FAPI-Nachrichten –Das Internet-Magazin für antipsychiatrische Rezensionen. U – Z


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zuletzt aktualisiert am 27. August 2023

Michael Uhlmann / Petra Uhlmann: Was bleibt... Menschen mit Demenz. Porträts und Geschichten von Betroffenen
Mit kurzen Porträts und Geschichten versehener Bildband von Menschen mit Demenz, der hilft, sie trotz ihrer Einbußen an kognitiven Fähigkeiten als Menschen mit ihren Wünschen nach Anerkennung und Wertschätzung, nach Trost und Einbezogensein, nach sinnvoller Betätigung und Liebe wahrzunehmen und ihre Würde zu sichern. Das Buch erschien mit finanzieller Unterstützung von: Weleda AG, Janssen-Cilag GmbH, BHF-Bank-Stiftung und Hannoversche Kassen. Trotzdem ein schönes Buch. Gebunden, 103 Seiten, über 100 großformatige Schwarz-Weiß- und Farbphotographien, ISBN 978-3-938304-62-4. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag, 2., erweiterte Auflage 2007. € 24.90
Peter Lehmann

Jörg Utschakowski: Mit Peers arbeiten – Leitfaden für die Beschäftigung von Experten aus Erfahrung
Jörg Utschakowski, diplomierter Sozialarbeiter, Psychiatriereferent in Bremen und Initiator des EU-Projekts EX-IN, hat eine an psychiatrische Organisationen gerichtete Arbeitshilfe für die Anleitung und Integration von EX-INlern verfasst. Sie hilft, organisatorische Rahmenbedingungen zu klären, Aufgaben- und Arbeitsprofile der Peers zu erstellen und Integrationspläne zu erarbeiten. Weitere Themen sind die Kooperation von Genesungsbegleitern mit anderen psychiatrisch Tätigen, Fortbildungen, Gremienarbeit, Praktika, Gehalt, Personalbedarf, Förderung der Dialogkultur, Mentoren und Peersupervision. Der Autor spricht das Problem der Finanzierung der Ausbildung an und das Problem von blinden Flecken, die bleiben, wenn der eigene Erfahrungsschatz (bei EX-INlern) Grenzen aufweist und Unverstandenes zurücklässt. Der Leitfaden soll helfen, Recovery und Empowerment in der Alltagspraxis zu festen Bestandteilen werden zu lassen. Wie das gehen soll, wenn die Bereiche "strukturelle Verweigerung einer Aufklärung über Behandlungsrisiken und -alternativen", "Erholung von psychiatrischer Behandlung", "Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie", "Machtgefälle in der Psychiatrie", "Psychiatrie als Ordnungsmacht", "Schäden durch Elektroschocks", "vorenthaltene Therapie behandlungsbedingter Traumata" und "vorenthaltene Hilfen beim selbstbestimmten Absetzen von Psychopharmaka" komplett ausgeklammert bleiben, bleibt dem Leser allerdings verborgen. Dass ausgerechnet EX-INler die großen Probleme der strukturellen Menschenrechtsverletzungen sollen, kann natürlich kein Mensch erwarten. Doch wäre es nicht eine Fürsorgepflicht in der Ausbildung und im Beschäftigungsleitfaden, die genannten Themen als ungelöste Probleme für die Arbeitspraxis zu benennen? So dass die EX-INler, wenn sie sich erwartungsvoll in die Praxis begeben, wissen, welchen Grenzen ihrem Engagement gesetzt sind, und sie nicht bei jedem Konflikt vor die Wand rennen? Aber wer würde sie mit einem kritischen Praxiswissen überhaupt noch einstellen? Also werden im Leitfaden und in der Ausbildung beschränkte Wege erkundet und der begrenzte Entscheidungshorizont im sozialpsychiatrischen Sinn erweitert, damit die Klienten und Klientinnen der EX-INler selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Ein Kerngedanke von EX-IN sei, "... dass wir alle im Grunde wissen, was hilfreich ist." Diese Aussage verwundert: Wer definiert, was nach allgemeinem Wissen hilfreich ist? Gar hilfreich für alle? Sind wir nicht alle verschieden – so selbst eine gängige sozialpsychiatrische Losung –, haben also unterschiedliche Bedürfnisse? Ist es nicht bekannt, dass das, was der eine für sich als hilfreich definiert, vom anderen als Qual empfunden werden kann? Sind blinde Flecken vielleicht nicht nur bei den Ausgebildeten vorhanden? Genesungsbegleiter hätten das Potenzial, so der Ausblick des Autors, die Psychiatrie zu bereichern und sie hilfreicher für die Betroffenen zu machen und mehr Respekt und Würde in die Psychiatrie einziehen zu lassen. Sein Optimismus ist lobenswert. Die Praxis wird zeigen, ob und wann Respekt und Würde mit dem Einzug in die Psychiatrie beginnen. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 88 Seiten, ISBN 978-3-88414-625-5. Köln: Psychiatrie Verlag 2015. € 19.95
Peter Lehmann

Jörg Utschakowski / Gyöngyvér Sielaff / Thomas Bock (Hg.): Vom Erfahrenen zum Experten – Wie Peers die Psychiatrie verändern
Buch über das Ex-In-(Experienced-Involvement-)Projekt, das heißt die Ausbildung von Psychiatriebetroffenen zur Peer-Arbeit ("Arbeit von Gleichen für Gleiche") innerhalb psychiatrischer Einrichtungen. Drei Profis haben dieses Buch herausgegeben, das sich mit der Ausbildung von Psychiatriebetroffenen für die Peer-Arbeit (Gleiche helfen Gleichen) beschäftigt: Jörg Utschakowski, Gyöngyvér Sielaff und Thomas Bock. Jörg Utschakowski ist Sozialarbeiter, er sei in verschiedenen europäischen Netzwerken tätig, steht im Buch. Das Europäische Netzwerk von Psychiatriebetroffenen, der größte unabhängige Verband in Europa, der schon seit Jahren betroffenenkontrollierte Peer-Ausbildung fordert, taucht allerdings nirgendwo im Buch auf. Gyöngyvér Sielaff ist Diplom-Pädagogin und Mitgründerin von Irre Menschlich Hamburg e.V. Zu den Sponsoren dieses Vereins zählen u.a. die Pharmamultis Eli Lily und AstraZeneca GmbH. Der Psychologe Thomas Bock ist ebenso Mitgründer von Irre Menschlich, daneben mitverantwortlich für das Internetportal www.psychose.de; AstraZeneca ist auch hier der Sponsor. Diese Rahmenbedingungen, die nicht ohne Einfluss auf die Ex-In-Ausbildung und die Haltung zur biologisch-psychopharmakologischen Psychiatrie sein dürften, werden im Buch nicht erwähnt, deshalb sollen sie dieser Rezension vorangestellt sein. – Nun zum Buch. Psychiatriebetroffenheit ist keine Qualifikation, die einen zum Experten an sich macht, ansonsten wäre der Psychiater derjenige, der mit seiner der Psychiatrisierung vorhergehenden Diagnose Experten kreiert. Das Thema Schulung von Psychiatriebetroffenen ist überfällig, denn viele Psychiatriebetroffenen maßen sich an, alleine auf Grund einer vorangegangenen Psychiatrisierung als Experte anerkannt zu werden, der für alle möglichen, über die eigene Person hinausgehenden Aufgaben in der Arbeit mit Betroffenen oder für diese qualifiziert ist. Oder trialogbegeisterte psychiatrisch Tätige benutzen ihnen genehme Betroffene als "Experten", wenn sie in einem Gremien Betroffenenbeteiligung mimen wollen. Was macht Betroffene zu Experten? Wer bildet aus? Wer erarbeitet den Lehrplan? Werden Konfliktpunkte und Interessenseinflüsse deutlich? Sind die für Psychiatriebetroffenen wesentlichen Inhalte ausgewogen enthalten? Wer bildet die Ausbilder aus? Wie wird verhindert, dass Peer-Arbeit nicht zum bloßen Erfüllungsgehilfentum psychiatrische Macht Ausübender verkommt? Können bei einem Träger psychiatrischer Einrichtungen angestellte Peer-Arbeiter unabhängig arbeiten? Bekommen sie überhaupt eine Arbeit, und werden sie dafür auch bezahlt? Und wenn ja, gibt es mehr als die übl(ich)e Aufwandsentschädigung? Wie sieht die Arbeit konkret aus? Definieren die Peer-Arbeiter ihre Arbeit als hilfreich? Obwohl im Psychiatrieverlag erschienen, schließt das Buch auch antipsychiatrische Erfahrungen wie das Weglaufhaus Berlin ein, ebenso viele internationale Erfahrungen. Besonders wertvoll erscheint mir der Artikel "Der Wert der Erfahrung" von Harrie van Haaster vom Amsterdamer Instituut voor Gebruikersparticipatie en Beleid (IGPB – www.igpb.nl), in dem er sich mit der Qualifikation von "Experten durch Erfahrung" befasst und den Fragen, welche Kriterien für "Sachkenntnis durch Erfahrung" formuliert werden können, um einen Schutz vor Missbrauch und unangemessenen Ratschlägen zu gewährleisten, und wie ein erfahrungsbasierter Forschungsansatz zwecks Nachweis für die Wirksamkeit entwickelt werden kann. Angesichts der projektierten Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die sogenannte integrierte psychosoziale Versorgung (z.B. in Form von Mitarbeit in Krisenpensionen) ein wichtiges Buch, um die Diskussion über die Antworten auf die dargestellten Fragen zu beginnen. Wenn die internationale Betroffenenbewegung und auch der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. in Antidiskriminierungsprogrammen wie dem Harassmentprojekt (siehe www.peter-lehmann-publishing.com/articles/enusp/empfehlungen.pdf) die Unterstützung von Initiativen im Peer-coaching fordern, die wirksame Teilnahme geschulter Psychiatriebetroffener in allen möglichen Bereichen und Trainingsangebote für Psychiatriebetroffene, und sich selber gegen Diskriminierung zu schützen, um als Betroffene in allen Bereichen angestellt zu werden und um in Programmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und Schikane selber Trainerin oder Trainer zu werden und um in Kriseneinrichtungen, Beratungsstellen und Forschungsprojekten mitzuarbeiten, ist es höchste Zeit, sich Gedanken zu machen, wie die eigenen Forderungen umgesetzt werden können und wie man sich konstruktiv kritisch mit vorhandenen konkreten Erfahrungen auseinandersetzen kann. Das Buch ist ein guter Ansatzpunkt, in die Diskussion einzusteigen. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 240 Seiten, 1 Abbildung, 2 schwarz-weiße Fotos, ISBN 978-3-88414-470-1. Köln: Psychiatrie-Verlag 2009. € 24.95
Peter Lehmann

Jörg Utschakowski / Gyöngyvér Sielaff / Thomas Bock / Andréa Winter (Hg.): Experten aus Erfahrung – Peerarbeit in der Psychiatrie
Das Buch, die Neuausgabe der 2009 erschienenen Publikation "Vom Erfahrenen zum Experten – Wie Peers die Psychiatrie verändern", soll Leitungskräfte, Kostenträger, engagierte Praktiker, Psychiatrieplaner und Genesungsbegleiter animieren, der Weiterentwicklung von Peerarbeit eine Chance zu geben. Die 24 Autorinnen und Autoren empfinden Peerarbeit als Instrument der Veränderung der psychiatrischen Praxis. Im Buch wird Peerarbeit definiert, die Probleme bei ihrer Implementierung werden beschrieben, die Ausbildung wird thematisiert, Erfahrungen im stationären und ambulanten Bereich in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden wiedergegeben. Herausgestrichen wird die Funktion der Peerbegleitung, das Selbstvertrauen psychiatrischer Patienten in die eigenen Kräfte und Möglichkeiten zu stärken. Weitere Themen sind Fortbildung und Forschung unter aktiver Einbeziehung von Betroffenen. Grundlage von alledem ist die typische sozialpsychiatrische Haltung: Alles in der Psychiatrie dient den Patienten, die Psychiatrie ist im Wandel, alles wird noch besser, Psychiatrisch Tätige werden durch Genesungsbegleiter befähigt, ihre therapeutischen Erfolge gar zu verstärken, gemeinsam und auf gleicher Augenhöhe schreiten Profis, Angehörige und Betroffene solidarisch zu Achtsamkeit, Empowerment, Recovery, Lebenszufriedenheit. Beim Lesen des Buches denke ich an meine eigene katastrophale Psychiatriegeschichte. Wie gut wäre es gewesen, einen Peerberater an meiner Seite gehabt zu haben, der meine Familie, Freunde und mich darauf hingewiesen hätte, dass es noch andere Interpretationen der unangenehmen Psychopharmaka-Wirkungen außer "Nebenwirkungen", also nebensächliche Begleitumstände der "Medikation", gegeben hätte. Der mich auf die Existenz von Alternativen zur Psychiatrie, zumindest die Möglichkeit des Weglaufens hingewiesen hätte. Der mir und meinen Angehörigen Literatur zum risikoarmen Absetzen von Psychopharmaka genannt hätte. Der der ständig im Raum stehenden Abwertung meiner lebensgeschichtlich bedingten Verrücktheit als Symptom schwerer psychischer Krankheit basierend auf biopsychosozialer (Stoffwechsel-) Störung etwas Hoffnungsvolles und tendenziell Sinngebendes entgegengesetzt hätte, gerne untermalt mit eigener konstruktiver Krisenbewältigung! Wäre es nicht schön, solch engagierte Peerberater in Kliniken und Anstalten anzutreffen? "Die Betroffenen (also: wir) wissen oft, dass Medikamente manchmal hilfreich und notwendig sein können", schreibt die Genesungsbegleiterin Gwen Schulz aus Hamburg in ihrem Buchbeitrag. Was sie selbst macht und was ihre Kollegen machen, wenn sie die Psychopharmaka als nicht hilfreich und überflüssig sehen, bleibt leider unerwähnt. Was passiert bei mangelhafter Aufklärung, bei unterlassenen Vorsorgeuntersuchungen? Was, wenn Elektroschocks im Raum stehen? Was bei Zwangsbehandlung mit ihren so oft traumatisierenden Folgen? Einzig die Wiener Psychiaterin Michaela Amering erwähnt Probleme und Machtkämpfe mit den etablierten Systemen, die unvermeidlich seien, allerdings bleibt ihr Hinweis abstrakt. Doch wie stellt sich das Machtgefälle für Peerarbeiter dar, insbesondere im Konfliktfall, welche Lösungswege sind vorgesehen im Patienteninteresse, können Peerarbeiter mit eigener, abweichender Meinung auf irgendeine unterstützende Instanz hoffen? Ist dies eine Funktion gemeinsamer Supervision? Gibt es diesbezüglich erste Erfahrungen? Ärzte befürchten eine mögliche Unterwanderung der Psychopharmaka-Verabreichung, so die Schweizerin Barbara Blickle, Dr. med. mit eigener Krisenerfahrung und Genesungsbegleiterin, nach einer von ihr durchgeführten Studie in der psychiatrischen Privatklinik Meiringen in ihrem Buchbeitrag "Erwartungen und Befürchtungen psychiatrischer Fachpersonen bezüglich Beschäftigung von Peers in psychiatrischen Institutionen". Peers – so die durchaus nicht unbegründete Furcht von "Fachpersonen" – könnten aufgrund eigener schlechter Erfahrungen die ärztliche Behandlung missbilligen und boykottieren, insbesondere die Medikation. Die mehr als fragwürdige, im Buch von Gyöngyvér Sielaff mit einem aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden maternalistischen Ton vorgetragene Vorstellung, auszubildende Peer-Arbeiter seien ihre Klienten, die es durch die Peer-Ausbildung zu therapieren gelte, sollte alle hellhörig, die allzuviel von Peer-Ausbildung erwarten, die von psychiatriekonformen Ausbilderinnen und Ausbildern gelehrt wird. Ich wünschte mir einen Beitrag im Buch, der sich mit der Frage beschäftigt, wie eigene negative Erfahrungen mit der Psychiatrie in das beschworene Erfahrungswissen von Genesungsbegleitern eingehen und wie die Peerarbeit dann aussieht. Bleibt dieses zentrale Thema ausgespart, besteht die Gefahr, dass der Eindruck entsteht, Genesungsbegleiter würden den Sozialarbeitern in ihrer Rolle als "Sozialmäuschen" nachfolgen. Dies wäre eine Tragödie angesichts des Blumenstraußes an Möglichkeiten, der der Peerarbeit innewohnt, und angesichts der Masse unverstandener, schutz- und wehrloser Patientinnen und Patienten, die von der Arbeit engagierter Genesungsbegleiter profitieren könnten. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, 295 Seiten, ISBN 978-3-88414-582-1. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2., vollständig überarbeitete Neuausgabe 2016. € 29.95
Peter Lehmann

