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des Antipsychiatrieverlags
in: Brückenschlag
13 ("Hilflose Gewalt Gewalttätige Psychiatrie?"), Neumünster:
Paranus Verlag Die Brücke 1997, S. 168-178 /
PDF
Peter
Lehmann
Aspekte psychiatrischer Gewalt und notwendige Gegenstrategien
Von der Vielzahl psychiatrischer Rechtsverletzungen, die als
bekannt vorausgesetzt werden können, soll hier die in der Psychiatrie
grundsätzlich unterlassene ausreichende Aufklärung über Behandlungsrisiken
und -schäden im Vordergrund stehen. Damit ist psychiatrische Behandlung
im Regelfall als strafbare Körperverletzung zu werten. Gegenmaßnahmen
zum Schutz der Betroffenen sind notwendig.
Unterlassene Aufklärung als strukturelles Problem
Eine 1995 vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE)
durchgeführte Umfrage unter seinen Mitgliedern zeigte, dass die
Aufklärungspraxis die beschriebene Situation widerspiegelt. über
100 Psychiatriebetroffene hatten die Fragebögen ausgefüllt:
"Auf die Frage, ob die Ärzte/Ärztinnen die Leidenden
über Risiken und Nebenwirkungen von Behandlungsmaßnahmen
vollständig informiert hätten, wurde nicht einmal mit ja
geantwortet. (...) Die nächste Frage betraf die Aufklärung über
Behandlungsalternativen. Nur fünf von 100 Befragten wurden aufgeklärt,
nur ein einziger schrieb von anderen Medikamenten,
anderen Kliniken, dass ihm geraten worden sei, sich
einen Therapeuten zu suchen, und dass er Kontakt zu Selbsthilfegruppen
aufnehmen solle. Nahezu alle hätten sich gerne an eine Beschwerdestelle
oder einen Patientenfürsprecher gewandt." (Peeck / von Seckendorff
/ Heinecke 1995, S. 31)
Neben der Beschwerde darüber, dass auf die ursächlich
zur Psychiatrisierung führenden Probleme nicht eingegangen
wurde und dass die Betroffenen demütigend behandelt wurden,
stand bei vielen die Klage über die Behandlung selbst im
Vordergrund: sie habe geschadet und sei zudem ohne rechtswirksame
Zustimmung durchgeführt worden.
"Ein Aufklärungskonzept gehört offensichtlich nicht zum
psychiatrischen Alltag", äußerte 1992 die Psychologin
Lilo Süllwold aus Frankfurt/Main. Nicht nur bei Forschungen mit
neuen chemischen Mitteln erscheint es ÄrztInnen und Psychiatern
"unethisch, die Angst von Patienten durch detaillierte Information
über mögliche Unannehmlichkeiten oder Komplikationen zu vermehren".
Die rechtliche Brisanz ist den Behandlern durchaus bewusst. Hanfried
Helmchen, ehemaliger Chef der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie
und Nervenheilkunde, publizierte Vorschläge, beispielsweise bei
der Verordnung von Neuroleptika über das Risiko einer tardiven
Dyskinesie drei Monate nach Beginn der Verabreichung zu informieren
oder nach einem Jahr oder zum Zeitpunkt ihres Auftretens. Bei
der tardiven Dyskinesie handelt es sich um eine veitstanzförmige
oder durch Krämpfe gekennzeichnete Muskelerkrankung, die bei fortgesetzter
Neuroleptikaverabreichung häufig auftritt, nicht behandelbar ist
und mit der Verkürzung der Lebenserwartung einhergeht. Helmchen
kannte die Scheu seiner Kollegenschaft vor einer ordnungsgemäßen
Aufklärung über Behandlungsrisiken und -schäden:
"Vermutlich wäre die Ablehnungsrate sehr hoch,
wenn alle akut schizophrenen Patienten über dieses Nebenwirkungsrisiko
vor Beginn einer notwendigen neuroleptischen Behandlung informiert
würden."
Weder zu Beginn noch im Verlauf der Anstaltsunterbringung werden
die Betroffenen im erforderlichen Ausmaß aufgeklärt. Dies
trifft besonders auf Neuroleptika zu, da diese eine kaum überschaubare
Vielfalt gefährlicher und schädlicher Wirkungen aufweisen. Michael
Linden, wie Helmchen von der Berliner Universitätsanstalt, berichtete
in seinem Artikel "Informationen und Einschätzungen von Patienten
über Nebenwirkungen von Neuroleptika" von Befragungen, die
am Tag der jeweiligen Anstaltsentlassung durchgeführt wurden.
