Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in: Jens Didier (Leiter der Kontakt Beratungsstelle Durchblick e.V.),
Christina Stoppa (Geschäftsführerin Durchblick e.V.) &
Thomas Seyde (Psychiatriekoordinator der Stadt Leipzig): "Für
und Wider: 1. Patientenfürsprechertreffen in Leipzig
Tagungsunterlagen zum 1. Patientenfürsprechertreffen in Leipzig
am 28. September 1996 in Leipzig", 29. Januar 1997 / PDF
Peter
Lehmann
BetroffenenfürsprecherInnen: Alibifunktion oder Kompetenz
+ Etat
Von der Vielzahl psychiatrischer Rechtsverletzungen, die für
die Tätigkeit von BetroffenenfürsprecherInnen von Interessen sind,
soll hier die in der Psychiatrie grundsätzlich unterlassene ausreichende
Aufklärung über Behandlungsrisiken und -schäden im Vordergrund
stehen.
Typische Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie listete
der Schweizer Rechtsanwalt Dr. jur. Edmund Schönenberger in dem
Buch "Statt Psychiatrie" auf. Er nannte Verstöße gegen
die Europäische Menschenrechtskonvention, und zwar gegen: Freiheit
(Artikel 5); körperliche und geistige Unversehrtheit (Art. 3);
Verbot der Zwangsarbeit (Art. 4); fairen Prozess (Art. 6); Privatleben,
Familienleben, Achtung von Wohnung und Briefverkehr (Art. 8);
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, freie Weltanschauung
(Art. 9); freie Meinungsäußerung, Ideenfreiheit, Freiheit zum
Empfang und zur Mitteilung von Ideen und Nachrichten (Art. 10);
Versammlungsfreiheit, Freiheit auf Zusammenschluss (Art. 11); Ehe,
Gründung einer Familie (Art. 12); Beschwerde wegen Menschenrechtsverletzung
(Art. 13); Gewährung dieser Rechte und Freiheiten ohne jegliche
Benachteiligung (Diskriminierungsverbot; Art. 14) (Schönenberger
1993, S. 184f.). In Fachkreisen der BRD wurde Schönenberger bekannter,
als er bei der Mitgliederversammlung des deutschen Bundesverbands
der Psychiatrie-Erfahrenen e.V. (BPE) 1995 einen der beiden Hauptvorträge
hielt.
Unterlassene Aufklärung als strukturelles Problem
Eine 1995 vom BPE durchgeführte Umfrage unter seinen Mitgliedern
zeigte, dass die Aufklärungspraxis die beschriebene Situation widerspiegelt.
Über 100 Psychiatriebetroffene hatten die Fragebögen ausgefüllt:
"Auf die Frage, ob die Ärzte/Ärztinnen die Leidenden über
Risiken und Nebenwirkungen von 'Behandlungsmaßnahmen' vollständig
informiert hätten, wurde nicht einmal mit 'ja' geantwortet. (...)
Die nächste Frage betraf die Aufklärung über Behandlungsalternativen.
Nur fünf von 100 Befragten wurden aufgeklärt, nur ein einziger
schrieb von 'anderen' Medikamenten, 'anderen' Kliniken, dass ihm
geraten worden sei, sich einen Therapeuten zu suchen, und dass
er Kontakt zu Selbsthilfegruppen aufnehmen solle. Nahezu alle
hätten sich gerne an eine Beschwerdestelle oder einen Patientenfürsprecher
gewandt." (Peeck / von Seckendorff / Heinecke 1995) Neben
der Beschwerde darüber, dass auf die ursächlich zur Psychiatrisierung
führenden Probleme nicht eingegangen wurde und dass die Betroffenen
demütigend behandelt wurden, stand bei vielen die Klage über die
Behandlung selbst im Vordergrund: sie habe geschadet und sei zudem
ohne rechtswirksame Zustimmung durchgeführt worden.
"Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage
und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker", heißt es in der
Werbung. Doch was ist, wenn die Antworten ungenügend sind oder
die Fragen weder gestellt noch überhaupt zugelassen werden?