H. van Andel, W. Pittrich (Hg.): Kunst und Psychiatrie
Kongress in Münster 1.-5. Oktober 1990. Tagungsbericht. Über den Einsatz von Kunsttherapie in Anstalten, die Ausweitung der »diagnostischen Nutzung der Ergebnisse« und so wichtige Fragen wie, »ob man die Therapie mit kreativen Mitteln eher als ›Kreativtherapie‹ oder eher mit dem üblicheren Begriff als ›Kunsttherapie‹ bezeichnen soll. Die Diskussion blieb unentschieden, obwohl sich eine leichte Vorliebe für die Bezeichnung ›Kreativtherapie‹ abzeichnete. Die Art der Debatte machte deutlich, dass man in diesem Fall für deutsche Begriffe von einem wahren Erdrutsch sprechen konnte.« Solche Erkenntnisse haben ihren Preis. Kartoniert, 348 Seiten, Münster: Lit 1991.
Kerstin Kempker

Willem van der Does: Licht am Ende des Tunnels. Gib der Depression keine Chance – wie wir aus der Melancholiefalle herausfinden
Buch über Depressionen, wie sie nach Meinung des Psychiaters van der Does entstehen ("unverkennbar eine genetische Komponente"), wie man sie gut behandelt (vor allem mit Antidepressiva aller Art, Elektroschocks, kognitive Verhaltenstherapie). Und einer Auseinandersetzung über eine mögliche suizidfördernde Wirkung von Antidepressiva mit der primitiven Abqualifizierung der Argumente des kritischen US-amerikanischen Psychiaters Peter Breggin, er sei "umstritten", als sei dies ein inhaltliches Argument und gelte nicht für alle Vertreter dieser Berufsgruppe. Das Buch endet mit "nützlichen" Adressen, unter anderem dem Kompetenznetz Depression, von dem man sich dann auch Elektroschocks und Antidepressiva empfehlen lassen kann. Selbsthilfegruppen bleiben außen vor. Und zu guter Letzt dann noch eine persönliche Erklärung des Autors, er habe in den letzten zehn Jahren von pharmazeutischen Industrien kein Sponsoring erhalten; was die Zeit davor betrifft, spricht er nicht an, ebensowenig all die meinungsbildenden Publikationen, die im Auftrag und mit dem Geld von Pharmafirmen produziert und deren Inhalte weitergegeben werden, als wären sie wertfreie Wahrheit. Gebunden, 159 Seiten, mit vielen netten Illustrationen von Peter van Straaten, ISBN 978-3-0350-0053-5. Zürich: Oesch Verlag 2009. € 14.90
Peter Lehmann

Roland Vauth / Rolf-Dieter Stieglitz: Chronisches Stimmenhören und persistierender Wahn
Die Autoren, Psychiater und Psychotherapeuten der Universität Basel, konzentrieren sich nach einer knappen Abhandlung der Diagnostik und Störungstheorien auf die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung chronisch "schizophrener Störungen". Ausführlich und mit vielen Beispielen aus Literatur und Praxis beschreiben sie Techniken und Übungen, die den Betroffenen helfen, sich von ihren Wahninhalten zu distanzieren. Grundlagen sind: Vertrauen und Sicherheit in der therapeutischen Beziehung (verbindlich, geregelt, transparent), gemeinsames Problemverständnis, Normalisieren statt Stigmatisieren, Trennung von Erleben und Tatsachen, Zusammenhang zwischen Wahn und Biografie. Das leuchtet ein, ist aber nicht zu verwechseln mit tatsächlicher persönlicher Anteilnahme: "Intensivierung von Vertrauen durch Vermittlung von Interesse an der Person des Patienten (z.B. auf Hobbys des Patienten eingehen und ggf. auch zunächst gemeinsame Aktivitäten planen, bis die Beziehung steht)." Kartoniert, VI + 110 Seiten, mit 2 Einsteckkarten, ISBN 978-3-8017-1861-9. Göttingen: Hogrefe Verlag 2007. € 19.95
Kerstin Kempker

Andrea Virani: Seelischer Marathon. Eine ungewöhnliche Lebensgeschichte
Die Autorin, die für ihr Buch ein Pseudonym benutzt, hatte es in ihrem Leben, speziell in ihrer Kindheit in Baden-Württemberg nicht leicht. Ihr Vater machte sich früh vom Acker und entzog sich seiner Verantwortung, ihre Mutter landete wegen schlimmer Lebensbedingungen unter der Diagnose Schizophrenie immer wieder in der Psychiatrie, wo sie dann auch zu Tode kam (was die Autorin allerdings nicht mit der Behandlung in Verbindung bringt). So wuchs sie in wechselnden Pflegefamilien auf, erlebte mehrmals sexuellen und psychischen Missbrauch, scheiterte später immer wieder an Männerbeziehungen auf der vergeblichen Suche nach einer liebevollen Vaterfigur, wie sie selbst schreibt. Diese Liebesprobleme, die – wie in ihrem Leben – auch im Buch einen großen Raum einnehmen, brachten immer wieder seelische Abstürze und "psychische Dekompensation" einschließlich Psychiatrisierung hervor, auch eine Abtreibung mit sich, und alles mit der Konsequenz, dass sie Therapien macht, als dissoziative Persönlichkeitsgestörte diagnostiziert wird, Suizidversuche unternimmt, von ihrer Betreuerin finanziell geschröpft wird, mit Paranoia und Psychosen immer wieder in die Psychiatrie gebracht wird oder selbst dorthin geht, eingesperrt und fixiert wird, Neuroleptika und Lithium bekommt, übergewichtig wird, kataton wird, elektrogeschockt wird. Aber all das nimmt die Autorin hin, und letztendlich ist sie Sozialverbänden und Tageskliniken dankbar, dass sie bei der Suche nach einer Wohnung für die Zeit danach unterstützt wird, auch dann, als sie endlich einen liebenswerten Mann findet und heiratet. Diesen, ein Stimmenhörer mit eigener psychiatrischer Problematik, kann sie pflegen, und in der Hinwendung zum katholischen Glauben, einer (nicht näher beschriebenen) Selbsthilfegruppe, im Malen und der Anschaffung eines Hundes findet der Bericht ein für sie versöhnliches Ende, auch wenn ihr Leben angesichts einer zunächst vielversprechenden beruflichen Karriere mit abgeschlossenem Studium und Hochbegabtenförderung ganz anders als erhofft verlief. Jetzt will die Autorin ähnlich Betroffenen Mut und Hoffnung machen, trotz dieser Psychiatriegeschichte ist für sie mit ihrem starken Überlebenswillen ein lebenswertes Leben möglich. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 214 Seiten, ISBN 978-3-96200-010-3. Kirchheim: Verlagshaus Schlosser 2017. € 12.90
Peter Lehmann

John Virapen: Nebenwirkung Tod – Korruption in der Pharma-Industrie. Ein Ex-Manager packt aus
Ein Ex-Pharmamanager, der mit skrupellosen Bestechungen von Ärzten, Gutachtern und Regierungsvertretern rasant Karriere machte, noch rasanter gefeuert wurde und den just in dem Moment, wo er gefeuert ist, Reue und Empörung erfassten, schreibt über Korruption und Verschleierungspraktiken in der Pharmaindustrie, über den Pharmakonzern Eli Lilly und dessen Strategien zur Vermarktung von Prozac (Fluctin) und Zyprexa sowie über die eigene Verstrickung in diese Geschäfte. "Nebenwirkung Tod" ist bereits das zweite Buch des Autors; das erste war das notdürftig als Fiktion verpackte "Rubio spuckt's aus", das der Autor unter dem Namen John Rengen publiziert hatte und aus unerfindlichen Gründen in diesem neuen, trotz des beibehaltenen etwas marktschreierischen amerikanischen Erzählstils lesenswerten Buch nicht erwähnt. Wann erfährt man schon etwas aus dem Inneren der pharmakologischen Giftküchen, die das zubereiten, was dann in der Psychiatrie und vielen Bereichen der Medizin als "segensreiche Medikamente" verabreicht wird? Kartoniert, 267 Seiten, 3 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 978-3-86695-920-0. Leipzig: Neuer Europa Verlag 2008. € 16.90
Peter Lehmann

Rubina Vock / Manfred Zaumseil / Ralf B. Zimmermann / Sebastian Manderla: Mit der Diagnose "chronisch psychisch krank" ins Pflegeheim? Eine Untersuchung der Situation in Berlin
Auseinandersetzung mit der Abschiebung von "psychisch Kranken" in Heime aus der Sicht von Professionellen. Die Autoren zeigen anhand einer großen Studie, an der bis zu ihrem Tod auch Hannelore Klafki mitgearbeitet hatte, wie die gegenwärtige Vermehrung von Heimplätzen für sogenannte psychisch Kranke einen Belegungssog erzeugt, der die typischen Entscheidungen begünstigt: über die Köpfe der Betroffenen hinweg und abhängig von Umständen, die eher mit Problemen des "Versorgungs"-Systems als mit den Betroffenen selber zu tun haben. Kartoniert, 469 Seiten, ISBN 978-3-938304-73-0. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2007. € 39.–
Peter Lehmann

Werner Vogd: Das Bild der Psychiatrie in unseren Köpfen. Eine soziologische Analyse im Spannungsfeld von Professionellen, Angehörigen, Betroffenen und Laien
»Wie stellt sich die Psychiatrie heute dar, was kann sie leisten und was könnte sie leisten? Wodurch sind diese Bilder motiviert? Gründen sich diese auf persönliche Erfahrungen, Erzählungen, diffuse Ängste oder Vorurteile?« Diesen Fragen widmet sich der Autor in dem recht teuren Buch, das aus einem Forschungsseminar an der Universität Ulm und anschließend am Institut für Soziale Medizin an der FU Berlin hervorging. Unter den vielen Befragten ist immerhin eine Psychiatriebetroffene. Und einer der Teilnehmern an den Forschungspraktika war Karl-Heinz Esser vom Gesamtvorstand des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener, so war gewährleistet, dass nicht völlig an dieser Personengruppe, eigentlich dem Subjekt der Psychiatrie, vorbeigeforscht wurde. Die geringe Zahl mitwirkender Betroffener spiegelt deren Rolle in der Gesellschaft wider; das gleiche (Miss-)Verhältnis findet sich bei der Abhandlung des Kapitels Antipsychiatrie, das zudem alle neueren Publikationen außer acht lässt. Aber man wird bescheiden und freut sich, wenn immerhin das 1983 publizierte und weit vorausblickende Buch von Tina Stöckle, »Die Irren-Offensive«, erwähnt wird und eine positive Würdigung findet. Das Buch stammt aus der soziologischen Diskussion, dennoch ist es gut lesbar – wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Es beleuchtet die wesentlichen Fragen (Gewalt, Psychopharmaka/Elektroschocks/Therapie ja oder nein?) breit und unaufgeregt, und es enthält sich dankenswerterweise der ätzenden Wertungen, die man von anderen sozialpsychiatrisch ausgerichteten Publikationen zur Genüge kennt. Das Schlussplädoyer, wonach die Psychiatrie den Hilfesuchenden als medizinisch-therapeutische Institution erscheinen solle, andererseits ihre Zwangsbehandlung als »medizinische Intensivbehandlung«, sofern therapeutisch begründet, »in einigen akuten Krisenzuständen indiziert« sei, zeigt das Dilemma der Psychiatrie und einen der wesentlichen Gründe für ihr schlechtes öffentliches Ansehen: Ohne Eintreten für einen wirksamen Schutz vor psychiatrischer Zwangsbehandlung sind alle Versuche zwecklos, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu verschönern. Leider leiden unter diesem von Gewalt geprägten Bild – und eben nicht nur unter dem Bild! – auch die Betroffenen. Kartoniert, 214 Seiten, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung 2001. € 34.–
Peter Lehmann

Irmgard Vogt / Eva Arnold: Sexuelle Übergriffe in der Therapie – Anleitungen zur Selbsterfahrung und zum Selbstmanagement
Wie soll ich mich als Therapeut verhalten, wenn ich merke, dass ich mich in meine Klientin verliebe? Wo finde ich ethische Standards, an denen ich mich orientieren kann? Ein sinnvolles Manual, das Therapeuten und Beratende mit dem Thema der eigenen sexuellen Befriedigung innerhalb therapeutischer Beziehungen konfrontiert und ihnen Hilfe zur Prävention an die Hand gibt. Das Buch enthält 5 Kapitel: Erörterung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen; Erörterung der Anforderungen an die Professionalität der Beratenden und Therapierenden incl. ethischer Richtlinien und straf- und zivilrechtlicher Bedingungen (Stand von 1993); Daten und Fakten aus epidemiologischen Forschungen incl. Übungsaufgaben; Folgen sexueller Übergriffe für die Betroffenen und Probleme der Nachfolgebehandlung incl. Übungsaufgaben; Ergebnisse zur Täterforschung. Mit einem Literaturverzeichnis im Anhang, der Berufsordnung des Berufsverbands Deutscher Psychologen e.V. sowie den Ethischen Richtlinien und dem Verhaltenskodex für PsychologInnen der American Psychological Association in deutscher Übersetzung. Übersichtlich und klar geschrieben. Kartoniert, IV + 103 Seiten, ISBN 10: 3-87159-401-6, ISBN 13:978-3-87159-401-4. Tübingen: DGVT Verlag 1993. € 16.–
Peter Lehmann

Jochen Vollmann (Hg. unter Mitarbeit von Jakov Gather und Astrid Gieselmann): Ethik in der Psychiatrie. Ein Praxisbuch
Sammelband mit an Ethik orientierten Beiträgen kritischer Geister (u.a. Margret Osterfeld, Tanja Henking, Gudrun Tönnes), aber auch solchen, die übliches psychiatrisches Handeln gutheißen. Schon in seiner Einleitung beklagt sich der Herausgeber Jochen Vollmann, Psychiater und Lehrstuhlinhaber für Ethik und Geschichte der Medizin, von vielen psychiatrisch Tätigen sei ihre rechtliche Situation als unangemessen empfunden worden, nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht wesentliche Teile der gesetzlichen Regelungen zur Zwangsbehandlung für verfassungswidrig erklärt und außer Kraft gesetzt hätte. Kein Wort darüber, welch Ethikverständnis in der Psychiatrie herrschte (und herrscht), wenn jahrzehntelang gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit verstoßen werden konnte, ohne dass dies irgend jemanden dieser "Ethiker" aufgefallen ist. Und auch kein Wort darüber, was die psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen für die Betroffenen bedeuteten und bedeuten, welche Schadenersatzforderungen ihnen (eigentlich) zustehen und wie die Behandler zivil- und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen wären. Mit seiner Anmaßung, das Buch behandle alle derzeit ethisch relevanten Probleme psychiatrischen Handelns, belegt er seinen Drang nach Deutungshoheit des Problemgebiets "Psychiatrie, Ethik und Ethikverstöße". Er entscheidet die Spannbreite ethischer Probleme in der Psychiatrie. Dieser Anspruch auf Deutungshoheit ist zwar üblich, aber dennoch peinlich. Ein konkretes Beispiel hierfür ist der Artikel über Vorausverfügungen, den Vollmann mit seiner Kollegin Astrid Gieselmann schrieb, wo sie betroffenenorientierte Verfügungen wie die Psychosoziale Patientenverfügung und Berichte Betroffener über Erfahrungen mit Vorausverfügungen schlicht ignorieren und lieber auf US-amerikanische Psychiateraussagen verweisen. Und Bedenken äußern, was Schlimmes passieren könnte, wenn sich Patienten gegen Haldol oder Elektroschocks aussprechen; dies könnte schwerwiegende Konsequenzen haben. Schwerwiegende Konsequenzen einer Option für Haldol und Elektroschocks? Kein Thema für die Möchtegern-Ethiker. Kartoniert, 239 Seiten, ISBN 978-3-88414-666-8. Köln: Psychiatrieverlag 2017. € 30.–
Peter Lehmann

Katrin von Consbruch / Ulrich Stangier: Ratgeber Soziale Phobie – Informationen für Betroffene und Angehörige
Etwas dröger Ratgeber mit Hinweisen, wie Menschen mit sozialen Ängsten selbstbewusstes Verhalten in sozialen Situationen erlernen können. Er verzichtet auf eine kritische Beleuchtung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Entwicklung der Diagnose "Soziale Phobie" durch die WHO und die mit ihr verquickte Pharmaindustrie, die für die im Buch erwähnten Antidepressiva einen expandierenden Absatzmarkt möchte. Dankenswerterweise weisen die Autorin und der Autor dezent auf die nicht nachgewiesene Wirksamkeit dieser Substanzen (auch) bei Menschen mit sozialen Ängsten hin. Nichtssagend und stereotyp sind allgemeine Verweise auf mögliche genetische Vorbelastungen ebenso wie auf Gehirnaktivitäten; die beobachtete stärkere Aktivierung bestimmter Gehirnregionen unter Stresseinfluss werden flugs umgedeutet in die Vermutung einer Kausalität, als wären soziale Ängste Folgen von Gehirnveränderungen. Wer diese unsinnigen Passagen im Buch übersteht, findet schließlich vernünftige, an der kognitiven Verhaltenstherapie orientierte Anregungen zur Selbsthilfe, verbunden mit Fallbeispielen, Übungen und Arbeitsblättern. Kartoniert, 83 Seiten, ISBN 978-3-8017-2092-6. Göttingen: Hogrefe Verlag 2010. € 9.95
Peter Lehmann

Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse
Psychoanalyse und Kritik – Psychoanalyse-Kritik. Die Psychoanalyse ist bis heute dadurch ausgezeichnet, dass ihre Erfolgsquote sich schwerlich objektivieren lässt, folglich ist darüber trefflich streiten. Sie tritt aber auch durch ihren kritischen Duktus, ihre Intellektualität, die philosophische Tiefe ihrer Konzepte und Diskussionen hervor. Die Psychoanalyse erfreut sich des Rufes kritisch zu sein, ja sie gilt als radikal gesellschaftskritisch. Dass sie genuin auf eine ganz reale Praxis zielt und daran zu messen wäre, mag da so manchem schon als zu vernachlässigende Größe erscheinen. Wie unangenehm wird von solch hoher Warte aber ein handfeste, verstehende Kritik an ihrem Vorgehen wirken, die sich nicht mit dem Hinweis auf die Untauglichkeit des Therapierten, der Tiefe seiner Konflikte und Ähnlichem abspeisen lässt? "Blumen auf Granit" von Dörte von Drigalski ist insofern eine Ausnahme geblieben. Sie hat das Wagnis auf sich genommen, diese Kritik nicht wiederum zu objektivieren: Soll heißen, sich und die ihr widerfahrene Beleidigung und Traumatisierung durch eine psychoanalytische Lehranalyse hinter einer begrifflich aufgeladenen Fachdiskussion dieses oder jenes Theorems zu verstecken. Statt dessen liefert sie in "Blumen auf Granit" zugleich mit fachlich informierten, psychoanalytischen Reflexionen den Bericht ihrer eigenen Lehrtherapie. Ihre Verfahrensweise macht sie verletzlich, muss die durch die Analyse verursachte Demütigung genauso thematisieren wie ihre eigene Geschichte, den Inhalt der Analyse. Als von Drigalski sich als junge Ärztin auf den Weg der Psychoanalyse begab, wollte sie den objektivierenden Automatismen des normalen deutschen Krankenhausbetriebes – in den sie eingebunden war – durch die Hinwendung zu einer die seelische Dimension des Menschen würdigende Wissenschaft etwas entgegensetzen. Über die ihr auf diesem seelischen Feld zugefügten Verletzungen zu berichten, denke ich mir als Kraftakt und intellektuelles Wagnis sondergleichen. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass von Drigalski selbst gezögert hat, den von der Psychoanalyse gepflegten Idealismus bezüglich der Weisheit des Analytikers, seinen uneigennützigen Zielen etc ... abzulegen und ihren Bericht und andere Berichte von ähnlich katastrophalen Analysen eher als typisch denn als seltene Ausnahmen zu begreifen. Dieses Buch bleibt ein unverzichtbares Korrektiv. Ich wünschte, ich vermöchte es jedem intellektuellen oder praktischen Psychoanalyse-Freund unters Kopfkissen zu hexen. Taschenbuch, 352 Seiten, ISBN 978-3-925931-37-6. Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, aktualisierte Neuausgabe 2003. € 16.90
Benjamin Sage

Vormundschaftsgerichtstag e.V. (Hg.): 4. Vormundschaftsgerichtstag vom 12. bis 15. Oktober 1994 in Friedrichsroda. Materialien und Ergebnisse
Alle Grundsatzreferate, Protokolle der Arbeitsgruppen und verabschiedeten Ergebnisse der Tagung »Betreuungsrecht in der Praxis – Traum oder Alptraum« der reformorientierten VormundschaftsrichterInnen, BetreuerInnen und übrigen an der Durchführung des Betreuungsrechts Beteiligten. Kart., 200 S., Köln: Bundesanzeiger Verlags GmbH 1995. DM 68.–
Peter Lehmann

Sylvia Wagner: Arzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975
In ihrer Dissertation, die der Mabuse Verlag 2020 als Buch publiziert hat, befasste sich die Pharmazeutin Sylvia Wagner mit Neuroleptikaversuchen an Heimkindern in bundesdeutschen staatlichen und konfessionellen Einrichtungen (Fürsorgeerziehung, Kinder- und Jugendheime, heilpädagogische sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen). Ihre Ergebnisse ordnete sie in ihren historischen, ethischen, rechtlichen und soziologischen Kontext ein. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass es sich in aller Regel um wissenschaftlich dilettantisch angelegte und zudem gesetzeswidrige, allerdings für die Täter juristisch folgenlose Experimente von Medizinern handelte – verübt an wehrlosen verhaltensauffälligen Kindern. Es galt herauszufinden, wie diese am besten mit Neuroleptika gefügig gemacht und ruhig gestellt werden können. Informationen fand die Autorin in medizinischen Zeitschriften, in Datenbanken, in Anstaltsakten, im Archiv der Pharmafirma Merck und bei Betroffenen.
An Beispielen zeigt die Pharmazeutin, wie verantwortungslos die Täter ihre Neuroleptika getestet haben und wie die Kinder unter den Substanzen gelitten haben. Ihr Buch wirft somit ein grelles Licht auf ein verdrängtes Kapitel der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und trägt zur Aufarbeitung von Gewalt in der damaligen Heimerziehung bei. Wie die Autorin nachweist, gab es in keinem der von ihr untersuchten Fälle ein informiertes Einverständnis oder eine vor Versuchsbeginn durchgeführte Nutzen-Risiko-Analyse. Nach den damaligen rechtlichen Grundlagen (Grundgesetz, StGB und ggf. Richtlinien von 1931) sowie ethischen Rahmenbedingungen (Nürnberger Kodex bzw. Deklaration von Helsinki) sei dies aber zwingend erforderlich gewesen.
Dass ein Ausblick auf die heutige Kinder- und Jugendpsychiatrie fehlt, in der in aller Regel (wie auch in der Erwachsenenpsychiatrie) weiterhin ohne informierte Zustimmung gearbeitet wird (eine umfassende Aufklärung über unerwünschte Wirkungen der verabreichten Substanzen und über Alternativen unterbleibt), ist dem Charakter der pharmaziehistorischen Arbeit geschuldet: Psychiatrische Menschenrechtsverletzungen werden für Historiker in der Regel erst nach ca. einem halben Jahrhundert interessant. Nichtsdestotrotz ist das Buch insgesamt erhellend und empfehlenswert.
Ein paar kritische Worte muss ich aber loswerden. Sylvia Wagner führt die durch Neuroleptika ausgelösten Muskelkrämpfe auf »Überdosierungen« zurück. Dies ist sachlich falsch. Diese Störungen treten bekanntlich (auch) unter sogenannten therapeutischen Dosierungen auf. Viel schlimmer ist, dass die Autorin trotz ihres löblichen Forschungsansatzes, auch nach einer Kontinuität aus der Zeit des Nationalsozialismus zu suchen, das letzte Wort ausgerechnet dem Psychiater Hanfried Helmchen als »Zeitzeugen« überlässt. Im Anhang der Arbeit – im Schlusssatz – darf der Mann sagen, er habe »gelernt, wie schwierig oder unmöglich die Beurteilung der Motive von Menschen vergangener Zeiten ist.« Das von Helmchen zu hören, verwundert wenig, ist er doch ein Schüler von Felix von Mikulicz-Radecki, einem exponierten Propagandisten von Massensterilisationen zu NS-Zeiten, und von Helmut Selbach, Oberarzt unter Max de Crinis, einem Protagonisten des psychiatrischen T4-Massenmords. Es soll wohl so sein, dass die Taten seiner Kollegen in der Vergangenheit verschwinden, ohne dass sie als das gebrandmarkt werden, was sie sind, nämlich als schlichte Verbrechen, begangen von rücksichtslosen und machtbesessenen Ärzten. Und dass wir den Blick dafür verlieren, dass – um es mit Bertolt Brecht zu sagen – der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch. Kein geringerer als der Historiker Götz Aly war es, der in seinem Artikel »Herr Professor Hanfried Helmchen und das Menschenexperiment« in der taz vom 1. Juli 1982 diesen Psychiater, noch heute Mitglied im Ethik-Beirat der deutschen Psychiaterorganisation DGPPN, zu Wort kommen ließ, allerdings mit einem deutlichen und kritischen Kommentar versehen: Würden Nicht-Mediziner oder Behörden Versuche an Menschen kontrollieren, so Helmchen, könnten diese »... von der Industrie als ökonomisch nicht mehr vertretbar abgelehnt werden. – Letztendlich müsse die Entscheidung beim Arzt verbleiben (...), ob er einen Patienten in eine klinische Prüfung einbezieht und in welchem Umfang, wenn überhaupt, er ihn hierfür aufklärt.« (Nachzulesen im Internet unter www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/recht/pdf/herrprofessor.pdf) War es nicht exakt diese Einstellung, die den Arzneimittelversuchen an Heimkindern zwischen 1949 und 1975 zugrunde lag? Rezension in SeelenLaute / Rezension in Soziale Psychiatrie. Kartoniert, 243 Seiten, 4 Abbildungen, 9 Tabellen, ISBN 978-3-86321-532-3. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2020. € 34.95
Peter Lehmann

William J. Walsh: Psychische Erkrankungen anders behandeln. Gezielte Therapie mit Mikronährstoffen – natürlich und nebenwirkungsfrei
Aufgrund genetischer und umweltbedingter Faktoren komme es zu einem Nährstoff-Ungleichgewicht. Die jüngsten Fortschritte der Gehirnforschung hätten molekularbiologische Wurzeln vieler psychischer Erkrankungen identifiziert. Fälschlicherweise habe man diese bisher traumatischen Erfahrungen zugeordnet. Auch Psychopharmaka könnten eine Normalisierung der Gehirntätigkeit herbeiführen, hätten aber auch unerwünschte Wirkungen. Mikronährstoffe dagegen würden bei Schizophrenie, Depression, Autismus, ADHS, Verhaltensstörungen usw. usf. das chemische Ungleichgewicht nebenwirkungsfrei im Körper ausgleichen, insbesondere Kupferüberschuss, Vitamin-B6-Mangel, Zinkmangel, Methyl-Folat-Missverhältnisse, Übermaß an oxidativem Stress und Unausgewogenheiten bei den Aminosäuren. Am Schluss des Buches bedankt sich der Autor, ein US-amerikanischer Doktor der Philosophie, bei den 30.000 Patienten, die er untersuchen durfte. Daran, dass der Sozialwissenschafter William Walsh viele Menschen auf Stoffwechselstörungen untersuchte, ist nicht zu zweifeln. Von mir aus kann er auch 300 Millionen Patienten untersucht haben, sofern sie nicht abgezockt wurden. Hätte er recht mit seinen Schlussfolgerungen, könnte man alle Selbsthilfe- und Psychotherapieanstrengungen einstellen. Es ginge mal wieder nur noch darum, die richtige Pille einzuwerfen, und alle Probleme wären gelöst. Leider hat sich bei mir bisher noch niemand der auf diese Weise Geheilten gemeldet. Das muss aber auch nichts heißen, möglicherweise hört man von dieser Personengruppe nichts, da sie jetzt alle wohlbehalten, unauffällig und ohne psychiatrische Probleme leben. Wer Geld übrig hat und von einer Stoffwechselstörung in seinem oder ihren Fall überzeugt ist, kann die Walsh'sche Nährstofftherapie ja mal ausprobieren. Vielleicht stimmt ja wenigstens, dass sie – vom Einstellen eigener Selbsthilfe- und Psychotherapieanstrengungen abgesehen – keine unerwünschten Wirkungen mit sich bringt. US-Amerikanisches Original 2012. Kartoniert, 285 Seiten, ISBN 978-3-8673-1181-6. Kirchzarten: VAK Verlags GmbH, 2. Auflage 2017. € 19.99
Peter Lehmann

Therese Walther: Die »Insulin-Koma-Behandlung« – Erfindung und Einführung des ersten modernen psychiatrischen Schockverfahrens
Eine paradigmatische Fallgeschichte medizinisch-psychiatrischer Forschung. Zu den wenigen Vorurteilen, auf die wir äußerst ungern verzichten, gehört der Glaube, dass medizinische Anwendungen, seien es medikamentöse oder andere Therapien auf geprüften theoretischen Voraussetzungen beruhen. Therese Walthers Untersuchung der Insulin-Koma-Behandlung kann jedoch paradigmatisch zeigen, dass dies ausgerechnet in dem sensiblen Bereich des medizinischen Umgangs mit seelischen Problemen mitnichten der Fall ist. Obwohl den Medizinern, die die Insulin-Koma-Behandlung praktiziert haben, das enorme Risiko dieser "Therapie" anhand der lebensbedrohlichen Zustände ihrer Patienten unmittelbar vor Augen stehen musste, glaubten sie nicht auf eine Methode verzichten zu können, der von Anfang an jeder brauchbare theoretische Unterbau fehlte. Die zunächst in Fachkreisen wegen dieses Makels verrissene Therapie erfreute sich anschließend in der gesamten westlichen Welt größter Beliebtheit und gehörte noch bis in die 1960er-Jahre zu den bevorzugten Arten der Behandlung sogenannter Schizophrenien. Andererseits handelt es sich hier auch nicht um eine Anwendung, deren Theorie zwar ungesichert ist, deren Praxis aber um so erfolgreicher verläuft: Die vollmundig gepriesenen Heilerfolge waren – wie Therese Walther dokumentiert – so unsicher, dass da, wo die Behandlung zur Anwendung kam, oft mit abweichenden Verfahren oder der gleichzeitigen Verabreichung anders wirkenden Substanzen gearbeitet wurde. Was diese Methode schließlich verdrängt haben dürfte, sind weder ihre fraglichen Erfolge, noch ihre von den meisten "Behandelten" als grausamste Folter empfundenen "Nebenwirkungen" sondern die Aufwändigkeit ihrer Durchführung: Die nun einsetzende "Pharmakologische Revolution" konnte eine weitgehende Kontrolle der Behandelten bei sehr viel geringeren (Personal-) Kosten garantieren. Therese Walther gelingen in ihrer gut recherchierten Studie tiefe Einblicke in das psychiatrisch-medizinische Forschungsverständnis. So führt sie beispielsweise einen Fachartikel aus dem Jahre 1994 an, der die Insulinbehandlung u. a. mit Hinweis auf die "offenkundigen therapeutischen Chancen" der durch die Behandlung "erzwungene Regression auf elementare Stufen menschlicher Bedürfnisbefriedigung" empfiehlt. Dieser Hinweis dürfte auf die körperlichen und seelischen Begleiterscheinungen dieser "Wunderwaffe" zielen, welche von den Behandelten einhellig als grausame Misshandlung beschrieben worden sind (Vgl. Weitz: My Insulin Shock Torture und Kempker: Mitgift). Aber, wird man sich vielleicht fragen, ist diese Methode nicht heute schon weitgehend obsolet? Ja, sie ist aus den genannten Gründen aus der Mode gekommen, aber keineswegs widerlegt. Und das ist auch prinzipiell nicht möglich, da sie nie auf theoretisch gesicherten Hypothesen beruhte, die eindeutig widerlegt oder validiert werden könnten. Die nicht enden wollende Diskussion über die Wirkungsweise von Psychopharmaka verrät, dass es sich bei ihren Nachfolgern grundsätzlich nicht viel anders verhält. ... Wer etwas über die Realitäten medizinischer Forschung erfahren will, sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Kartoniert, 240 Seiten, 10 Abbildungen, ISBN 978-3-925931-34-5. Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe 2004
Sophie Blau

Anne Wanitschek / Sebastian Vigl: Cannabis und Cannabidiol (CBD) richtig anwenden. Wirkungsweisen und Behandlungsmethoden verständlich erklärt. Hanf und ätherische Öle wirkungsvoll kombinieren
Die Heilpraktiker Wanitschek und Vigl informieren über die Verwendung von Cannabis sowie Cannabis-Bestandteilen wie dem psychoaktiven THC sowie CBD mit äußerst geringem THC-Anteil. Sie erläutern die Geschichte der Heilpflanze Hanf, erklären das Endocannabiniod-System des Körpers, das für die Aufnahme der Cannabis-Bestandteile verantwortlich ist, welche Ernährungsmethoden und Verhaltensweisen es negativ oder positiv beeinflussen, wie man frei erhältliche Cannabis-Produkte verarbeiten und einnehmen kann (Dosierungshinweise inklusive), mit welchen Methoden man ihre Wirkung verstärken kann und welche Risiken bei bestimmten Anwendungen einzukalkulieren sind. Anschließend erklären sie die Wirkungsweise des Hauptwirkstoffs THC sowie des nicht weniger wichtigen CBD, wobei letzteres für Psychiatriebetroffene interessant ist, die gegen psychische Probleme wie Müdigkeit, Ängste, Aufmerksamkeitsprobleme, posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Medikamentenabhängigkeit, Schlafstörungen, "Schizophrenie" usw. vorgehen wollen. Diesen Betrachtungen der beiden Heilpraktiker liegt jeweils eine althergebrachte und nicht hinterfragte Vorstellungswelt mit gestörtem Botenstoffwechsel im Gehirn zugrunde; allerdings wirken die Cannabis-Bestandteile unabhängig vom Krankheitsbild der Anwender. Was "Schizophrenie" betrifft, so ist nach den Worten von Wanitschek und Vigl eine sehr hohe und damit teure CBD-Dosis notwendig; und bei ärztlicher Verordnung können Krankenkassen die Kosten übernehmen, müssen dies bisher aber nicht. Insofern sind die im Buch erwähnten Methoden interessant, mit denen die Wirkung frei erhältlicher und nicht ganz so kostspieliger CBD-Öle verstärkt werden kann. Am interessantesten dürfte sein, wenn zukünftig betroffenenkontrollierte Studien oder zumindest Einzelberichte publiziert werden, wie insbesondere CBD akut und auf Dauer wirkt. Mit Bezugsadressen. Kartoniert, 125 Seiten, 15 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-86910-334-1. Hannover: Humboldt Verlag 2018. € 16.99
Peter Lehmann

Peter N. Watkins: Recovery – wieder genesen können. Ein Handbuch für Psychiatrie-Praktiker
Plädoyer eines britischen Psychologen und Psychiatriepflegefachmanns nach vier Jahrzehnten Berufspraxis, unter Verzicht auf vorgegebene Lösungswege und unter der befreienden Annahme des Nicht-Wissens der Fähigkeit der Menschen zu vertrauen, ihren Problemen eine Bedeutung zuzuordnen und Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben letztendlich erträglicher machen. Orientiert an der kritischen Psychiatriebewegung der zurückliegenden Jahre (Laing, Foucault, Breggin, Thomas, Romme, Mosher, Bracken usw.) fordert Watkins seine Kollegen auf, Betroffene in humanistischer Weise zu unterstützen und Betroffene, die ihre Probleme und die Psychiatrie überwunden haben (allen voran die – in diesem Buch anglo-amerikanischen – Vertreter der Betroffenenbewegung Ahern, Fisher, Chamberlin, Coleman, Deegan, Wallcraft), als Experten für sich selbst in aktiver Rolle wertzuschätzen, von ihren Erfahrungen zu lernen und die – weit über die bloße Betonung der Hoffnung auf Symptomlinderung und Genesung hinausgehende – familiäre, spirituelle und kreative Dimension des Recovery-Prozesses in die eigene Praxis zu integrieren. Kartoniert, 250 Seiten, ISBN 978-3-456-84723-8. Bern usw.: Hans Huber Verlag 2009. € 29.95
Peter Lehmann

Uta Wehde, Das Weglaufhaus – Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene

  • Einfach abhauen. Dieses Buch bringt einen zum Nachdenken darüber, wie eine echte Alternative zur Psychiatrie aussehen müsste. Denn die wenigen mutigen Menschen, die es schaffen, sich aus dem immer feiner gesponnenen Netz psychiatrischer Kontrolle zu befreien, haben oft keinen Ort, an dem sie Schutz und Aufnahme finden. Uta Wehdes Plädoyer für einen psychopharmakafreien und nutzerkontrollierten Hilfs- und Schutzraum ist wegweisend.
    Benjamin Sage

  • Weglaufen und ein alternatives Leben finden. "In der DDR kam der erste Hoffnungsschimmer der Freiheit, als ein paar mutige Menschen tatsächlich wegliefen. Uta Wehde zeigt uns, dass dies auch im Bereich der Psychiatrie möglich ist und dass die Mauern dieser maroden Institution ebenfalls eingerissen werden können", schreibt Jeffrey M. Masson – der ehemalige Leiter des Sigmund Freud Archivs – in seinem Geleitwort zu dieser kritischen Recherche. Obwohl die Reform der Anstaltspsychiatrie in Deutschland gern in Sonntagsreden gelobt wird, fehlt es bis heute weitgehend an Institutionen, die eine echte Alternative zur Psychiatrie und ihren Zwangsmethoden darstellen könnten. Uta Wehde hat die bekannten Alternativen kritisch unter die Lupe genommen und die Befunde für die Konzeption des Berliner Weglaufhauses nutzbar gemacht. Das sind namentlich die kalifornische (!) Soteria von Loren Mosher, das Diabasis-Projekt von John Perry und die niederländischen Weglaufhäuser. Dabei stehen Letztere im Zentrum ihrer Untersuchung. Die mit wissenschaftlicher Genauigkeit geführte Analyse der Praxis in den Niederlanden fällt ziemlich bedenklich aus. Der oft kritiklose Umgang mit Psychopharmaka hat Uta Wehde besonders gestört. Ihre Vor-Ort-Recherche in Holland zeigt, dass Psychopharmaka die Lebensqualität der vormals psychiatrisierten Menschen oft entscheidend vermindert. Sie sind nicht selten dafür verantwortlich, wenn die Weggelaufenen nicht in ein Leben außerhalb sozialer Hilfssysteme zurückfinden. Die liberale Institution wird so schnell zur Scheinalternative. Im Berliner Weglaufhaus – an dessen politischer Durchsetzung die Autorin wesentlich beteiligt war – herrscht in der Konsequenz eine äußerst kritische Einstellung zu diesen Präparaten vor. Am Schluss gibt Uta Wehde nicht nur eine Übersicht über die Konzeption des Berliner Weglaufhauses, sondern dokumentiert auch die Geschichte seiner politischen Durchsetzung. Dieses Buch ist sicherlich keine leichte Gutenachtlektüre. Eine große Empfehlung jedoch für alle, die sich ernsthaft Gedanken über Alternativen zu den Zwangsmechanismen der herrschenden psychiatrischen Praxis machen wollen.
    Sophie Blau

Kartoniert, 192 Seiten, ISBN 978-3-925931-05-5. Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1991. € 5.90

Stefan Weinmann: Die Vermessung der Psychiatrie – Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets
Das Buch des Psychiaters Stefan Weinmann, der derzeit in Berlin arbeitet, besteht aus einer heftigen und fundierten Kritik an den Halb- und Unwahrheiten der psychiatrischen "Wissenschaft", die als evidenzbasierte Fakten vermarktet werden, und aus einer Kritik an der biologistischen Herangehensweise der Mainstream-Psychiatrie, die den Blick auf die Lebensgeschichte des einzelnen Menschen verstelle und die Notwendigkeit von Selbsthilfemaßnahmen aus dem Blickfeld rücke. Besonders heikle Punkte, vor denen sich Autoren des Psychiatrieverlags scheuen, spricht auch Stefan Weinmann nicht an: die strafrechtlich relevante Verabreichung von Psychopharmaka ohne informierte Zustimmung, die fehlende Gleichheit seiner Kollegen vor dem Zivil- und Strafrecht (selbst klare Rechtsverstöße werden nicht verfolgt), die menschenrechtswidrige und oft traumatisierende Verabreichung von Neuroleptika durch gewaltbereite psychiatrisch Tätige, die Wiederkehr des aus dem Faschismus stammenden Elektroschocks (speziell Frauen verabreicht), die psychiatrische Verleugnung des Risikos der körperlichen Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika sowie die um zwei bis drei Jahrzehnte reduzierte Lebenswartung von Menschen mit ernsten psychiatrischen Diagnosen. Dafür kritisiert Weinmann das neuromythologische Neuroimaging, die Weitergabe des psychiatrischen Halbwissens in der Psychoedukation, die Konditionierung der Beteiligten zur Psychopharmaka-Verabreichung, die von Mainstream-Psychiatern konsequenzenlos hingenommene intelligenzmindernde Verringerung der Grauen Hirnsubstanz durch Neuroleptika, die unsubstanziierte Dopamin-Hypothese der "Schizophrenie", chronifizierende und keinesfalls rückfallverhütende Wirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika u.v.m. Wer die Diskussion innerhalb der fortgeschrittenen Sozialpsychiatrie nachvollziehen will, die Überzeugung des Autors von der Notwendigkeit von Selbstverteidigungsstrategien des psychiatrischen Fachgebiets teilt und Argumentationshilfen für die Diskussion mit Vertretern der herrschenden Psychiatrie sucht, wird in diesem empfehlenswerten Buch fündig. Kartoniert, 283 Seiten, ISBN 978-3-88414-931-7. Bonn: Psychiatrieverlag 2019. € 25.–
Peter Lehmann

Stefan Weinmann: Erfolgsmythos Psychopharmaka – Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen
Sozialpsychiatrisch orientierte (d.h. Publikationen kritischer Psychiatriebetroffener ignorierende) Auseinandersetzung mit den Folgen des Bekanntwerdens der Psychopharmakaschäden, insbesondere der von Volkmar Aderhold publizierten neuroleptikabedingten hohen Sterblichkeitsraten und Plädoyer für Alternativen à la Soteria und Offener Dialog, für Wahlfreiheit, Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in Praxis und Forschung und eine von Pharmaunternehmen unabhängigere Forschungs-, Entstigmatisierungs- und Informationspolitik. Wenn ein Psychiater "wir" sagt, meint er das durchaus und ausschließlich wörtlich: die Definitionsmacht der Probleme möchte er nicht teilen, und wenn es darum geht, Forderungen aufzustellen, will er auch hier bestimmen; sich mit den Forderungskatalogen der Organisationen von Psychiatriebetroffenen und ihre Unterstützern auseinanderzusetzen, diese auch nur zu benennen, ist nicht die Sache eines Sozialpsychiaters. Nichtsdestotrotz ist das Buch lohnenswert zu lesen; es zeigt, dass die Revocerydiskussion und die Forderung nach einem Paradigmenwechsel bzw. nach Paradigmenabschaffung (siehe Pat Bracken) bei Psychiatern angekommen ist. Kartoniert, 264 Seiten, ISBN 978-3-88414-455-8. Bonn: Psychiatrieverlag 2008. € 29.95
Peter Lehmann

Stefan Weinmann / Thomas Becker: Qualitätsindikatoren für die Integrierte Versorgung von Menschen mit Schizophrenie. Handbuch
Wenn man im Anhang dieses Buches nachschaut, auf welche Literatur sich die entwickelten Qualitätsindikatoren für die sogenannte integrierte Versorgung von Menschen mit der Diagnose "Schizophrenie" stützt, überkommt einen schnell ein leichtes Grausen – angesichts der ausnahmslos biologisch orientierten Weltsicht der zitierten Psychiater, die sich durch die Recherchestrategie folgerichtig ergab. Diese baute auf den sogenannten Cochrane-Reviews und, inhaltlich gleich gelagert, der "Leitlinie Schizophrenie" der DGPPN auf. Die beiden Autoren haben viel Arbeit investiert, um aus diesem biologischen Psychiatriebrei auf "breitem fachlichen Konsens" beruhende Qualitätsindikatoren zu entwickeln, damit psychiatrische Einrichtungen untereinander vergleichbar werden. Der Konsens wurde laut Angabe der Autoren durch Abstimmung bei einem Workshop am 31.7.2008 erzielt, bei dem 13 "unabhängige Experten" abstimmten über ein Ranking der Indikatoren. Neben mehrheitlich Psychiatern vertrat Ruth Fricke den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, gleichberechtigt mit dem pharmafirmengesponserten Angehörigenverband. Das Buch behandelt das psychiatrische Verständnis sogenannter Schizophrenie: das übliche biologische Krankheitskonzept, verbunden mit Psychopharmakavergabe, natürlich Langzeitverabreichung. Eine betroffenenorientierte Sichtweise sucht man vergebens. Es folgen Betrachtungen zum Qualitätsmanagement und zur Messung von Qualität in der Behandlungen. Als behandlungsbezogene Variablen findet man den Anteil an Personen, denen man typische oder sogenannte atypische Neuroleptika bzw. Depotneuroleptika verabreicht; nichtpsychiatrische Hilfen, wie beispielsweise im Artikel Ergebnis der Umfrage unter den Mitgliedern des Bundesverbandes Psychiatrieerfahrener zur Qualität der psychiatrischen Versorgung 1995 genannt und als wesentliches nutzerorientiertes Qualitätsmerkmal definiert wurden, sucht man selbstredend ebenfalls vergeblich. Qualität in diesem Verständnis ist Qualität à la biologische Psychiatrie, Alternativen dürfen nicht gedacht werden, sie kommen demzufolge in diesem Buch nicht vor. Insofern wurden die Ziele erreicht, "die Erarbeitung einer konzeptionellen Grundlage für die Identifikation und Beschreibung von Qualitätsindikatoren bei der Behandlung der Schizophrenie", die "Beschreibung der Evidenzbasis für die relevanten identifizierbaren Qualitätsindikatoren" etc. Die "integrierte Versorgung" kann fortschreiten, Gemeindepsychiatrie und Langzeitverabreichung wie gehabt, jetzt noch besser messbar, und wie diese Messung vonstatten geht, zeigt sich prima an diesem technisch-psychiatrischen Buch. Psychiatriebetroffene bleiben Objekte der Behandlung, ihre formale Einbindung in solche Projekte, wie die Erarbeitung psychiatrischer Qualitätsindikatoren, entspricht dem Zeitgeist, sie macht sich gut – als Feigenblatt. Kartoniert, 188 Seiten, ISBN 978-3-88414-488-6. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2009. € 39.95
Peter Lehmann

Thomas Wiefelhaus: Betheljugend – Mehrbett- oder Einzelzimmer?
Buch aus dem Blickwinkel des ehemals unmündigen, 14-jährigen Patienten über seinen aus nichtigem Anlass erzwungenen Aufenthalt in der Männerpsychiatrie 1971 in Bethel, die verweigerte psychosoziale Hilfe, die Überwindung der Psychopharmakawirkungen durch regelmäßiges Erbrechen u..v.m. Der Untertitel könnte auch lauten "Bettensaal oder Iso-Zelle?", möglich wäre aber auch "Gebrochen werden durch die Behandlung oder die eigene Identität erhalten auch unter allerschwierigsten Bedingungen". Dem damals 14-Jährigen, der sich nicht unterbringen ließ, gebührt derselbe Respekt wie dem heute 52-Jährigen, der sich auch durch die mittlerweile vergangenen Jahre nicht davon abbringen ließ, sein Schicksal in der Psychiatrie zu dokumentieren. Das Buch passt so sehr gut zur aktuellen Diskussion um die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in den Kinderheimen in den drei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs – aber auch zur überfälligen Diskussion um die um Situation in der Kinderpsychiatrie heute, die sich vermutlich nur äußerlich und durch andere Psychopharmakanamen von der Psychiatrie unterscheidet, wie sie der Autor erlebt hat und so plastisch wie lesenswert beschreibt. Rezension im BPE-Rundbrief. Taschenbuch, 136 Seiten, ISBN 978-3-8370-6351-6, Norderstedt: Books on Demand 2008. € 9.95
Peter Lehmann

Petra Wiegers: Nur die Liebe fehlt – Von Depression nach der Geburt und Müttern, die ihr Glück erst finden mussten
Die Journalistin Petra Wiegers hat vier Frauen interviewt, die nach der Geburt ihrer Kinder in schwere psychische Krisen geraten sind. Diese Berichte hat sie umgeschrieben. Sie schildert nun in Ich-Form, wie die Frauen immer tiefer in die Krisen gerieten, mit ihrem Selbstbild und ihren eigenen Forderungen an sich selbst nicht mehr klar kamen, Depressionen entwickeln, teilweise mit Angst- und Panikattacken sowie Zwangsgedanken, schließlich nicht mehr konnten, eine Auszeit brauchten, mit Kind in die Psychiatrie gingen, und ihnen dort geholfen wurde, die Probleme zu überstehen. Vier Erfolgsgeschichten. Die Psychiaterin Dr. Susanne Simen vom Klinikum Nürnberg Nord - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt jeweils im Anschluss an die vier Berichte, welche Probleme die Frauen hatten, die von der Autorin bereits erklärend nacherzählt wurden. Im Nachwort erklärt die Psychiaterin noch einmal die Therapie der postpartalen, d.h. nach der Geburt auftretenden Depression: es gebe wirksame und nebenwirkungsarme Medikamente, die nicht in die Muttermilch übergingen und somit das Baby nicht belasten, alles hänge ab von der Wahl des richtigen Medikaments. Eventuell sollten die Antidepressiva schon während der Schwangerschaft verabreicht werden, eventuell auch in Kombination mit einer Psychotherapie. Kein Wort von Risiken und abhängig machendem Potenzial dieser synthetischen Stoffe. (Und dankenswerterweise keine Empfehlung, den leidenden Müttern Elektroschocks zu verabreichen, schließlich wird diese Maßnahme auch in der psychiatrischen Klinik Nürnberg Nord vollzogen, und Schwangerschaft gilt mitnichten als Kontraindikation für diese brutale, im Faschismus entwickelte Behandlung.) Ich schaute in der "Roten Liste" nach, die jeder Apotheker hat und die in vielen öffentlichen Bibliotheken einsehbar ist. Beim Hersteller des weit verbreiteten Citalopram lese ich beispielsweise, wie schädlich sich diese Substanz für Neugeborene auswirken kann, ich lese von Atemnot, Erbrechen usw., und dass die Substanz selbstverständlich in die Muttermilch übergeht: "Folgende Symptome können bei Neugeborenen nach der maternalen Anwendung von SSRIs/SNRIs in den späten Stadien der Schwangerschaft auftreten: Atemnot, Zyanose, Apnoe, Krampfanfälle, instabile Körpertemperatur, Schwierigkeiten beim Trinken, Erbrechen, Hypoglykämie, Muskelhypertonie, Muskelhypotonie, Hyperreflexie, Tremor, nervöses Zittern, Reizbarkeit, Lethargie, ständiges Schreien, Benommenheit und Schlafstörungen. Die Symptome können entweder durch serotonerge Wirkungen oder durch Absetzreaktionen verursacht sein. In der Mehrzahl der Fälle beginnen die Komplikationen sofort oder sehr bald (weniger als 24 Stunden) nach der Geburt. Daten aus epidemiologischen Studien deuten darauf hin, dass die Anwendung von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) in der Schwangerschaft, insbesondere im späten Stadium einer Schwangerschaft, das Risiko für das Auftreten einer primären pulmonalen Hypertonie bei Neugeborenen (PPHN, auch persistierende pulmonale Hypertonie genannt) erhöhen kann. ... Citalopram geht in die Muttermilch über." (ABZ Pharma, "Citalopram", Fachinformation, Stand: Februar 2014). Herstellerinformationen zu anderen Antidepressiva transportieren die gleiche Botschaft. Deshalb kann ich – angesichts aller Schwierigkeiten, die psychische Probleme in der Schwangerschaft und der Zeit danach eh schon mit sich bringen, und auch wenn ich bloß ein Mann bin – nur zur Vorsicht vor Antidepressiva raten und zur Vorsicht vor diesem Buch. Verantwortungsvoller und differenzierter Journalismus sieht anders aus. Kartoniert, 176 Seiten, ISBN 978-3-8436-0698-1. Ostfildern: Patmos Verlag der Schwabenverlag AG 2016. € 16.99
Peter Lehmann

Christina M. Wiesemann: Schlafstörungen – 3-Schritte-Programm gegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen
Die Doppel-CD informiert leichtverständlich über das Phänomen des Schlafes und die Verschiedenartigkeit von Schlafstörungen. Mit einem Programm in mehreren Teilen, das auf verhaltenstherapeutischen und auf Hypnose basierenden Methoden aufgebaut ist, lernt man, eigene Schlafrituale zu entwickeln und schlafhinderliche Grübeleien zu stoppen. Eine Fantasiereise mit speziellen Suggestionen zum Einschlafen, Musik und Naturgeräusche zum Träumen runden die Doppel-CD ab. Allen, die Schlafprobleme haben, ist diese CD empfohlen, 1000 mal besser, als Psychopillen einzuwerfen. Der Versuch lohnt sicher. Hörbuch, 2 CDs mit 16-seitigem Begleitheft (in Jewelcase), Gesamtspieldauer 154:15 Minuten, ISBN 978-3-939306-07-8. München: Arps-Verlag, 2. Auflage 2009. € 24.80
Peter Lehmann

Christina M. Wiesemann: Angst- & Panik-Attacken – Den plötzlichen Alarm im Körper verstehen, bewältigen und auflösen
Bei diesem Hörbuch handelt es sich um eine Doppel-CD mit intensivem verhaltenstherapeutischen Trainingsprogramm. Man kann lernen, die Angst- und Paniksymptome zu verstehen, sich den Attacken schrittweise zu stellen und so den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, auch Rückfälle zu überwinden. Aber wie gesagt, es handelt sich um ein intensives Trainingsprogramm, das über einige Wochen hinweg durchzuführen ist. Aber man kann es alleine machen, die Übungen werden erklärt, ein Beiheft gibt zusätzliche Anleitungen, und wer diese Übungen macht, ist nach ein paar Wochen vermutlich an einem anderen Entwicklungspunkt als derjenige, der in dieser Zeit lediglich Antidepressiva oder Tranquilizer schluckt. Hörbuch, 2 CDs mit 24-seitigem Begleitheft (in Jewelcase), Gesamtspieldauer 155:55 Minuten, ISBN 978-3-939306-05-4. München: Arps-Verlag, 3. Auflage 2009. € 24.80
Peter Lehmann

Markus Wiesenauer / Annette Kerckhoff: Homöopathie für die Seele
Über Wege der Einflussnahme auf psychische und psychosomatische Probleme, u.a. Ängste, Essstörungen, Nervosität, Reizbarkeit, depressive Verstimmung, Stimmungsschwankungen, Trauer, Unruhe, Wutanfälle, Appetitlosigkeit, Erschöpfung und Burnout, Konzentrations- und Schlafstörungen. Obwohl eingangs im Buch geraten wird, bei "schweren seelischen Erkrankungen unbedingt professionelle Beratung, medikamentöse und bisweilen stationäre Behandlung" vornehmen zu lassen und ärztlich verordnete Psychopharmaka bloß nicht abzusetzen, ist es doch gedacht als Wegweiser für Selbsthilfemaßnahmen bei leichten Beschwerden und für professionelle Helfer bei schweren psychischen 'Erkrankungen'. Der Mediziner und Pharmazeut Wiesenauer und die Heilpraktikerin Kerckhoff starten mit einer kleinen Einführung über die homöopathischen Grundlagen und einem Fragebogen zur Mittelfindung, beschreiben dann ausführlich die besonders wichtigen Homöopathika und kommen schließlich zu speziellen psychischen Problemen und Vorschlägen, welche Mittel jeweils geeignet sein könnten, teilweise auch mit Angaben zur Anwendung und Dosierung. "Homöopathie für die Seele" erschien original 2003; bei einer Neuauflage würde ich auch Informationen über mögliche unerwünschte Wirkungen bei therapeutischer oder zu hoher Dosierung wünschen für diejenigen, die Probleme mit der Anwendung haben und Orientierung benötigen. Softcover mit runder Ecke, 128 Seiten, 55 Farbfotos, ISBN 978-3-8338-0214-0. München: Gräfe & Unzer Verlag, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe 2008. € 12.90
Peter Lehmann

Constanze Wilkes: Psychiatrische Unterbringungen und Zwangsbehandlungen Eine empirische Untersuchung der Grenze zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
In ihrer Studie, eigentlich einer sozialarbeiterischen Bachelor-Arbeit (und dafür von beeindruckender Breite), lotet Constanze Wilkes das Spannungsfeld Sozialarbeit in der Psychiatrie aus mit dem Anspruch, die Praxis des Zwangs in der Psychiatrie zu untersuchen und Patientenautonomie zu fördern. Das Ziel ihrer Arbeit, so ihre eigenen Worte, bestehe darin, "... den Umgang mit der Grenze zwischen Selbst- und Fremdbestimmung unter Einbeziehung von sozialarbeiterischen, juristischen, psychologisch-psychiatrischen und ethisch-philosophischen Aspekten multiperspektivisch und interdisziplinär auszuleuchten und insbesondere die subjektive Sicht der Beteiligten zu eruieren." Dazu erörtert sie in übersichtlicher Weise die rechtlichen Bedingungen von Betreuung und Unterbringung nach PsychKG (am Beispiel von Nordrhein-Westfalen) und BGB, von Fixierung, Zwangsbehandlung sowie Schutzmöglichkeiten vor Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte. Diese Erörterung macht einen sorgfältigen Eindruck, sieht man davon ab, dass die rechtlichen Bestimmungen ausgeblendet bleiben, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben. Ihre kurze Einführung in die Psychopharmakologie hätte sich die Autorin besser sparen sollen; es handelt sich um eine unkritische Wiedergabe von Informationen der Pharmaindustrie. Der empirische Teil ihrer Arbeit, fast 100 Seiten, ist eine Darstellung von sieben leitfadengestützten, halbstandardisierten qualitativen Einzelinterviews, in denen sich Interviewpartner über vollzogene oder erlittene psychiatrische Zwangsmaßnahmen äußern. Hiernach folgt die Auswertung und Diskussion, die sich unter anderem mit der unterschiedlichen Bewertung von Zwang durch Anwender und Objekte des Zwangs befasst, dem Leiden von Profis, wenn sie wegen rechtlicher Beschränkungen keine Zwangsmaßnahmen vollziehen können, und den Argumenten pro und contra Zwang. Das Buch schließt mit Handlungsempfehlungen für die Forschung, für Betroffene (nutzerkontrollierte Forschung ist für sie offenbar kein Thema) und für psychiatrisch Tätige. Sie empfiehlt letzteren, sich über die Rechtslage informieren und sich auszutauschen, um in Zwangssituationen mehr Handlungssicherheit zu haben. In ihrer unentschiedenen Haltung, die gleichzeitig die einflusslose Position von Sozialarbeitern in der Psychiatrie widerspiegelt, rät sie gleichzeitig, Patienten in Zwangssituationen menschliche Zuwendung und Begleitung anzubieten. Die Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch in sich – Zuwendung bei gleichzeitiger Menschenrechtsverletzung – findet im Buch leider nicht statt. Um die Position von Patienten zu stärken, regt sie an, dass es zukünftig ein Arbeitsfeld für Sozialarbeiter sein könnte, ihr Klientel durch ausgewogene Informationen ergebnisoffen beim Verfassen von Vorausverfügungen zu unterstützen. Voraussetzung dafür, diesen durchaus sinnvollen Vorschlag umzusetzen, wäre für mich allerdings, dass Sozialarbeiter sich der Einseitigkeit ihrer psychiatriegenehmen Informationen über Psychopharmaka und deren Zusammenhang mit der um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verminderte Lebenserwartung von Psychiatriepatienten bewusst würden. Dies könnte möglicherweise zu etwas mehr Parteilichkeit für die wehrlosen Patienten führen – eine generelle Aufgabe der Sozialarbeit, auch in der Psychiatrie. P.S. Für seine 228 Seiten ist das Buch irrwitzig teuer. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 228 Seiten, ISBN 978-3-658-11143-4. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016. € 39.99
Peter Lehmann

Peter Wißmann / Reimer Gronemeyer: Demenz und Zivilgesellschaft – eine Streitschrift
Bemerkenswertes und facettenreiches Plädoyer for ein demenzfreundliches Gemeinwesen, in dem Menschen mit Demenz nicht als aus dem Gemeinwesen ausgeschlossene, dahinvegetierende und nur noch als Lebenshülle gesehene Zielgruppe für Mediziner und Pflegekräfte im Mittelpunkt stehen, sondern als BürgerInnen. Mit einem Vorwort von Peter J. Whitehouse und einem Interview mit Thomas Klie. Kartoniert, 207 Seiten, ISBN 978-3-940529-16-9. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008. € 21.90
Peter Lehmann

Brigitte Woggon: Behandlung mit Psychopharmaka – Aktuell und maßgeschneidert
Übersichtliche Darstellung von Theorie und Praxis der Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka, incl. Fragen der Prüfung von Psychopharmaka, Indikationsstellung, Wirksamkeitstests, Wirkprofile, Interaktionen, Absetzfragen, unerwünschte Wirkungen. Da die Autorin, vormals Psychiaterin in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, vollkommen in ihrem psychopharmakologischen Gedankensystem gefangen ist, geht es in aller Regel nur um pharmakologische Alternativen; Hilfen zur Senkung des Risikos beim Absetzen sind nur wenig vorhanden, bei Neuroleptika komplett Fehlanzeige. Ihre Erfahrungen als Psychiaterin würden in die Beurteilung und Gewichtung der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse einfließen, schreibt sie im Vorwort. Dass sie in den Advisory Boards verschiedener Unternehmen wie zum Beispiel des Schweizer Fluoxetin-Herstellers Eli Lilly sitzt und sich regelmäßig ihre Reisen zu internationalen Kongresse und Symposien von den Pharmamultis bezahlen lässt (nachzulesen bei der Züricher Journalistin Barbara Lukesch), lässt sie dezent unter den Tisch fallen. "Behandlung mit Psychopharmaka, Psychopharmaka und bloß nichts anderes als Psychopharmaka" wäre ein passenderer Titel für das Buch. Kartoniert, 290 Seiten, ISBN 978-3-456-84694-1. Bern: Hans Huber Verlag, 3., aktualisierte Auflage 2009. € 19.95
Peter Lehmann

Wolf Wolfensberger: Der neue Genozid an den Benachteiligten, Alten und Behinderten
Der US-Amerikaner, laut Verlag »der große alte Mann des Kampfes um die Rechte der Menschen mit Behinderung«, beschreibt die vielfältigen direkten und indirekten Methoden des »Totmachens« (Mordens). Diese, zu denen Wolfensberger auch psychiatrische Psychopharmaka zählt, seien nicht nur subtiler und teilweise heimlicher, sondern auch wesentlich perfekter und umfassender als die der Nationalsozialisten. Weshalb Wolfensberger ausgerechnet Dörner, Elektroschock-Lehrer und Verabreicher der genannten Psychopharmaka, das Vorwort schreiben ließ, ist mir schleierhaft. Dörner dankt hier Wolfensberger für sein »Erschrecken« darüber, in welchem Ausmaß auch er und seine Mitarbeiter an den jüngst bekanntgewordenen Morden in seiner (Dörners) Anstalt durch das im Buch beschriebene Tabuisieren und Nicht-wahrhaben-wollen mitwirkten. Schöne Worte, die allerdings nur abwiegeln und langfristig einen Gewöhnungseffekt ausüben werden. Denn mir ist nicht bekannt, dass die genannte Mitwirkung am Totmachen wehrloser Anstaltsinsass(inn)en Geldstrafe oder Rücktritt zur Folge hatte. Dieses Missverhältnis zur allerkonkretesten Praxis ist ein Schwachpunkt in dem ansonsten relativ empfehlenswerten Buch. Relativ, weil sich Wolfensberger auch vehement gegen jedwede Abtreibung wendet und auch bei Schwangerschaften durch Vergewaltigung keine Ausnahme gelten lassen will. Dass andererseits das von ihm gewünschte Abtreibungsverbot abtreibungswillige Frauen wieder in die Hände von »Engelmacher(innen)« zwingen und dies eine weidlich bekannte Form des Totmachens wiederaufleben ließe, ignoriert Wolfensberger was ihm als Nichtgebärendem möglicherweise (zu) leicht fällt. Kartoniert, 135 Seiten, Gütersloh: Verlag Jakob van Hoddis 1991. DM 18.–
Peter Lehmann

Manfred Wolfersdorf / Elmar Etzersdorfer: Suizid und Suizidprävention
Die beiden sich enorm einfühlsam gebenden Autoren haben ein Buch zum Thema "Suizid und Suizidprävention" und es geschafft, das Thema behandlungsbedingte Suizidfaktoren, insbesondere Neuroleptika und Antidepressiva, nahezu unerwähnt zu lassen; nur in einem Satz werden möglicherweise suizidfördernde Wirkungen von Antidepressiva bzw. Depressivität, akinetisches Syndrom, Parkinsonsyndrom, Akathisie und Dysphorie bei Neuroleptika als beteiligte Faktoren der Suizidalität genannt. Konsequenzen wie Warnungen vor diesen Substanzen oder der Vorschlag für Studien zur genaueren Erforschung des Zusammenhangs zwischen Psychopharmakawirkungen und Suizidalität bleiben die Autoren schuldig, Literatur zu diesem Thema lassen sie unerwähnt. Das Interesse an diesem Thema ist gleich Null – kein Wunder, die Finanziers von Suizidpräventionskampagnen sind häufig Pharmamultis, deren Vertreter kritische Stimmen innerhalb von Studien oder Kongressen von vornherein eliminieren. Leider kommt dieses Thema in dem Buch ebenso nicht vor. So muss man konstatieren, dass es zwar die heutigen Mainstreamvorstellungen zum Suizid und zur Suizidprävention der biologischen Psychiatrie zusammenfasst und pharmafirmenkonforme Konzeptionen zum Suizid, umfassend Kriseninterventions- und Präventionsansätze vorstellt, aber durch die unkritische Haltung gegenüber psychiatrischen Psychopharmaka den Eindruck hinterlässt, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen, und mit seinen Psychopharmaka-Empfehlungen eher zur Verschärfung der Suizidgefahr beiträgt. Ärztliche Verantwortung sieht anders aus. Fazit: nicht empfehlenswert. Gebunden, 261 Seiten, 16 Abb., 121 Tab., ISBN 978-3-17-020408-9. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2011. € 39.90
Peter Lehmann

Martin Wollschläger (Hg.): Hirn – Herz – Seele – Schmerz. Psychotherapie zwischen Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften
Der Sammelband enthält 19 teilweise recht anspruchsvolle Beiträge eines Symposiums beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie 2006 in Berlin, das von Martin Wollschläger, einem an der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh arbeitenden Psychologen und Psychotherapeuten, durchgeführt wurde. 17 Männer und zwei Frauen aus den Fachgebieten Psychologie, Philosophie und Medizin sowie ein Schriftsteller diskutierten über die wechselwirkenden Dimensionen: Leib, Seele, Gruppe und Kultur am Beispiel der Psychotherapie im Spannungsfeld zwischen Neuro- und Geisteswissenschaften. Das Buch enthält die ausgearbeiteten Referate. Obwohl der Buchtitel laut Wollschläger auf das Buch "Irren ist menschlich" von Dörner und Plog zurückgehe – ein Buch, das u.a. mit seiner Rechtfertigung von Elektroschocks nicht gerade als kritisch gilt –, stellen die Beiträge in "Hirn – Herz – Seele – Schmerz" dennoch den reduktionistischen Ansatz der herrschenden Psychiatrie und Psychotherapie in Frage, den lebendigen, fühlenden, handelnden und denkenden Menschen biophysikalisch beschreiben, vermessen und verstehen zu können. Von den 19 Beiträgen am besten gefallen hat mir der Artikel des Psychoanalytikers und Psychiaters Wolfgang Leuschner: "Neurowissenschaften und ihre Allmachtsphantasien" über das Kartell aus Medizin, Biologie, Ingenieurswissenschaften, Robotik, militärischer Forschung, medizinischer Geräte- und Informationsindustrie, Neuro-Marketing, Bildproduktions- und Nanotechnologie und chemischer Industrie – mit der Neurowissenschaft als Herzstück des Versuchs, einen neuen, über künstliche zerebrale Mikroprozesse manipulierten und nicht mehr vom Verfall und Tod, von Krankheit und körperlicher Unvollkommenheit bedrohten Menschen zu schaffen. Platz für eine eigenständige Psyche wäre bei einem solchen Produkt der neuen Halbgötter nicht mehr vorhanden. Schade, dass Wollschläger wohl recht haben wird mit seiner Prognose eingangs des Buches, dass das Buch ein Diskussionsforum wohl nur eine Minderheit darstellt, dabei wäre es angesichts der Tatsache, dass wir immer mehr in das Zeitalter der Neurowissenschaften hineinschlittern und kaum ein psychologischer Zusammenhang mehr öffentlich erklärt wird, ohne zur Untermauerung der eigenen Aussagen gleichzeitig mittels bildgebender Verfahren Hirnareale in bunten Farben aufblinken zu lassen, so wichtig, dass sich derzeitige und angehende Meinungsführer mit allen zur Verfügung stehenden Kräften gegen eine Entwicklung richten, die früher oder später auf alle zurückfallen wird. Wenn die Schweizer Psychiaterin Brigitte Woggon 2000 öffentlich erklären konnte: »Alles, was wir fühlen, ist eben Chemie: seelenvoll in den Sonnenuntergang blicken, Liebe, Anziehung, was auch immer – alles sind biochemische Vorgänge, wir haben ein Labor im Kopf«), ohne dass ein allgemeines Gelächter ausbrach, wird die grundlegende verächtliche Haltung gegenüber dem Geschöpf Menschen deutlich. Möge der Sammelband Wollschlägers dazu betragen, dass sich möglichst viele gegen eine solch primitive Weltsicht wenden. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 301 Seiten, 4 Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-87159-073-3. Tübingen: DGVT-Verlag 2008. € 24.–
Peter Lehmann

Yvonne Wübben: Verrückte Sprache – Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts
"In ihrer Verwertung von Patientensprache verfolgt die Psychiatrie somit stets ein zweifaches Ziel: Einerseits geht es ihr darum, Sprache mithilfe der eigenen Verfahren als verrückt auszuweisen, sowie andererseits darum, diese Sprache einer Wissenschaftssprache unterzuordnen." (S. 8; Hervorhebung G.S.) In ihrer lesenswerten Sprachstudie zeichnet Yvonne Wübben die vielfältigen Verflechtungen des psychiatrischen Deutungsanspruches mit dem literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs der Moderne nach, zurückweisend auf die psychiatrische Sprachdiagnostik der "Dementia Praecox" bzw. der "Schizophrenie" im 19. Jahrhundert. "In Ermangelung einer eigenen psychiatrischen Fachterminologie" wird schon um 1870 von Ewald Hecker und anderen Psychiatern zurückgegriffen "auf die Rhetorik und Literatur" (S. 9). "Der als barock degradierten Patientensprache" wird "eine auf Nüchternheit und Objektivität angelegte Wissenschaftssprache" gegenübergesetzt, "die sich am Ideal der reinen Beobachtung orientiert und zur Etablierung der Psychiatrie als klinischer Wissenschaft beitragen soll." (ebd.) Cesare Lombroso legte 1887 mit seinem Werk "Genie und Irrsinn" einen weiteren Grundstein. Hecker, Paul Möbius und viele andere Psychiater mit "philologischer Ader" folgten seinem Aufruf zur Pathologisierung der Sprache deutscher Dichter. Pathographien werden somit "ein Medium, das der innerwissenschaftlichen Positionierung dient und Wissen durch Differenzmarkierungen als neu ausweist" (S. 168). Das ergiebigste Opfer dieser Analysen: Friedrich Hölderlin in seiner zweiten Lebenshälfte, eingeschlossen in den Tübinger Narrenturm. Nun war der arme Hölderlin erstens unglücklich verliebt, zweitens verstarb die Unerreichbare und drittens bescherte ihm seine Wanderung von Bordeaux zurück nach Württemberg nachweislich einige traumatisierende Erlebnisse, die seine spätere geistige Verwirrung erklären könnten. Die Lebensgeschichte aber wird für die eine eigene Definitionsmacht erlangen wollende Psychiatrie zum Beiwerk – diese neue Disziplin der Medizin etabliert nun eine dezidierte Abgrenzung von gesundem und pathologischem Sprechen als Phänomen. Wie und wann diese Anmaßung auf Anklang und Ablehnung stößt in literaturwissenschaftlichen und später avantgardistischen Kreisen der Poetik – hierzu liefert Yvonne Wübben eine materialreiche Darstellung, die bis in die Popliteratur der Gegenwart reicht. Die "Janusköpfigkeit" der psychiatrischen Verhaftung "einer vermeintlichen Sprache des Wahnsinns" hat bis heute nichts an Fragwürdigkeit verloren. Den Anfängen dieser Wissenschaftsgeschichte nachzugehen, erweist sich als produktiv, insbesondere da Wübben auch einen wunden Punkt der radikalen Psychiatriekritik der 1970er-Jahre aufgreift, denn auch "das Material", das die Psychiatriekritik "als Kunst umdeutet, ist bereits vermittelt und durch die Kategorien der psychiatrischen Sprachdiagnostik zugeschnitten." (S. 294) Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, 333 Seiten, ISBN 978-3-86253-023-6. Konstanz: Konstanz University Press 2012. € 39.90
Gaby Sohl

Günter Wulf: Sechs Jahre in Haus F – Eingesperrt, geschlagen, ruhiggestellt. Meine Kindheit in der Psychiatrie
Sechs Wochen nach seiner Geburt im Jahr 1959 wird der kleine Günter seiner Mutter auf Betreiben von deren Mutter und auf Anweisung der Amtsvormundschaft Neumünster (Schleswig-Holstein) heimlich in ein Heim für Kleinkinder verbracht. Günters Mutter hatte bereits zwei Kinder von unterschiedlichen Vätern, seine Großmutter wollte nicht, dass man in der Nachbarschaft schlecht über die Familie redet. Damit Günter bald darauf in ein psychiatrisches Kinderheim abgeschoben werden kann, stuft man ihn kurzerhand als schwachsinnig ein. Im Alter von vier Jahren wird er dort von den "Pflegekräften" fixiert, in Zwangsjacken und Isolierzimmer gesteckt, mit kalten Duschen und Schlägen malträtiert. Mit fünf verabreichen ihm Psychiater Barbiturate und die Neuroleptika Chlorpromazin und Haloperidol, und noch im gleichen Jahr kommt er in die geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrie: Dort werden er und andere wehrlose Kinder dann auch noch von brutalen jungen Männern, die auf derselben Station untergebracht sind, ständig vergewaltigt. Mit bedrückend ruhigen Worten erzählt der Autor sein Schicksal: Wie er und seine Leidensgenossen hilflos der psychiatrischen Gewalt und der seiner nichtpsychiatrischen Peiniger ausgesetzt sind, wie ihnen über viele Jahre niemand glaubt und beisteht, wie er immer wieder versucht zu fliehen oder sich das Leben zu nehmen, wie manche seiner Mitpatienten zu Tode kommen, wie er sich müht, Schulunterricht zu bekommen, wie ein Reformpsychiater als neuer Klinikleiter die Wende in seinem Leben bringt, wie er in ein Kinderheim verlegt wird und dann versucht, eine Lehre zu machen, falschen Freunden und dem Alkohol zu entkommen und seine Mutter aufzuspüren, wie er Kontakte zum Verein ehemaliger Heimkinder bekommt, sein Schicksal öffentlich macht, schließlich 2018 im Plenarsaal des Kieler Landtags gemeinsam mit anderen von der psychiatrischen Menschenverachtung und Verantwortungslosigkeit der Aufsichtsbehörden erzählt. Aktuell, 2020 – so endet das Buch – wartet der Autor immer noch auf eine angemessene finanzielle Entschädigung für all das mit körperlichen und psychischen Dauerschäden einhergehende Unrecht, was ihm Ämter, Psychiater, Psychiatriepfleger und Pharmafirmen und andere antaten. Ein Lehrbuch für Kinder- und Jugendpsychiatrie der anderen Art. Rezension in: SeelenLaute. Taschenbuch, 253 Seiten, ISBN 978-3-404-61699-2. München: Lübbe Verlag 2020. € 10.
Peter Lehmann

Elisabeth Wurtzel: Verdammte schöne Welt. Mein Leben mit der Psycho-Pille
Auf das Buch aufmerksam wurde ich durch eine positive Rezension im Berliner Tagesspiegel. Es zeige das Wahnsystem rückhaltlosen Pillenkonsums, einer mörderisch tickenden Zeitbombe im Herzen einer um jeden Preis gut gelaunten Gesellschaft; die Zeitbombe entspringe in der Regel dort, wo die Gesellschaft aufhöre, sich für die Probleme des Einzelnen zu interessieren und statt dessen vorgefertige Glücksvorstellungen als Lebensinhalte propagiere. Die autobiographische Geschichte der Literaturwissenschaftlerin Wurtzel sei eine düstere Anklageschrift gegen eine bedrohlich heraufdämmernde Krankenentsorgung. Angeprangert werde eine hilflose und stereotyp agierende Psychologie, die aus der Unfähigkeit, Sinntoten Lebensinhalte zu offerieren, ein fadenscheiniges Pillenglück offeriere. Dieser Interpretation kann ich nicht folgen. Wurtzel gehört zur »Generation X«: kaputtes Elternhaus, Sinnkrise, Beeinflussung durch psychopharmakologische Chemikalien aller Art und immer wieder der Versuch, das eigene Leben an der Scheinwelt des Films und der Rock-Musik auszurichten, was notwendigerweise fehlschlägt. Konsequenz: Therapien aller Art (ohne dass sie ernsthaft dargestellt werden), Tranquilizer, Antidepressiva, Lithium, Schlafmittel, Neuroleptika, schließlich Prozac (hierzulande »Fluctin«), der Marktführer unter den Antidepressiva. Jetzt ist sie auch nicht glücklich, spürt aber ihre Depression nicht mehr. Allerdings stört sie, dass in ihrer Heimat USA inzwischen Millionen die »Glückspille« nehmen, dass dadurch der Grund für die Verschreibung, ihre Depression, möglicherweise trivialisiert wird, ist sie doch so stolz darauf, eine richtig schwere, exklusive Krankheit zu haben. An dieser Stelle kommen ein paar kritische Gedanken über die »Prozac-Nation« USA, ich vermute, dies ist Anlass gewesen, in das Buch eine Absage an die Glückspillen-Psychiatrie hineinzuinterpretieren. »Die klinische Depression ist eine Krankheit, die man mit Medikamenten behandeln kann, und wahrscheinlich gibt es keine bessere Alternative« – lautet eine von Wurtzels Weisheiten, eine andere: »Es war (in ihrer Lebensgeschichte, P.L.) so viel Schaden entstanden, dass sehr viel mehr notwendig war als eine Person oder ein Therapeut, ein Medikament oder eine Elektroschockbehandlung – von allem war eine Menge nötig, damit die Splitter meines Lebens wieder zusammengefügt werden konnten.« Die Suche nach Lösungen ende immer bei Prozac, so Wurtzel, auch hier Sprachrohr ihrer geliebten Psychiater(innen), und wenn das meistgebrauchte Adjektiv auf den letzten Buchseiten »wunderbar« ist, denke ich an ein ganz anderes. 353 Seiten, Berlin: Byblos Verlag 1994. DM 38.–
Peter Lehmann

Richard Yates: Ruhestörung. Roman
John Wilder, der Protagonist des Romans, ist Anzeigenverkäufer beim American Scientist, betrügt seine Frau, trinkt, wird stockbesoffen in die Psychiatrie gebracht, muss dort ein paar Tage bleiben, geht hinterher halbherzig zu den Anonymen Alkoholikern, führt sein Leben aber im Prinzip weiter wie zuvor, trinkend und sich selbst etwas vormachend. Er geht den vorgezeichneten Weg – zugrunde an Alkoholismus und fehlender Bereitschaft, sich kritisch mit dem eigenen Leben und damit auseinanderzusetzen, wie es anders gelebt werden könnte, um mehr innere Befriedigung zu erlangen. Davon handelt das Buch. Es ist original 1975 erschienen, stammt aus dem Amerikanischen, die Handlung ist auf Anfang der 1960er-Jahre datiert, laut Klappentext liefert es einen eindringlichen und unvergesslichen Blick in die dunkelsten Winkel der Psyche. Ich fand den Handlungsstrang zwar nachvollziehbar, aber recht langweilig und auch oberflächlich. Vielleicht liegt darin ja gerade die Qualität des Werkes verborgen, das (Roman-)Leben in der Form zu beschreiben, wie es ist. Allerdings ist mir das Eindringliche und Unvergessliche irgendwie entgangen und stellte sich auch nicht ein, nachdem ich mich endlich bis zum Ende durchgequält hatte. Gebunden, 316 Seiten, ISBN 978-3-421-04393-1. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2. Auflage 2010. € 19.95
Peter Lehmann

Josef Zehentbauer: Melancholie – Die traurige Leichtigkeit des Seins
Endlich ist sie da – eine gründlich überarbeitete Neuauflage des 2001 im Kreuz-Verlag erschienenen Buches von Josef Zehentbauer, Arzt und Psychotherapeut, Autor u.a. von »Abenteuer Seele«, »Das Liebe-Prinzip« und »Chemie für die Seele«. Um mit seinen Worten zu sprechen, ist es Ziel dieses Buches, »Melancholikern zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen und die ausgesprochen positiven Aspekte der Melancholie – neu – zu entdecken.« Denn Melancholie ist für ihn »eine wunderbare Charaktereigenschaft, voller Tiefgang, Kreativität und Leidenschaft« und im Sinne der Romantiker »Zugang zum Geheimnis menschlichen Seins«. Um das Phänomen der Melancholie zu ergründen, nimmt uns Zehentbauer mit auf eine kulturgeschichtliche Reise. Auf anschauliche Weise mit Zitaten und Gedichten illustriert, stellt er uns große Melancholiker vor – Philosophen, Maler, Musiker, Schriftsteller. Hierzu ergänzte er die Neuauflage um das Kapitel »Wahnsinn und Genie«. Was wäre wohl aus all den berühmten Persönlichkeiten geworden, hätte man sie als Kranke abgestempelt und mit Psychopharmaka oder gar Elektroschocks behandelt? Mit der Melancholie steht zwangsläufig auch das Thema »Depression« zur Diskussion. Im Kapitel »Bin ich depressiv?« zeigt Zehentbauer Eigenschaften, Grundformen und Ursachen der Depression sowie Wege aus der Depression auf. Allein schon die andere Sehweise, der andere Blick auf Melancholie und Depression stellt eine nicht zu unterschätzende Hilfe dar für melancholische Menschen, aber auch für Betroffene mit der Diagnose »Depression« und deren Angehörige. Abgerundet wird das Buch durch 28 hilfreiche »Übungen zum traurigen Glück« im Anhang – »eine kleine Gebrauchsanweisung dafür, wie man zum Pionier und Forscher der eigenen Seele werden kann.« Alles in allem ein erstaunliches Buch. Für mich ein Selbsthilfe-Buch der besonderen Art – und das zu einem recht erfreulichen Preis. Rezension im BPE-Rundbrief. Taschenbuch, 216 Seiten, ISBN 978-3-925931-45-1. Berlin / Eugene / Shrewsbury: Peter Lehmann Publishing, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2011. € 9.95
Constance Dollwet

Josef Zehentbauer: Chemie für die Seele – Psychopharmaka und alternative Heilmethoden
Licht in der pharmakologischen Geisterbahn. Der Arzt und Psychotherapeut Joseph Zehentbauer stellt in "Chemie für die Seele" die Wirkung von psychopharmakologischen Therapien und alternativen Heilmethoden umfassend dar. Seine Darstellung zeichnet sich durch zwei Besonderheiten aus: Ohne unzulässig zu vereinfachen, bedient er sich einer auch für medizinische Laien gut verständlichen Sprache. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen der Behandlungsmöglichkeiten psychischer Probleme mit Hilfe von Medikamenten geht der Autor ausführlich auf die Gefahren durch unerwünschte Wirkungen dieser Mittel ein. Seine Kritik wird durch Kapitel über die gesellschaftliche Relation von Normal und Verrückt, die Seele des Menschen und die Vorgehensweise der Pharmaindustrie abgerundet. Besonders eingehend erläutert er die Wirkungsweise pflanzlicher, homöopathischer und anderer nichtsynthetischer psychisch wirksamer Arzneien. Auch Exkurse zu legalen und illegalen Glücksdrogen fehlen nicht. Dieses Buch leistet damit, was eigentlich bei jeder ärztlichen Verschreibung von Psychopharmaka selbstverständlich sein sollte: Es klärt umfassend über Möglichkeiten, Gefahren und Alternativen zur verordneten Therapie auf. Der sachliche und einfühlsam reflektive Duktus macht dieses Buch zu einer ebenso angenehmen wie aufklärenden Lektüre. Große Empfehlung. Kartoniert, VIII + 420 Seiten, 11., teilweise aktualisierte Auflage mit einer Ergänzung zu den neuesten Antidepressiva und atypischen Neuroleptika, ISBN 978-3-925931-28-4. Berlin / Eugene, OR (USA) / Shrewsbury (UK): Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, 11., teilweise aktualisierte Auflage 2010. € 21.90
Lucinda Bee

Christian Zimmermann / Peter Wißmann: Auf dem Weg mit Alzheimer – Wie sich mit einer Demenz leben lässt
Mutmachbuch für Betroffene und Angehörige mit der Botschaft: Es gibt ein Leben nach der Diagnose. Das Buch ist ausgesprochen angenehm geschrieben; auch der Ansatz, dass sich der Autor Zimmermann als Experte aus eigener Erfahrung und Betroffenen versteht, jedoch nicht den Anspruch hat, allgemeingültige Ratschläge für andere Menschen formulieren zu können, sollte vielen zu denken geben, die in unreflektierter Weise ihre subjektiven Erfahrungen verallgemeinern. Mit Hilfe seines Schreibassistenten Peter Wißmann, dem Geschäftsführer der Demenz Support Stuttgart gGmbH, klärt der Autor über die Gehirnalterung auf, die man Alzheimer nennt, warnt vor falschen Hoffnungen, die die Pharmaindustrie mit ihrem Profitstreben macht, beschreibt den Umgang mit den mit Alzheimer verbundenen Problemen und gibt Tipps und Anregungen für alle, die mit Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leben müssen. Das Buch nimmt irrationale Ängste und ist allen, die (nicht) damit rechnen, früher oder später von Gehirnalterung, Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses und anderen Symptomen betroffen zu sein, ans Herz gelegt. Kartoniert, 150 Seiten, ISBN 978-3-940529-90-9. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2011. € 16.90
Peter Lehmann

Martin Zinkler / Klaus Laupichler / Margret Osterfeld (Hg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen – Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie
Wie lässt sich psychiatrische Gewalt vermeiden? Mit diesem Thema beschäftigen sich die 15 Beiträge im Buch (wenn auch nicht ausnahmslos alle). Einige Beiträge möchte ich einzeln erwähnen.
Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention, wendet sich mit einer Vielzahl kritischer Argumente gegen das Konzept der krankheitsbedingten Einwilligungsunfähigkeit und schürt damit die Hoffnung, dass er zukünftig auch kritischen Psychiatriebetroffenen bei seinen Veranstaltungen ein über die passive Teilnahme hinausgehendes Podium bietet, seine Argumente zu befeuern.
Wiebke Schneider, erste stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, und Wiebke Schubert, zweite Vorsitzende des "Landesverband NRW der Angehörigen psychisch Kranker", betonen die oft für Angehörige stattfindende Entlastung, wenn ihre störenden Nächsten gewaltsam mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Zudem sei Zwangsbehandlung möglicherweise menschlicher als die Nichtverabreichung von Psychopharmaka. Dass die um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verminderte Lebenserwartung psychiatrischer Patienten mit ernsten psychiatrischen Diagnosen, ihre gesundheitliche Angeschlagenheit schon vor der Behandlung und nicht vorhandene Trauma-Therapie für traumatisierte Patienten für sie kein Thema ist, verwundert nicht; eher dass solch ein Beitrag, der sich gegen die prinzipielle Unteilbarkeit des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit, gegen das Menschenrecht auf Selbstbestimmung und gegen die Gleichheit der Menschen vor dem Recht wendet, den Weg ins Buch gefunden hat.
Als Zeichen seiner Wertschätzung – er hat das Buch wesentlich initiiert – ist Klaus Laupichlers unvollendete Biografie im Buch erhalten – mit dem editorischen Hinweis, er habe sich mit seiner Position unter Psychiatriebetroffenen immer wieder unbeliebt gemacht. Hier wäre ein Hinweis angebracht, dass er mit Ausnahme weniger dogmatischer Kreise viele Freunde hatte und allgemein sehr beliebt war. Sein früher Tod ist tragisch, sein Beitrag spiegelt das abrupte Ende seines Lebens. Schade, dass die beiden hinterbliebenen Herausgeber seine zwischenzeitlich im BPE-Mitgliederrundbrief publizierte Reflexion psychiatrischen Zwangs seinem Fragment nicht hinzufügten, dies hätte seinen Beitrag noch abgerundeter gemacht für dieses Buch. (Geäußert hatte sich Klaus Laupichler nicht zur Zwangsbehandlung, lediglich zur Zwangsunterbringung: natürlich sei er gegen Gewalt in der Psychiatrie. Ihm selbst habe die Zwangsunterbringung das Leben gerettet, mit der in seinem Fall freundlichen Behandlung sei eine Wende in seinem Leben eingetreten, zuvor sei es durch Obdachlosigkeit, Mangelernährung, Alkoholmissbrauch, Nikotinabhängigkeit, Hoffnungslosigkeit und Aggressivität bestimmt gewesen. Zwang könne deshalb manchmal auch hilfreich sein, so seine persönliche Erfahrung.) Lesenswert ist sein biographisches Fragment allemal, und es macht nach wie vor traurig und wütend, auf welch "mutige" Art dieser Mann vom damaligen Vorstand aus dem BPE ausgeschlossen wurde.
Tilman Steinert, Psychiater aus Ravensburg, informiert über aktuelle Studien zu Zwang und Zwangsvermeidung aus psychiatrischer Sicht, und anschließend fasst der Rechtsanwalt Rolf Marschner kompakt und gehaltvoll die aktuelle Gesetzeslage und Rechtsprechung zusammen. Allerdings werden keinerlei Urteile genannt, sondern lediglich die Heftnummern der – ebenfalls im Psychiatrie-Verlag erscheinenden – Zeitschrift Recht & Psychiatrie. Offenbar soll man die Hefte kaufen, um die Urteile nachlesen zu können: eine seltsame Form von Produktplatzierung des Psychiatrie-Verlags, die man in anderen Verlagen so nicht findet.
Den längsten Artikel verfasste der Psychiater Volkmar Aderhold, und zwar über Netzwerkgespräche im Offenen Dialog. Er zeigt anhand des finnischen Beispiels und konkreter Abläufe, dass eine systemische, dialogisch orientierte und Zwangsmaßnahmen in erheblichem Umfang vermeidende Psychiatrie machbar ist und wie diese konkret aussieht.
Ein wieder unangenehmer Beitrag handelt von Vorausverfügungen. Geschrieben hat ihn Raoul Borbé, Psychiater von Beruf. Ihm geht es in der Hauptsache nicht um die Vermeidung psychiatrischer Menschenrechtsverletzungen, sondern um leicht verfügbare vorauseilende Zustimmungen zu einer späteren Psychopharmaka-Verabreichung – Zustimmung zu Zwangsbehandlungen im Voraus quasi als Präventionsstrategie von Gewalt. Entsprechend wirbt der Psychiater für Behandlungsvereinbarungen, die – so seine Worte – generell eine höhere Sicherheit der Akzeptanz böten, ungeachtet deren eher nicht vorhandenen Rechtswirksamkeit. Dass er in seiner Internet-Formularübersicht am Schluss des Kapitels nur pro-psychiatrische Quellen nennt, passt zu seiner Haltung.
Im Schlusskapitel entwickelt Martin Zinkler, Chefarzt der psychiatrischen Klinik Heidenheim, die Vision einer gewaltfreien Psychiatrie. Seine Ausgangspunkte sind John Conolly, der 1839 in einem Londoner Irrenhaus alle mechanischen Zwangsmaßnahmen abschaffte, Franco Basaglia mit dem von ihm initiierten Gesetz 180 zur Abschaffung aller psychiatrischen Anstalten in Italien von 1978 sowie der UN-Sonderberichterstatter über Folter und andere unmenschliche und entwürdigende Behandlungen, Juan E. Mendéz, der 2013 ein absolutes Verbot von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie für unverzichtbar erklärte. Psychiatrischen Kliniken hält Martin Zinkler das Beispiel Herne vor die Augen, eine Klinik mit durchweg offenen Stationen und einer Rate von weniger als 1 Prozent Zwangsanwendungen bei allen Behandlungen; möglich aufgrund Patientensprechern, reformierter Organisationsstrukturen, Wertschätzung der Patienten und Offenheit gegenüber noch vorhandenen Unzulänglichkeiten. Wesentlich für Martin Zinkler ist die Verbindung menschenrechtlicher Grundsätze mit dem Erfahrungswissen von Menschen, sowohl von Betroffenen als auch reformorientierten professionell Tätigen, ebenso das unermüdliche Verstehenwollen dessen, was zunächst unverständlich erscheine. Mir käme es in dem Zusammenhang nicht einmal so sehr auf das unbedingte Verstandenwerden an, denn – so Kerstin Kempker 1991 in ihrem Buch "Teure Verständnislosigkeit. Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie" – das Verrückte, das Unverstandene will als teures Gut nicht um jeden Preis und von jedermann verstanden sein. Respekt auch und gerade vor dem Unverstandenen wäre hier die Forderung, wobei nicht gesagt sein soll, dass die Herausgeber auch nur ansatzweise den Eindruck vermitteln, diese Position nicht zu teilen. Da aber auch die Verständnislosigkeit ihren Preis hat und so manch ein Betroffener sie mit Körperverletzung, Entwürdigung, Traumatisierung oder gar dem Tod bezahlt, kann man nur hoffen, dass sich viele von Martin Zinklers und Margret Osterfelds Kollegen die überwiegend positiven Buchbeiträge zu Herzen nehmen, in sich gehen und psychiatrischer Gewalt nicht nur den Worten nach abschwören. Apropo weitere Beiträge: Hierzu zählen Themen wie die Verallgemeinerbarkeit von Patientenerfahrungen ("Wir-Wissen"), EX-IN, tiergestützte Therapie, Entgeltsystem, Aggressionsmanagement, Deeskalationsstrategien u.v.m., kurzum eigentlich alles, was in der derzeitigen Diskussion um Zwangsreduzierung und -vermeidung eine Rolle spielt.
Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 254 Seiten, Vorwort von Dorothea Buck, ISBN 978-3-88414-632-3. Bonn: Psychiatrie Verlag 2016. € 29.95
Peter Lehmann

Rahel Zurbrügg / Christian Burr / Peter Briggeler / Elsy B. Moser: Sexualität und psychische Gesundheit – Ein Manual für die Einzel- und Gruppenarbeit mit Betroffenen und Fachpersonen
Rahel Zurbrügg (Psychiatriefachpflegerin, und Sexualpädagogin), Christian Burr (Psychiatriepflegeexperte), Peter Briggeler (Sozialarbeiter und Coach bei der Aids Hilfe im Bereich Sexualität) und Elsy B. Moser (Expertin aus Erfahrung und EX-INlerin), allesamt aus der Schweiz, haben eine Arbeitshilfe für psychiatrische Weiterbildungen sowie Workshops mit Betroffenen verfasst. Damit können Sexualprobleme, die mit psychischen Probleme verbunden sein können, leichter angesprochen werden. Das Buch soll Profis ("Fachpersonen", wie sich Profis in der Schweiz gerne voller Stolz bezeichnen) und Betroffenen Hemmungen nehmen, über das Thema Sexualität zu reden und alles Weitere, was damit verbunden ist: sei es HIV, Partnersuche, Verhütung, Rückzugsmöglichkeiten in psychiatrischen Einrichtungen, Sexualprobleme u.v.m. Auch über Sexualprobleme, die als Folge der Verabreichung von Psychopharmaka auftreten können, und wie diese trotz Weitereinnahme der Substanzen und trotz Weiterertragen der psychopharmakabedingten Hormonveränderungen erträglicher gemacht werden können (darunter der zweifelhafte Ratschlag, seine Psychopharmaka erst nach Vollzug des Sexualakts zu schlucken – als gäbe es nicht so etwas wie lange Wirkdauern und Halbwertzeiten). Das Thema der Prolaktinerhöhung wird leider ausgespart. Gemeint ist die erhöhte Konzentration des Hormons Prolaktin, die für die Sexualstörungen unter Psychopharmaka verantwortlich ist und zu Geschwulstbildungen in den Brustdrüsen und der Hirnanhangdrüse führen kann. Dieser Mangel im Buch ist ebenso wenig nachvollziehbar wie sein exorbitanter Preis. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 144 Seiten, ISBN 978-3-88414-628-6. Köln: Psychiatrie Verlag 2017. € 29.95
Peter Lehmann


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