotesk, und so fühlte ich mich auch.

Ich denke, man verabreichte mir die Schocks hauptsächlich deshalb, weil ich offen aggressiv und rebellisch war. Ich war auf meine Eltern wütend und das mit gutem Grund: Jahrelang hatten sie mir ihre Werte eingetrichtert, die Werte der gehobenen Mittelschicht. Ich hatte sie geschluckt, und jetzt kotzte ich sie wieder aus. Die Psychiater wollten das nicht verstehen. Für sie war ich 'psychisch krank' oder 'schizophren' – nicht wütend.

Nach 15 Monaten wurde ich schließlich entlassen, Diagnose: »akute unspezifische Schizophrenie, gebessert.« Ich überredete die Seelenklempner, mich rauszulassen, indem ich ihnen erzählte, ich hätte vor, wieder zur Universität zu gehen – so richtig nett und normal für einen Mittelschichtler – und mich in Zukunft brav und unauffällig zu verhalten.

Als ich in der McLean-Anstalt eingesperrt war, war ich mit ca. 30 Männern jüngeren und mittleren Alters zusammen, die alle elektrogeschockt und/oder lobotomisiert (deren Vorderhirn-Nervenbahnen operativ durchtrennt) wurden. Ich sah ihre Wunden, ihre Narben. Sie vegetierten nur noch vor sich hin, waren wie Roboter. Ich schwor mir: Verdammt will ich sein, wenn ich so ende. Aber bis zu meiner Entlassung erlebte ich durch die Schocks eine solche Gehirnwäsche und Angst, dass mir nicht mehr danach war, gegen irgend etwas zu protestieren. Der Insulinschock 'wirkt'. Folter tut das auch.

Daraufhin studierte ich drei Jahre lang an der Universität Boston Psychologie und errang mehrere akademische Grade. Ich wollte Psychologe werden. Ich war so naiv zu glauben, ich könnte das 'psychosoziale Gesundheitssystem' ändern oder 'einen Beitrag dazu leisten'. Ich arbeitete schätzungsweise 15 Jahre als Psychologe, zunächst in den USA, später in Kanada. Nicht als 'Therapeut' – ich testete und befragte 'Patientinnen' und 'Patienten', massenhaft. Diese Tests waren sehr unwissenschaftlich, aber ich bildete mir ein, Bedeutendes zu leisten. Intelligenztests, Persönlichkeitstests, Freud, psychoanalytische Theorie – den ganzen Kram akzeptierte ich völlig und reproduzierte ihn. Ich führte die Tests durch, wertete sie aus und interpretierte sie; in einem Zeitraum von drei Jahren schrieb ich über 100 psychologische Gutachten. Wenn ich daran denke, was ich damit angerichtet habe, bin ich zutiefst beschämt. Ich reduzierte Menschen auf Begriffe, beraubte sie ihrer Persönlichkeit und ließ mich dafür auch noch bezahlen.

Mein letzter Job öffnete mir endgültig die Augen. Ich gehörte zum Psychologen-Team des Queen Street Mental Health Centre (Psychiatrisches Zentrum Queen Street) in Toronto. Zunächst arbeitete ich dort ein halbes Jahr lang auf den einzelnen Stationen. Als Queen Street seinen ersten 'Ableger' gründete, das Dundas Day Centre (Tages-'Klinik'), wurde ich dort Co-Therapeut von Sharon, einer radikal eingestellten Krankenschwester, die ich mochte und respektierte. Wir hatten eine Gruppe von zehn Insassinnen und Insassen. Es ging alles offen zu – wir haben nichts inszeniert, auch nicht die Leute manipuliert. Nachdem Sharon sich mit Elsie, der zuständigen Oberschwester, zerstritten hatte, quittierte sie unter Protest ihren Dienst. Ich verlor eine Verbündete und Vertraute.