Danach kennen die Behandelten die Risiken und Gefahren, die die
Verabreichung der psychiatrischen Psychopharmaka mit sich bringt,
nur unzureichend. Beispielsweise nur 6% der Befragten wussten
etwas von vegetativen Wirkungen.
Dem immer wieder vorgebrachten Einwurf, die Formulierung von
eigenen Rechten zerstöre mögliche Vertrauensbeziehungen zwischen
medizinisch-psychiatrisch Tätigen und Behandelten, ist entgegenzuhalten,
dass nur dann ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entstehen kann,
wenn letztere ihre Rechtspositionen respektiert wissen, insbesondere
ihr verfassungsrechtlich geschütztes Selbstbestimmungsrecht. Die
Frage nach dem Sinn eines Vertrauensverhältnisses zu Psychiatern
kann allerdings erst angegangen werden, wenn diese Berufsgruppe
sich dem Problem gestellt hat, dass sie als naturwissenschaftliche
Disziplin kaum in der Lage sein dürfte, psychische Probleme sozialer
Natur lösen zu können (Kempker 1991).
Wie, wann und worüber muss aufgeklärt werden?
"Nach heute allgemeiner Meinung und ständiger Rechtsprechung
ist die auf einer ärztlichen Vollaufklärung basierende Einwilligung
des Patienten unentbehrliche Voraussetzung für jede ärztliche
Behandlung und jeden Heileingriff. Eine Einwilligung ist nur wirksam,
wenn der Patient darüber informiert ist, worin er einwilligt.
Man spricht insoweit von informierter Einwilligung
(informed consent)."
Mit diesen eindeutigen Worten erläuterte der Kölner Jurist Wilhelm
Uhlenbruck die grundsätzlichen Voraussetzungen einer rechtswirksamen
Aufklärung. In eine Behandlung kann nur rechtswirksam eingewilligt
werden, wenn zuvor ausreichend aufgeklärt wurde. Nach dem Gesetz
sind es die Betroffenen, die, soweit sie einsichtsfähig sind,
die Entscheidung über eine angetragene psychiatrische Anwendung
zu treffen haben. Die von den Staatsregierungen anerkannten und
unterzeichneten Resolutionen und Beschlüsse zu den Rechten psychisch
Kranker, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen
am 17. Dezember 1991 verabschiedete, sind auch hierzulande rechtlich
bindend. Auch in den Psychisch-Kranken-Gesetzen der
Bundesländer ist die Aufklärungspflicht enthalten. Im Sächsischen
Gesetz über die Hilfen und die Unterbringung bei psychischen Krankheiten
beispielsweise heißt es in § 21, Abs. 2 Satz 2:
"Der Patient ist über die erforderlichen diagnostischen
Verfahren und die Behandlung sowie die damit verbundenen Risiken
umfassend aufzuklären."
Allgemein, so der Rechtsanwalt Karl-Otto Bergmann und seine Kollegin
Gabriela Schwarz-Schilling in einem Ratgeber zum Medizinrecht,
"... gibt es kein ärztliches Behandlungsrecht.
Ein solches Recht kann auch nicht vertraglich vereinbart werden.
In Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechtes übt der Patient
ein Direktionsrecht aus gegenüber seinem Arzt. Bevor ein Arzt
die Behandlung beginnt, hat er sich über den Willen seines Patienten
beim bewusstlosen, sterbenden oder seiner geistigen Fähigkeiten
nicht mächtigen Patienten seines mutmaßlichen Willens
zu versichern. Selbst im Falle einer klaren medizinischen Indikation
für eine Behandlung oder einen Eingriff entscheidet nicht diese
Indikation, sondern allein der Wille des Patienten. (...) Grundlage
der ärztlichen Aufklärungspflicht ist die Feststellung, dass ein
Patient nicht Objekt, sondern Subjekt der Behandlung ist."
Da die Psychiatrie der Medizin zugerechnet wird, können Menschen
mit psychiatrischen Diagnosen für sich die Anwendung des Medizinrechts
reklamieren. "Behandeln ohne Aufklärung ist Körperverletzung",
warnten der Jurist Alexander Ehlers und der Arzt Christian Diercks
in der Medizinerzeitschrift Selecta:
"Der Hinweis auf den Beipackzettel allein ist nicht
ausreichend. Viele Ärzte verweisen nur auf den Beipackzettel.
Die Rechtsprechung qualifiziert dies allerdings als einen Verstoß
gegen die ärztliche Aufklärungspflicht."
Jeder Aufklärungsmangel, sei er durch unterlassene, unzureichende
oder verspätete Aufklärung entstanden, führt zur Rechtsunwirksamkeit
einer Einwilligung und damit unmittelbar zur Rechtswidrigkeit
der Behandlungsmaßnahme.
Die Aufklärung hat zu einem Zeitpunkt zu erfolgen, an dem die
Betroffenen physisch und psychisch noch in der Lage sind, sich
frei zu entscheiden und eventuell mit FreundInnen, Angehörigen
oder Fachleuten des Vertrauens zu besprechen. Dies dürfte beispielsweise
nicht der Fall sein, wenn der Psychiater die Spritze zum Einstich
in den Sitzmuskel auf- und die Pflegekraft dem oder
der Betroffenen den Slip bereits heruntergezogen hat oder ein
Ja durch eine angedrohte Fixierung oder Entmündigung (Betreuung)
erpresst wird. Die Betroffenen seien über die psychiatrische Diagnose,
den Zweck der Behandlung, deren Dauer und den zu erwartenden Nutzen
sowie mögliche behandlungsbedingte Schmerzen und Beschwerden ebenso
aufzuklären wie über das Recht zum vorzeitigen Behandlungsabbruch,
so das Protokoll der 75. Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Druck und Nötigung seien unzulässig und machten die Zustimmung
unwirksam:
"Eine Einwilligung in Kenntnis der Sachlage bezeichnet
eine Einwilligung, die frei und nicht aufgrund von Drohungen oder
ungebührlicher Überredung erteilt wird (...). Ein Patient kann
verlangen, dass während des Einwilligungsverfahrens eine oder
mehrere Personen seiner Wahl zugegen sind. (...) Ein Patient darf
niemals zum Verzicht auf sein Recht aufgefordert oder bewogen
werden, in Kenntnis der Sachlage seine Einwilligung zu erteilen.
Will ein Patient von sich aus auf dieses Recht verzichten, so
ist ihm zu erklären, dass eine Behandlung ohne Einwilligung in
Kenntnis der Sachlage nicht stattfinden kann."
Die Betroffenen müssen über den Verlauf der Behandlung aufgeklärt
sein, und zwar von Medizinern. Sie müssen die Natur des Eingriffs
in ihren wesentlichen Zügen erkannt, die häufigsten und typischen
Risiken mit den möglichen Vorteilen verglichen haben. Wenigstens
in groben Zügen muss über die mit einem Eingriff verbundenen Gefahren
informiert werden:
"Das sind alle denkbaren, dauernden oder auch vorübergehenden
Nebenfolgen, die sich auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt
und bei fehlerfreier Durchführung des Eingriffs nicht mit absoluter
Sicherheit ausschließen lassen."
In der Münchener Medizinischen Wochenschrift erläuterte
eine Gruppe von Psychiatern und Juristen, wann im bundesdeutschen
Recht von einer mutmaßlichen Zustimmung des Patienten
ausgegangen werden darf:
"Ist (...) eine Verständigung mit ihm über seine
Behandlungsbedürftigkeit möglich, so ist ohne seine Einwilligung
keine Behandlung erlaubt. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn
der Patient vorübergehend bewusstlos oder in einem Schockzustand
ist und deswegen keine Einwilligung erteilen kann. In diesem Fall
kann vom Arzt für unaufschiebbare, dringendst notwendige Maßnahmen
von einer mutmaßlichen Einwilligung ausgegangen werden,
die eine Behandlung rechtfertigt."
Notwendig zur Verständigung über die behauptete Behandlungsbedürftigkeit
sind die Fähigkeit zur natürlichen Willensäußerung
und die Einsichtsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit, zwischen
dem behaupteten Nutzen und den möglichen unerwünschten
Folgen abzuwägen. Der Wille bezüglich des eigenen Körpers,
der eigenen Persönlichkeit und der persönlichen Freiheit
ist auch dann zu beachten, wenn z.B. aufgrund der Einrichtung
einer Betreuung andere Personen für das Wohl der Betroffenen
zu sorgen haben (Personensorge). Die Rechtsgüter, über
die verfügt werden soll, sind höchstpersönlich;
die Entscheidung insoweit steht allein den Betroffenen zu, und
sie kann ihnen nicht aus der Hand genommen werden mit der bloßen
Begründung, sie seien zivilrechtlich als geschäftsunfähig
oder strafrechtlich als schuldunfähig zu betrachten. Es genüge
die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit, die
beispielsweise im bundesdeutschen Rechtssystem genügend klargestellt
seien, schrieben die Berliner Rechtsanwälte Hubertus Rolshoven
und Peter Rudel (Rolshoven / Rudel 1993) unter Verweis auf den
grundlegenden Kommentar des Strafgesetzbuches durch die Juristen
Adolf Schönke und Horst Schröder (Schönke / Schröder
1980, S. 418f./1449ff.).
Eine gerichtlich angeordnete Unterbringung berechtigt nicht automatisch
zu einer gewaltsamen Verabreichung von Psychopharmaka oder Elektroschocks.
Im Sächsischen Unterbringungsgesetz, um bei diesem Beispiel
zu bleiben, wird ausdrücklich eine Zwangsbehandlung nur erlaubt,
wenn "... durch den Aufschub das Leben oder die Gesundheit
des Patienten erheblich gefährdet wird." (§ 22,
Abs. 1 Satz 2)
Wieso Aufklärung und informierte Zustimmung so wichtig sind
Wer über die Einnahme oder Nichteinnahme von psychiatrischen
Psychopharmaka eine Entscheidung treffen will, sollte den Risiken
die möglichen Vorteile gegenüberstellen. Insbesondere Neuroleptika
werden ohne informierte Zustimmung verabreicht, a) obwohl diese
unter anderem bereits nach relativ kurzen Behandlungsperioden
mit niedrigen Dosierungen in beträchtlichem Ausmaß zu tardiven
Dyskinesien führen können, b) obwohl sie bei Nagetieren Geschwülste,
die in Krebs übergehen können, in den Brustdrüsen hervorrufen
können, wenn sie langzeitig in der Dosierung verabreicht werden,
die heute in der Dauerbehandlung in der Psychiatrie üblich ist,
c) obwohl sie im Verdacht stehen, zellverändernd, krebserzeugend
und fruchtschädigend zu sein, weshalb sie z.B. Schweinen zur Ruhigstellung
auf Transporten in das Schlachthaus nicht gespritzt werden dürfen,
damit sie nicht in die Nahrungskette gelangen, und d) obwohl Neuroleptika
schon bei einmaliger Verabreichung in kleinsten Dosierungen zu
lebensgefährlichen Erstickungsanfällen führen können. Auch hinsichtlich
der sicher eintretenden Hirnschäden bei Elektroschocks, die epileptische
Anfälle (das Wirkprinzip erfolgreicher Elektroschocks)
auslösen und Hirnzellen irreversibel zerstören, werden die Risiken
grundsätzlich verschwiegen und wird die Zustimmung zu diesem besonders
gefürchteten und unter allen medizinischen Verfahren unter Medizinern
am meisten umstrittenen Verfahren erschlichen (Lehmann 1996a und
1996b).
Wenn von Psychiatern selbst bei Elektroschocks jeglicher neurologische
Schaden prinzipiell in Abrede gestellt und trotz Vorliegens umfangreicher
Dokumentationen und Berichte über gravierende Folgeschäden von
"einem der sichersten medizinischen Behandlungsverfahren"
geredet wird, muss die grundsätzliche Frage erlaubt sein, ob Vertrauen
in jedwede Art psychiatrischer Erklärungen auch nur im Ansatz
angebracht ist. Man kann diese Argumentation fortführen, und man
sollte dies tun. Wenn in der Psychiatrie selbst gegen die einfachsten
gesetzlichen Vorgaben einer ordentlichen Aufklärung über Risiken
und Schäden derart eklatant verstoßen wird, zeigt sich augenfällig,
wie wichtig staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und drastische
Eingriffe der Gesetzgeber wären und dass zumindest eine kompetente
Einrichtung à la BetroffenenfürsprecherInnen oder Beschwerdestelle
überfällig ist. Wie finster sieht es gar in denjenigen Berührungsbereichen
zwischen psychiatrisch Tätigen und Betroffenen aus, die nicht
so eindeutig durch Gesetz und Rechtsprechung geregelt sind wie
die Aufklärungspflicht?
Aber es sind noch weitere Aspekte zu berücksichtigen: Häufig
erfolgt die Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka unter
Gewaltanwendung. Ein besonders schlimmes Kapitel stellt ihre gewaltsame
Verabreichung an Frauen in gebärfähigem Alter dar, ohne auf mögliche
Schwangerschaften Rücksicht zu nehmen. Immer mehr wehrlose alte
Menschen bekommen diese Substanzen verabreicht, um den Pflegenotstand
chemisch zu managen. 80% der Elektroschocks werden älteren Menschen
verabreicht. Immer mehr Kinder ohne eigene Entscheidungsmöglichkeiten
erhalten psychiatrische Psychopharmaka, um sie chemisch in eine
kinderfeindliche Umwelt einzupassen. Immer mehr Frauen erhalten
psychiatrische Psychopharmaka, um ihre störenden Reaktionen auf
patriarchalisch-bevormundende Lebensverhältnisse chemisch zu neutralisieren.
Immer mehr Menschen, die mit Gesetzen in Konflikt gekommen sind,
erhalten psychiatrische Psychopharmaka, um sie in Gefängnissen
ruhigzuhalten oder ihren Widerstand bei Abschiebungen zu brechen.
Dabei sind insbesondere ältere Menschen, Kranke und weniger Widerstandsfähige
durch die psychopharmakabedingte Schwächung des Immunsystems gefährdet.
Aufgrund inter- und intraindividueller Wirkungsunterschiede lässt
sich nie mit Sicherheit voraussagen, wie eine bestimmte Dosis
eines Präparats wirken wird. Bekannt gewordene Schäden bei allen
Arten psychiatrischer Psychopharmaka traten tendenziell dosisunabhängig
und bereits nach relativ kurzer Zeit auf, teilweise nach einmaliger
Einnahme einer niedrigen Dosis. Immer mehr Menschen erhalten
in ihrer Wirkungsüberlagerung und in ihren Wechselwirkungen unberechenbare
Psychopharmakakombinationen. Alle psychiatrischen Psychopharmaka
haben ein abhängigkeitsauslösendes Potential (Lehmann 1996b, S.
353ff.), wobei die Verordner mit Ausnahme der Tranquilizer und
der Psychostimulantien bei Erwachsenen die abhängig machende Wirkung
der Substanzen abstreiten und die Toleranzbildung sowie die beim
Absetzen möglichen Entzugserscheinungen, Reboundphänomene, Supersensibilitätsreaktionen
der Rezeptoren sowie mögliche irreversible Psychopharmakaschäden
verschweigen oder zum Symptomwechsel umdefinieren.
Konservierungs- und weitere Zusatzstoffe können allergische Reaktionen
auslösen. Die geschwächte körperliche Widerstandskraft bei älteren
und kranken Menschen erhöht die Risiken. Die schädlichen vegetativen
Wirkungen der Psychopharmaka schaffen viele Folgeprobleme. Ältere
Menschen in psychiatrischen Einrichtungen verbrühen sich unter
der Wirkung von Psychopharmaka häufiger als in psychopharmakafreiem
Zustand, prallen unter Psychopharmaka häufiger gegen Möbel, kippen
unter Psychopharmaka häufiger um, fallen im Krankenhaus unter
Psychopharmaka häufiger aus dem Bett, stürzen unter Psychopharmaka
häufiger beim Gang zur Toilette, erleiden somit unter Psychopharmaka
häufiger Schürfwunden, Blutungen und Brüche und ziehen sich in
Altenheimen unter Psychopharmaka häufiger Oberschenkelhalsbrüche
zu. Speziell ältere Menschen sterben eher an Arzneimittelreaktionen.
Dämmern sie unter Psychopharmakawirkung dahin, dann trinken sie
zu wenig und sind dadurch einem erhöhten Risiko von Altersverwirrtheit
ausgesetzt, denn mangelnde Flüssigkeitszufuhr ist bis zu 50% für
den Abbau der geistigen und körperlichen Fähigkeiten verantwortlich.
In allen Einrichtungen, in denen man bevorzugt Psychopharmaka
verabreicht, wie in den meisten Altenheimen, leben die BewohnerInnen
gefährlich. Da sie infolge des Altersprozesses von erheblichen
körperlichen Veränderungen betroffen sind, nimmt ihr Körper pharmakologische
Substanzen anders auf und verarbeitet sie schlechter. Der US-amerikanische
Sozialwissenschaftler Wolf Wolfensberger von der Syracuse University,
der große alte Mann des Kampfes um die Rechte von
Alten und Behinderten, sprach in seinem Buch "Der neue
Genozid an den Benachteiligen, Alten und Behinderten" die
gefährlichen vegetativen Auswirkungen der psychiatrischen Psychopharmaka
an:
"Vor allem bewusstseinsverändernde Medikamente
in Institutionen wie Pflegeheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen
können auf verschiedenen Wegen das Leben gefährden oder verkürzen:
(a) Vitale Funktionen werden soweit geschwächt, dass die Widerstandskraft
gegen Infekte abnimmt. (b) Die Sinnesorgane werden stumpf, so
dass jemand Gefahrensignale wie Schmerz nicht mehr wahrnehmen
kann. (c) Das Bewusstsein ist vermindert, so dass man nicht mehr
imstande ist, den todbringenden Maßnahmen des Personals
entgegenzuwirken, nicht mal, mit anderen über dies Unrecht zu
reden. (d) Andere körperliche Funktionen sind eingeschränkt. Der
Tod tritt aber durch ganz andere, sekundäre Ursachen ein, etwa
über Flüssigkeitsretention (-zurückhaltung), über vermindertes
Schwitzen (verursacht Hitzschlag) oder über Einschränkung des
Schluckens und Hustens, was wiederum die offizielle Diagnose Tod
durch Lungenentzündung erlaubt. (...) Man steht fassungslos
davor, in welchem Ausmaß alltäglich getötet werden kann,
ohne dass jemand auch nur auf die Idee kommt, dass dies Töten
sei." (Wolfensberger 1991, S. 59/63)
Gegenstrategien
Die rechtlose Situation von Psychiatriebetroffenen kann erfahrungsgemäß
nur durch massive Intervention und durch Androhung von Sanktionen
verbessert werden, siehe die Erfahrungen mit dem Psychiatrischen
Testament (Lehmann 1994). Haben beispielsweise Mitglieder von
Beschwerdeinstanzen Kenntnis von strafrechtlich relevanten oder
ärztlich-standeswidrigen psychiatrischen Maßnahmen, müssen
sie ihren Anspruch auf Vermittlung aufgeben und sich an zuständige
Strafverfolgungsbehörden, Regierungs- und Verwaltungsstellen,
Verbraucherverbände oder Ärztekammern und sonstige Kontrollbehörden
wenden oder die Psychiatriebetroffenen bei der Aufnahme geeigneter
Maßnahmen unterstützen.
Kooperationsversuche der organisierten Psychiatriebetroffenen
zur Verbesserung der Situation in psychiatrischen Einrichtungen
werden zwar immer wieder unternommen, scheitern jedoch zu häufig
am Desinteresse psychiatrischer Gruppierungen bzw. deren Angst
vor Machtverlust, dem abzusehenden Ergebnis einer gestärkten Rechtsposition
der Betroffenen. Doch was nicht ist, kann noch werden. So forderte
das Europäische Netzwerk Psychiatriebetroffener, in dem auch der
BPE Mitglied ist, von der Weltgesundheitsorganisation WHO, unter
anderem folgende Forderungen in einen Menschenrechtskatalog für
die psychiatrische Praxis aufzunehmen, um der derzeitigen desolaten
Situation entgegenzuwirken: Psychiatriebetroffene sollten in alle
Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden, in allen Ausbildungsgängen
einschließlich Prüfungsgremien der mit psychiatrischer Praxis
zusammenhängenden Berufsfelder vertreten sein, bei Kongressen
als Hauptredner/innen ebenso wie in Ethikkommissionen und in Zulassungsverfahren
für neue Behandlungsmethoden. Jedem Bett in der Psychiatrie sollte
ein Bett in einem Weglaufhaus gegenüberstehen, und jedes zweite
psychiatrische Bett sollte in einer Soteria-artigen Einrichtung
stehen. Behandlung ohne informierte Zustimmung sollte grundsätzlich
verboten und mit Approbationsverlust verbunden sein (European
Network 1997). Auch die bei der Bundesdirektorenkonferenz (Zusammenkunft
aller Anstaltsleiter Deutschlands) in Bielefeld 1995 vom BPE gestellten
Minimalforderungen übernahm das Europäische Netzwerk in seinen
Forderungskatalog an die WHO: unter anderem Patienten-Kabinentelefone
auf jeder Station; Münzkopierer deutlich sichtbar im Eingangsbereich
jeder Anstalt; auf jeder Station deutlich sichtbare Anschläge,
dass auf Wunsch Briefpapier, Briefumschläge und Briefmarken zur
Verfügung gestellt werden; Aufhängen von Flugblättern von Betroffenenorganisationen
auf jeder Station; Anbieten eines täglichen Spaziergangs unter
freiem Himmel von mindestens einer Stunde Dauer; Einrichten einer
Teeküche auf jeder Station, so dass man sich rund um die Uhr etwas
zu essen und zu trinken machen kann.
Was spricht dagegen, sich den oben genannten Forderungen nach
Unterbindung psychiatrischer Gewalt sowie dem Dringen auf bessere
Lebensbedingungen Psychiatriebetroffener anzuschließen?
Quellen
-
Kempker,
Kerstin: »Teure Verständnislosigkeit Die Sprache
der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie«.
Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1991
-
Lehmann,
Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 1: »Wie Chemie und
Strom auf Geist und Psyche wirken«. Berlin: Peter Lehmann
Antipsychiatrieverlag 1996a (E-Book 2022)
-
Lehmann,
Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 2: »Wie Psychopharmaka
den Körper verändern«. Berlin: Peter Lehmann
Antipsychiatrieverlag 1996b (E-Book 2022)
-
Lehmann, Peter: »Formelle Vorab-Genehmigungen und Vorab-Verweigerungen
psychiatrischer Psychopharmaka und Elektroschocks. Theorie
und Praxis des Psychiatrischen Testaments«. Deutsche Vorlage
zum Vortrag bei der Konferenz »Responsabilité, droits et protection
dans le champ de la santé mentale en Europe«, veranstaltet
vom Comité Européen: Droit, Ethique et Psychiatrie (C.E.D.E.P.,
Seccion espanola) Madrid, 7.-9. Oktober 1994. Online-Ressource
https://antipsychiatrieverlag.de/artikel/recht/pdf/formell-vorab-1994.pdf
-
Lehmann, Peter im Namen des European Network of (ex-) Users
and Survivors of Psychiatry: Kommentar zu: »Quality Assurance
in Mental Health Care Draft. Human Rights of People
with Mental Disorders« der WHO. Brief vom 24. April 1997
an Dr. J. M. Bertolote, WHO. Online-Ressource https://antipsychiatrieverlag.de/artikel/reform/who_kommentar.htm
-
Peeck, Gisela / von Seckendorff, Christoph / Heinecke, Pierre:
»Ergebnis der Umfrage unter en Mitgliedern des Bundesverbandes
Psychiatrieerfahrener zur Qualität der psychiatrischen
Versorgung«. In: Sozialpsychiatrische Informationen, 25. Jg.
(1995), Nr. 4, S. 30-34. Online-Ressource https://antipsychiatrieverlag.de/artikel/reform/umfrage.htm
-
Rolshoven,
Hubertus / Rudel, Peter: »Das formelle Psychiatrische Testament.
Gebrauchsanweisung und Mustertext«. In: Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): »Statt Psychiatrie«. Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 282-298. Online-Ressource
https://antipsychiatrieverlag.de/info/pt.htm
-
Schönke, Adolf / Schröder, Horst: »Strafgesetzbuch.
Kommentar«. 20., von Theodor Lenckner u.a. neubearb.
Aufl. München: C.H Beck Verlag 1980
-
Wolfensberger, Wolf: »Der neue Genozid an den Benachteiligen,
Alten und Behinderten«. Gütersloh: Van Hoddis Verlag
1991
Die Quellenhinweise zu den Abschnitten über unterlassene Aufklärung
und über Aufklärungspflicht finden Sie in »Schöne
neue Psychiatrie«, Band 1, S. 324ff. (E-Book 2022)
© by Peter Lehmann 1997