"Ein Aufklärungskonzept gehört offensichtlich nicht zum
psychiatrischen Alltag", äußerte 1992 die Psychologin Lilo
Süllwold aus Frankfurt/Main. Nicht nur bei Forschungen mit neuen
chemischen Mitteln erscheint es ÄrztInnen und Psychiatern "unethisch,
die Angst von Patienten durch detaillierte Information über mögliche
Unannehmlichkeiten oder Komplikationen zu vermehren". Die
rechtliche Brisanz ist den Behandlern durchaus bewusst. Helmchen,
ehemaliger Chef der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Nervenheilkunde, publizierte Vorschläge, beispielsweise bei der
Verordnung von Neuroleptika über das Risiko einer tardiven Dyskinesie
drei Monate nach Beginn der Verabreichung zu informieren oder
nach einem Jahr oder zum Zeitpunkt ihres Auftretens. Bei der tardiven
Dyskinesie handelt es sich um eine veitstanzförmige oder durch
Krämpfe gekennzeichnete Muskelerkrankung, die bei fortgesetzter
Neuroleptikaverabreichung häufig auftritt, nicht behandelbar ist
und mit der Verkürzung der Lebenserwartung einhergeht. Helmchen
kannte die Scheu seiner Kollegenschaft vor einer ordnungsgemäßen
Aufklärung über Behandlungsrisiken und -schäden: "Vermutlich
wäre die Ablehnungsrate sehr hoch, wenn alle akut schizophrenen
Patienten über dieses Nebenwirkungsrisiko vor Beginn einer notwendigen
neuroleptischen Behandlung informiert würden."
Weder zu Beginn noch im weiteren Verlauf nach der Anstaltsunterbringung
werden die Betroffenen im erforderlichen Ausmaß aufgeklärt. Dies
trifft besonders auf Neuroleptika zu, da diese eine kaum überschaubare
Vielfalt gefährlicher und schädlicher Wirkungen aufweisen. Michael
Linden, wie Helmchen von der Berliner Universitätsanstalt, berichtete
in seinem Artikel "Informationen und Einschätzungen von Patienten
über Nebenwirkungen von Neuroleptika" von Befragungen, die
am Tag der jeweiligen Anstaltsentlassung durchgeführt wurden.
Danach kennen die Behandelten die Risiken und Gefahren, die die
Verabreichung der psychiatrischen Psychopharmaka mit sich bringen,
nur unzureichend. Beispielsweise nur 6% der Befragten wussten etwas
von vegetativen Wirkungen.
Dem immer wieder vorgebrachten Einwurf, die Formulierung von
eigenen Rechten zerstöre mögliche Vertrauensbeziehungen zwischen
medizinisch-psychiatrisch Tätigen und Behandelten, ist entgegenzuhalten,
dass nur dann ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entstehen kann,
wenn letztere ihre Rechtspositionen respektiert wissen, insbesondere
ihr verfassungsrechtlich geschütztes Selbstbestimmungsrecht. Die
Frage nach dem Sinn eines Vertrauensverhältnißes zu Psychiatern
kann allerdings erst angegangen werden, wenn diese Berufsgruppe
sich dem Problem gestellt hat, dass sie als naturwissenschaftliche
Disziplin kaum in der Lage sein dürfte, psychische Probleme sozialer
Natur lösen zu können (Kempker 1991). Und werden psychische Probleme
gelegentlich durch organische Veränderungen verursacht, z.B. Umweltgifte
oder Tumore, so werden diese von Psychiatern in der Regel nicht
erkannt.
Wie, wann und worüber muss aufgeklärt werden?
"Nach heute allgemeiner Meinung und ständiger Rechtsprechung
ist die auf einer ärztlichen Vollaufklärung basierende
Einwilligung des Patienten unentbehrliche Voraussetzung für
jede ärztliche Behandlung und jeden Heileingriff. Eine Einwilligung
ist nur wirksam, wenn der Patient darüber informiert ist,
worin er einwilligt. Man spricht insoweit von 'informierter Einwilligung'
(informed consent)." Mit diesen eindeutigen Worten erläuterte
der Kölner Jurist Wilhelm Uhlenbruck die grundsätzlichen
Voraussetzungen einer rechtswirksamen Aufklärung. In eine
Behandlung kann nur rechtswirksam eingewilligt werden, wenn zuvor
ausreichend aufgeklärt wurde. Nach dem Gesetz sind es die
Betroffenen, die, soweit sie einsichtsfähig sind, die Entscheidung
über eine angetragene psychiatrische Anwendung zu treffen
haben. Die von den Staatsregierungen anerkannten und unterzeichneten
Resolutionen und Beschlüsse zu den Rechten 'psychisch Kranker',
die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 17. Dezember
1991 verabschiedete, sind auch hierzulande rechtlich bindend.