Kurz nach Sharons Weggang kam es auch zwischen mir und Elsie zu Auseinandersetzungen. Ich protestierte gegen die autoritäre, drückende und sterile Atmosphäre, die sich von der einer Anstalt nicht unterschied. Sie schaltete daraufhin meinen Vorgesetzten ein, den Chefpsychologen Lew Yeats, sowie Dr. Don Anderson, den leitenden Psychiater des Southeastern Service und Manager der Tages-'Klinik'. Sie warfen mir vor, ich sei starrköpfig, unrealistisch und nicht zu Kompromissen bereit. Nach zwei, drei Stunden vor diesem Femegericht war mir klar, dass sie mich gekriegt hatten. Ich musste zurück auf die Stationen.

Kurz bevor ich 1972 meine Stelle kündigte, protestierte ich gegen Zwangsbehandlungsmethoden wie zum Beispiel die kalte feuchte Packung, eine körperliche Züchtigungsmaßnahme, die man getrost als Foltermethode bezeichnen kann. Die Mitarbeiter pflegten 'unkontrollierbare' Insassinnen und Insassen in feuchte Laken einzuwickeln, die auf bis zu 16°C unter Körpertemperatur abgekühlt worden waren; die Enden wurden so am Bett befestigt, dass die Betroffenen sich nicht mehr rühren konnten – manchmal für mehrere Stunden. Im Sommer 1971 machten sie das mit mindestens zwölf Personen. Das Team bezeichnete die Packung als »Therapie« – ich nannte sie »grausame und ungewöhnliche Bestrafung«. Ein Jahr, nachdem ich gegangen war, verbot man in Queen Street die Packung endgültig. Ich aber hatte von der Kollegenschaft keinerlei Unterstützung erhalten bei meiner Kritik an der Packung und anderen als Behandlung getarnten Foltermethoden. Sie hatten mich bereits als Unruhestifter und Querulanten abgestempelt.

Als ich Queen Street verließ, schwor ich mir, nie wieder in einer Psychiatrischen Anstalt oder auf einer psychiatrischen Station zu arbeiten, und diesem Schwur bin ich treu geblieben. Ich sah einfach zu viele Menschen, die man mit Psychopharmaka, Elektroschocks, Wickelpackungen und anderen 'Behandlungs'-Methoden für ihr ganzes Leben gedemütigt, entmenschlicht und zerstört hat. Wieder spürte ich diese Wut in mir, und jetzt fing ich an, Thomas Szasz und andere antipsychiatrische Literatur zu lesen. Ich ließ Queen Street und diese ganze verdammte Psychologie hinter mir, was ich nie bereut habe. Meine politische Erziehung hatte begonnen.

Anmerkung der Herausgeber

(1) Dieser Text ist ein Auszug (S. 285-289) aus Don Weitz' Artikel »Notes of a 'schizophrenic' shitdisturber«, original veröffentlicht in: Bonnie Burstow / Don Weitz (Hg.): »Shrink Resistance. The Struggle Against Psychiatry in Canada«, Vancouver: New Star Books 1988, S. 285-302 Pfeil

Aus dem kanadischen Englisch von Rainer Kolenda


Don WeitzÜber den Autor

Lebt in Toronto, Kanada. Seit 1974 Jahren aktiv in der Antipsychiatrie-Bewegung. Schriftsteller, Psychiatriebetroffener, kämpft insbesondere gegen Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka, Elektroschocks sowie gegen andere psychiatrische Gräuel und setzt sich ein für die Rechte von Anstaltsinsassen und -insassinnen. Mitbegründer von Phoenix Rising, der ersten antipsychiatrischen Zeitschrift in Kanada (1990 Erscheinen eingestellt). Buchveröffentlichung: Herausgeber von »Shrink Resistance. The Struggle Against Psychiatry in Canada«, Vancouver: New Star Books 1988 (gemeinsam mit Bonnie Burstow).
Nachtrag: Don Weitz, geboren 1930, verstarb am 1. September 2021.


© 1993 by Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag