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Uta Wehde

Das Weglaufhaus – Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene


Rezensionen

Heiner Keupp, München

in: Psychologische LiteraturUmschau – Kritische Rezensionszeitschrift für Psychologie, 2. Jg. (1992), Heft 1, S. 7-10

Radikale Parteilichkeit für Psychiatrie-Betroffene

  1. Uta Wehde: Das Weglaufhaus – Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene

  2. Kerstin Kempker: Teure Verständnislosigkeit

Verstummt sind sie noch nicht, die antipsychiatrischen Stimmen, aber sie sind leiser geworden. Eine Stimme jedoch ist deutlich vernehmbar: Der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und Peter Lehmann (die beide aus der Irrenoffensive hervorgegangen sind). Und diese Stimme hat sich nun auch einen bemerkenswerten Verlag [Pfeil Richtigstellung] zugelegt, den Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag. Das erste Buch »Der chemische Knebel« von Peter Lehmann wurde gleich zu einem großen Erfolg. Jetzt sind zwei weitere Bücher in seinem Verlag erschienen. Die Antipsychiatrie wird mit ihnen vielstimmiger.

zu a) Uta Wehde hat mit ihrem Buch eine der frühen Forderungen der Irrenoffensive aufgegriffen: Das »Weglaufhaus« als alternative Institution für Psychiatrie-Betroffene, die sich dem Zugriff oder der »fürsorglichen Belagerung« durch psychiatrische Institutionen entziehen wollen. Die Autorin ist aktives Mitglied der Weglaufhaus-Projektgruppe, die der »Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt« gebildet hat, um selbst eine solche Alternative für Psychiatrie-Betroffene in Berlin aufzubauen. Uta Wehde ist während ihres Psychologiestudiums auf der Suche nach Alternativen zur Psychiatrie zu dieser Projektgruppe gestoßen. Der Selbstmord ihres Bruders während psychiatrischer Behandlung gab den Anstoß für diese Suche.

Das Buch von Uta Wehde verfolgt zwei Ziele: Zum einen wird die Notwendigkeit von alternativen Institutionen für Psychiatrie-Betroffene und das Konzept des Weglaufhauses dargestellt und begründet, zum anderen werden Erfahrungen aus Holland kritisch evaluiert.

Uta Wehde geht von der Annahme aus, dass im psychosozialen System oder psychiatrischen Netz die Bedürfnisse der Betroffenen keinen zentralen Orientierungspunkt bilden. Die ExpertInnen verschiedener fachlicher Provenienz formulierenden Bedarf an fachlicher Hilfe, die natürlich im »wohlverstandenen Interesse« der Betroffenen sei und gerade deshalb auch gegen den Willen der Betroffenen zur Anwendung kommen kann. Das am medizinischen Modell orientierte Denken in der Psychiatrie wird dafür verantwortlich gemacht, dass die Bedürfnisse der Betroffenen im Zweifelsfall übergangen werden, weil sie ja als Ausdruck ihrer »Verrücktheit« interpretiert werden können. Das theoretische und praktische Inventar des psychosozialen Expertensystems wird jeweils mit exemplarischen Sichtweisen von Betroffenen konfrontiert. Selbst wenn deren Stimmen nicht ohne weiteres als repräsentative Äußerungen des durchschnittlichen Psychiatrie-Betroffenen gewertet werden können, zeigen sie doch eindrucksvoll, dass die professionelle Unterstellung, »zum Wohle« der Betroffenen zu handeln, ein höchst fragwürdiges Konstrukt darstellt.

Als alternative Orientierung zu diesem expertInnendominierten Ansatz schlägt Uta Wehde das Konzept der »NutzerInnenkontrolle« vor:

»Eine radikale Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen bei einer qualitativen Umgestaltung des psychosozialen Systems ist unabdingbar. Das Problem sozialer Kontrolle im Fürsorgebereich und besonders im Bereich Psychiatrie kann nicht gelöst werden, wenn nicht Möglichkeiten für eine Kontrolle durch die ›NutzerInnen‹ geschaffen werden... letztlich können nur die Betroffenen selbst, als ›Nutzer‹, entscheiden, was sie von den Angeboten der Professionellen halten und welche sie als hilfreich erleben« (S. 19).

Das Weglaufhaus war für die Irrenoffensive eine exemplarische Realisierung dieser Forderung nach Betroffenenkontrolle. Der Verweis auf die Existenz solcher alternativer Institutionen in Holland war die Antwort auf den Vorwurf des Utopismus. Es ist eine wichtige Etappe in der Diskussion um Weglaufhäuser, dass Uta Wehde sich die holländische Realität selbst angeschaut hat und mit diesem Buch das Ergebnis ihrer kritischen Evaluation vorlegt. Die kritische Realitätsprüfung hat keineswegs die Forderung nach einem Weglaufhaus unterminiert, sondern sie differenziert und zur Entwicklung von institutionellen Anforderungsprofilen geführt. Die Grundpfeiler der Weglaufhäuser werden in der Trias »Existenzraum«, »Freiraum« und »Unterstützung« benannt.

Für Uta Wehde zeigen die holländischen Beispiele, dass Weglaufhäuser auf der Basis rein ehrenamtlicher Tätigkeit nicht funktionieren können oder nur um den Preis, dass sich das Spektrum der Betroffenen, die unter solchen Bedingungen den Weg zu einem selbständigen Leben gehen, sehr einschränkt. Gerade für diejenigen, die sich mit massiven psychosozialen Problemen auseinanderzusetzen haben, wird das zuverlässige Unterstützungspotential zu gering:

»Da viele Betroffene, die ins Weglaufhaus kommen, nicht nur ein Bedürfnis nach einem Zimmer und einer lebenspraktischen Hilfestellung durch die MitarbeiterInnen haben, sondern auch ein Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung und nach Unterstützung bei emotionalen Problemen, ist die Gruppe von Betroffenen sehr klein, für die das Weglaufhaus ... unter den derzeitigen Bedingungen den richtigen Ort darstellt« (S. 128)

Die Folge dieser unzureichenden Ressourcen ist eine hohe Fluktuation und die resignierte Rückkehr in psychiatrische Institutionen. Wenn Uta Wehde dann auch noch betont, welch große Bedeutung das soziale Netzwerk für eine positive Lebensperspektive der Betroffenen hat, dann ist auf einmal gar nicht mehr so einsichtig, warum eine so klare Grenzziehung zu sonstigen sozial-psychiatrischen Institutionen auf Reformniveau vorgenommen wird.

Ein zentrales Unterscheidungskriterium ist die Stellung zu Psychopharmaka. Für die Autorin ist die Arbeit in einer alternativen Institution unvereinbar mit Psychopharmaka. Ein zweiter Differenzpunkt wird von der Autorin als »kritisches Bewusstsein« bezeichnet – ein nicht gerade einfach zu konkretisierendes Kriterium. Zumindest meint es die Erkenntnis, dass die Menschen, die vor den bestehenden psychiatrischen Einrichtungen davonlaufen, dafür »gute Gründe« haben, und dass sie am Aufbau und der Arbeit alternativer psychosozialer Institutionen beteiligt sein müssen. Dass diese Forderungen politisch quer liegen, zeigt der Anhang des Buches: Hier wird die Geschichte des Weglaufhausprojektes in Berlin ausführlich dokumentiert. Es ist finanziell noch immer nicht gesichert. Das Buch von Uta Wehde imponiert mir durch seine Klarheit der Sprache und der Gedankenführung. Es liefert nützliche Informationen über Idee und Wirklichkeit der Weglaufhäuser. Es ist pragmatisch und radikal zugleich.

zu b) ......

Richtigstellung: Die Verlagsgründung entstand nicht aus der genannten Betroffeneninitiative, sondern war ein individueller Schritt in Richtung geistiger und ökonomischer Freiheit und Unabhängigkeit. (P.L.) Pfeil

Benjamin Sage

in den FAPI-Nachrichten, 19. März 2007

Einfach abhauen

Dieses Buch bringt einen zum Nachdenken darüber, wie eine echte Alternative zur Psychiatrie aussehen müsste. Denn die wenigen mutigen Menschen, die es schaffen, sich aus dem immer feiner gesponnenen Netz psychiatrischer Kontrolle zu befreien, haben oft keinen Ort, an dem sie Schutz und Aufnahme finden. Uta Wehdes Plädoyer für einen psychopharmakafreien und nutzerkontrollierten Hilfs- und Schutzraum ist wegweisend.

Sophie Blau

in den FAPI-Nachrichten, 23. November 2002

Weglaufen und ein alternatives Leben finden

"In der DDR kam der erste Hoffnungsschimmer der Freiheit, als ein paar mutige Menschen tatsächlich wegliefen. Uta Wehde zeigt uns, dass dies auch im Bereich der Psychiatrie möglich ist und dass die Mauern dieser maroden Institution ebenfalls eingerissen werden können", schreibt Jeffrey M. Masson – der ehemalige Leiter des Sigmund Freud Archivs – in seinem Geleitwort zu dieser kritischen Recherche.

Obwohl die Reform der Anstaltspsychiatrie in Deutschland gern in Sonntagsreden gelobt wird, fehlt es bis heute weitgehend an Institutionen, die eine echte Alternative zur Psychiatrie und ihren Zwangsmethoden darstellen könnten. Uta Wehde hat die bekannten Alternativen kritisch unter die Lupe genommen und die Befunde für die Konzeption des Berliner Weglaufhauses nutzbar gemacht. Das sind namentlich die kalifornische (!) Soteria von Loren Mosher, das Diabasis-Projekt von John Perry und die niederländischen Weglaufhäuser. Dabei stehen Letztere im Zentrum ihrer Untersuchung. Die mit wissenschaftlicher Genauigkeit geführte Analyse der Praxis in den Niederlanden fällt ziemlich bedenklich aus. Der oft kritiklose Umgang mit Psychopharmaka hat Uta Wehde besonders gestört. Ihre Vorort-Recherche in Holland zeigt, dass Psychopharmaka die Lebensqualität der vormals psychiatrisierten Menschen oft entscheidend vermindert. Sie sind nicht selten dafür verantwortlich, wenn die Weggelaufenen nicht in ein Leben außerhalb sozialer Hilfssysteme zurückfinden. Die liberale Institution wird so schnell zur Scheinalternative.

Im Berliner Weglaufhaus – an dessen politischer Durchsetzung die Autorin wesentlich beteiligt war – herrscht in der Konsequenz eine äußerst kritische Einstellung zu diesen Präparaten vor. Am Schluss gibt Uta Wehde nicht nur eine Übersicht über die Konzeption des Berliner Weglaufhauses, sondern dokumentiert auch die Geschichte seiner politischen Durchsetzung. Dieses Buch ist sicherlich keine leichte Gutenachtlektüre. Eine große Empfehlung jedoch für alle, die sich ernsthaft Gedanken über Alternativen zu den Zwangsmechanismen der herrschenden psychiatrischen Praxis machen wollen.

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