Auch im 'Sächsischen Gesetz über die Hilfen und die
Unterbringung bei psychischen Krankheiten' heißt es eindeutig
in § 21, Abs. 2, Satz 2: "Der Patient ist über die erforderlichen
diagnostischen Verfahren und die Behandlung sowie die damit verbundenen
Risiken umfassend aufzuklären."
Allgemein, so der Rechtsanwalt Karl-Otto Bergmann und seine Kollegin
Gabriela Schwarz-Schilling in einem Ratgeber zum Medizinrecht,
"... gibt es kein ärztliches Behandlungsrecht. Ein solches
Recht kann auch nicht vertraglich vereinbart werden. In Wahrnehmung
seines Selbstbestimmungsrechtes übt der Patient ein Direktionsrecht
aus gegenüber seinem Arzt. Bevor ein Arzt die Behandlung beginnt,
hat er sich über den Willen seines Patienten beim bewusstlosen,
sterbenden oder seiner geistigen Fähigkeiten nicht mächtigen Patienten
seines mutmaßlichen Willens zu versichern. Selbst im Falle
einer klaren medizinischen Indikation für eine Behandlung oder
einen Eingriff entscheidet nicht diese Indikation, sondern allein
der Wille des Patienten. (...) Grundlage der ärztlichen Aufklärungspflicht
ist die Feststellung, dass ein Patient nicht Objekt, sondern Subjekt
der Behandlung ist."
Da die Psychiatrie der Medizin zugerechnet wird, können Menschen
mit psychiatrischen Diagnosen für sich die Anwendung des Medizinrechts
reklamieren. "Behandeln ohne Aufklärung ist Körperverletzung",
warnten der Jurist Alexander Ehlers und der Arzt Christian Diercks
in der Medizinerzeitschrift 'Selecta': "Der Hinweis auf den
Beipackzettel allein ist nicht ausreichend. Viele Ärzte verweisen
nur auf den Beipackzettel. Die Rechtsprechung qualifiziert dies
allerdings als einen Verstoß gegen die ärztliche Aufklärungspflicht."
Jeder Aufklärungsmangel, sei er durch unterlassene, unzureichende
oder verspätete Aufklärung entstanden, führt zur Rechtsunwirksamkeit
einer Einwilligung und damit unmittelbar zur Rechtswidrigkeit
der gesamten Behandlungsmaßnahme.
Die Aufklärung hat zu einem Zeitpunkt zu erfolgen, an dem die
Betroffenen psychisch noch in der Lage sind, sich frei zu entscheiden
und eventuell mit FreundInnen, Angehörigen oder Fachleuten des
Vertrauens zu besprechen. Dies dürfte beispielsweise nicht der
Fall sein, wenn der Psychiater die Spritze zum Einstich in den
Sitzmuskel auf- und die 'Pflegekraft' dem oder der Betroffenen
den Slip bereits heruntergezogen hat oder ein Ja durch eine angedrohte
Fixierung oder Entmündigung ('Betreuung') erpresst wird. Die Betroffenen
seien über die psychiatrische Diagnose, den Zweck der Behandlung,
deren Dauer und den zu erwartenden Nutzen sowie mögliche behandlungsbedingte
Schmerzen und Beschwerden ebenso aufzuklären wie über das Recht
zum vorzeitigen Behandlungsabbruch, so das Protokoll der 75. Generalversammlung
der Vereinten Nationen. Druck und Nötigung seien unzulässig und
machten die Zustimmung unwirksam: "Eine Einwilligung in Kenntnis
der Sachlage bezeichnet eine Einwilligung, die frei und nicht
aufgrund von Drohungen oder ungebührlicher Überredung erteilt
wird (...). Ein Patient kann verlangen, dass während des Einwilligungsverfahrens
eine oder mehrere Personen seiner Wahl zugegen sind. (...) Ein
Patient darf niemals zum Verzicht auf sein Recht aufgefordert
oder bewogen werden, in Kenntnis der Sachlage seine Einwilligung
zu erteilen. Will ein Patient von sich aus auf dieses Recht verzichten,
so ist ihm zu erklären, dass eine Behandlung ohne Einwilligung
in Kenntnis der Sachlage nicht stattfinden kann."
Die Betroffenen müssen über den Verlauf der Behandlung aufgeklärt
sein, und zwar von Medizinern. Sie müssen die Natur des Eingriffs
in ihren wesentlichen Zügen erkannt, die häufigsten und typischen
Risiken mit den möglichen Vorteilen verglichen haben. Wenigstens
in groben Zügen muss über die mit einem Eingriff verbundenen Gefahren
informiert werden: "Das sind alle denkbaren, dauernden oder
auch vorübergehenden Nebenfolgen, die sich auch bei Anwendung
der gebotenen Sorgfalt und bei fehlerfreier Durchführung des Eingriffs
nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen lassen."
Zur Aufklärung gehört auch die Darstellung alternativer Behandlungsmethoden,
so dass die Betroffenen die Möglichkeit haben zu entscheiden, welchen
Maßnahmen sie den Vorzug geben, wollen sie überhaupt behandelt
werden. Die Gabe von Pillen ist, wie jede medizinische Behandlung
oder Untersuchung, ein Eingriff, der ohne rechtswirksame Einwilligung
eine strafbare Körperverletzung darstellt. Diese kann zivilrechtliche
Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche zur Folge haben, sollte
durch eine rechtswidrige Handlung ein Schaden verursacht worden
sein.
In der 'Münchener Medizinischen Wochenschrift' erläuterte eine
Gruppe von Psychiatern und Juristen, wann im bundesdeutschen Recht
von einer mutmaßlichen Zustimmung ausgegangen werden darf: "Ist
ein Patient voll geschäftsfähig und eine Verständigung mit ihm
über seine Behandlungsbedürftigkeit möglich, so ist ohne seine
Einwilligung keine Behandlung erlaubt. Eine Ausnahme besteht nur
dann, wenn der Patient vorübergehend bewusstlos oder in einem Schockzustand
ist und deswegen keine Einwilligung erteilen kann. In diesem Fall
kann vom Arzt für unaufschiebbare, dringendst notwendige Maßnahmen
von einer mutmaßlichen Einwilligung ausgegangen werden, die eine
Behandlung rechtfertigt."
Das Recht, über seinen eigenen Körper zu bestimmen, setzt mitnichten
die Geschäftsfähigkeit voraus. Auch mit Minderjährigen dürfen
Ärzte und Psychiater nicht nach Gutdünken verfahren, wie der Dortmunder
Rechtsanwalt Martin Rehborn aufklärte: "Die Einwilligung
ist keine rechtsgeschäftliche Erklärung; sie setzt demzufolge
keine Geschäftsfähigkeit des Patienten voraus. (...) Vielmehr
kommt es auf die notwendige geistige und sittliche Reife an, um
die Bedeutung eines Eingriffs, die mit der Durchführung oder Unterlassung
desselben verbundenen Probleme sowie die Tragweite des Eingriffs
und seiner Gestattung erkennen zu können."
Notwendig zur Verständigung über die behauptete Behandlungsbedürftigkeit
sind also die Fähigkeit zur natürlichen Willensäußerung und die
Einsichtsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit, zwischen dem behaupteten
Nutzen und den möglichen unerwünschten Folgen abzuwägen. Der Wille
bezüglich des eigenen Körpers, der eigenen Persönlichkeit und
der persönlichen Freiheit ist auch dann zu beachten, wenn z.B.
aufgrund der Einrichtung einer Betreuung andere Personen für das
Wohl der Betroffenen zu sorgen haben (Personensorge). Die Rechtsgüter,
über die verfügt werden soll, sind höchstpersönlich; die Entscheidung
insoweit steht allein den Betroffenen zu unabhängig davon,
ob sie zivilrechtlich als geschäftsfähig oder strafrechtlich als
schuldfähig anzusehen sind. Es genüge die natürliche Einsichts-
und Urteilsfähigkeit, die beispielsweise im bundesdeutschen Rechtssystem
genügend klargestellt seien, schrieben die Berliner Rechtsanwälte
Hubertus Rolshoven und Peter Rudel.
Eine gerichtlich angeordnete Unterbringung berechtigt nicht automatisch
zu einer gewaltsamen Verabreichung von Psychopharmaka oder Elektroschocks.
Im Sächsischen Unterbringungsgesetz wird ausdrücklich eine Zwangsbehandlung
nur erlaubt, wenn "... durch den Aufschub das Leben oder
die Gesundheit des Patienten erheblich gefährdet wird" (§ 22,
Abs. 1, Satz 2).
Wieso Aufklärung und informierte Zustimmung so wichtig sind
Wer über die Einnahme oder Nichteinnahme von psychiatrischen
Psychopharmaka eine Entscheidung treffen will, sollte den Risiken
die möglichen Vorteile gegenüberstellen. Insbesondere Neuroleptika
werden ohne informierte Zustimmung verabreicht, a) obwohl diese
unter anderem bereits nach relativ kurzen Behandlungsperioden
mit niedrigen Dosierungen in beträchtlichem Ausmaß zu tardiven
Dyskinesien (irreversiblen und nicht behandelbaren veitstanzähnlichen
Muskel- und Bewegungsstörungen) führen können, b) obwohl sie bei
Nagetieren Geschwülste, die in Krebs übergehen können, in den
Brustdrüsen hervorrufen können, wenn sie langzeitig in der Dosierung
verabreicht werden, die heute in der Dauerbehandlung in der Psychiatrie
üblich ist, c) obwohl sie im Verdacht stehen, zellverändernd,
krebserzeugend und fruchtschädigend zu sein, weshalb sie z.B.
Schweinen zur Ruhigstellung auf Transporten in das Schlachthaus
nicht gespritzt werden dürfen, damit sie nicht in die Nahrungskette
gelangen, und d) obwohl Neuroleptika schon bei einmaliger Verabreichung
in kleinsten Dosierungen zu lebensgefährlichen Erstickungsanfällen
führen können (Lehmann 1996).
Auch hinsichtlich der sicher eintretenden Hirnschäden bei Elektroschocks,
die epileptische Anfälle auslösen und Hirnzellen irreversibel
zerstören, werden die Risiken grundsätzlich verschwiegen und wird
die Zustimmung zu diesem besonders gefürchteten und unter allen
medizinischen Verfahren unter Medizinern am meisten umstrittenen
Verfahren erschlichen. Dabei wiesen Tier- und klinische Studien
die Elektroschockschäden nach, so der US-amerikanische Psychiater
Peter Breggin: "Einheitlich zeigen sie alle eine ausgebreitete
Zellzerstörung, im allgemeinen über das gesamte Gehirn verteilte
Blutungen, kleine Blutungen. Und es sieht so aus, dass sich der
Strom auf zwei Wegen ausbreitet: zum einen durch das Gehirn, zum
anderen entlang dem Gefäßbaum, der mit einem elektrischen Leitungsnetz
verglichen werden kann. Die Blutgefäße werden von Krämpfen befallen.
Die Blut-Hirn-Schranke bricht zusammen." (Breggin 1993, S.
166)
Wenn selbst bei Elektroschocks jeglicher neurologische Schaden
prinzipiell in Abrede gestellt und trotz Vorliegens umfangreicher
Dokumentationen und Berichte über gravierende Folgeschäden von
"einem der sichersten medizinischen Behandlungsverfahren"
geredet wird, muss die grundsätzliche Frage erlaubt sein, ob Vertrauen
in jedwede Art psychiatrischer Erklärungen angebracht ist. Man
kann diese Argumentation fortführen, und man sollte dies tun.
Wenn in der Psychiatrie selbst gegen die einfachsten gesetzlichen
Vorgaben einer ordentlichen Aufklärung über Risiken und Schäden
derart eklatant verstoßen wird, so zeigt sich augenfällig, wie
wichtig eine kompetente Einrichtung à la Betroffenenfürsprecher
(oder Beschwerdestelle) ist. Wie düster sieht es gar in denjenigen
Berührungsbereichen zwischen psychiatrisch Tätigen und Betroffenen
aus, die nicht so eindeutig durch Gesetz und Rechtssprechung geregelt
sind wie die Aufklärungspflicht?
Insgesamt ist die Verabreichung bzw. Einnahme psychiatrischer
Psychopharmaka mit einer Vielzahl von Risiken und Schäden verbunden.
Aber es sind noch weitere Aspekte zu berücksichtigen:
-
Häufig erfolgt die Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka
unter Gewaltanwendung. Ein besonders schlimmes Kapitel stellt
ihre gewaltsame Verabreichung an Frauen in gebärfähigem Alter
dar, ohne auf mögliche Schwangerschaften Rücksicht zu nehmen.
-
Immer mehr wehrlose alte Menschen bekommen diese Substanzen
verabreicht, um den Pflegenotstand chemisch zu managen. 80%
der Elektroschocks werden älteren Menschen verabreicht. Immer
mehr Kinder ohne eigene Entscheidungsmöglichkeiten erhalten
psychiatrische Psychopharmaka, um sie chemisch in eine kinderfeindliche
Umwelt einzupassen. Immer mehr Frauen erhalten psychiatrische
Psychopharmaka, um ihre störenden Reaktionen auf patriarchalisch-bevormundende
Lebensverhältniße chemisch zu neutralisieren. Immer mehr
Menschen, die mit Gesetzen in Konflikt gekommen sind, erhalten
psychiatrische Psychopharmaka, um sie in Gefängnissen ruhigzuhalten
oder ihren Widerstand bei Abschiebungen zu brechen. Dabei
sind insbesondere ältere Menschen, Kranke und weniger Widerstandsfähige
durch die psychopharmakabedingte Schwächung des Immunsystems
in außerordentlicher Weise gefährdet.
-
Aufgrund inter- und intraindividueller Wirkungsunterschiede
lässt sich nie mit Sicherheit voraussagen, wie eine bestimmte
Dosis eines Präparats wirken wird. Bekanntgewordene Schäden
bei allen Arten psychiatrischer Psychopharmaka traten tendenziell
dosisunabhängig und bereits nach relativ kurzer Zeit auf,
teilweise nach einmaliger Einnahme einer niedrigen Dosis.
-
Immer mehr Menschen erhalten in ihrer Wirkungsüberlagerung
und in ihren Wechselwirkungen unberechenbare Psychopharmakakombinationen.
-
Alle psychiatrischen Psychopharmaka haben ein abhängigkeitsauslösendes
Potential, wobei die Verordner mit Ausnahme der Tranquilizer
und der Psychostimulantien bei Erwachsenen die abhängig machende
Wirkung der Substanzen abstreiten und die Toleranzbildung
sowie die beim Absetzen möglichen Entzugserscheinungen, Reboundphänomene,
Supersensibilitätsreaktionen der Rezeptoren sowie mögliche
irreversible Psychopharmakaschäden verschweigen oder gar zum
Symptomwechsel umdefinieren.
-
Konservierungs- und weitere Zusatzstoffe können allergische
Reaktionen auslösen. Die geschwächte körperliche Widerstandskraft
bei älteren und kranken Menschen erhöht die Risiken. Die schädlichen
vegetativen Wirkungen der Psychopharmaka schaffen viele Folgeprobleme.
Ältere Menschen in psychiatrischen Einrichtungen verbrühen
sich unter der Wirkung von Psychopharmaka häufiger als in
psychopharmakafreiem Zustand, prallen unter Psychopharmaka
häufiger gegen Möbel, kippen unter Psychopharmaka häufiger
um, fallen im Krankenhaus unter Psychopharmaka häufiger aus
dem Bett, stürzen unter Psychopharmaka häufiger beim Gang
zur Toilette, erleiden somit unter Psychopharmaka häufiger
Schürfwunden, Blutungen und Brüche und ziehen sich in Altenheimen
unter Psychopharmaka häufiger Oberschenkelhalsbrüche zu. Speziell
ältere Menschen sterben eher an Arzneimittelreaktionen. Dämmern
sie unter Psychopharmakawirkung dahin, dann trinken sie zu
wenig und sind dadurch einem erhöhten Risiko von Altersverwirrtheit
ausgesetzt, denn mangelnde Flüssigkeitszufuhr ist bis zu 50%
für den Abbau der geistigen und körperlichen Fähigkeiten verantwortlich.
-
In allen Einrichtungen, in denen man bevorzugt Psychopharmaka
verabreicht, wie in den meisten Altenheimen, leben die BewohnerInnen
gefährlich. Da sie infolge des Altersprozesses von erheblichen
körperlichen Veränderungen betroffen sind, nimmt ihr Körper
pharmakologische Substanzen anders auf und verarbeitet sie
schlechter. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Wolf
Wolfensberger von der Syracuse University, der 'große alte
Mann des Kampfes um die Rechte von Alten und Behinderten',
sprach in seinem Buch "Der neue Genozid an den Benachteiligen,
Alten und Behinderten" die gefährlichen vegetativen Auswirkungen
der psychiatrischen Psychopharmaka an: "Vor allem bewusstseinsverändernde
Medikamente in Institutionen wie Pflegeheimen, Krankenhäusern
und Gefängnissen können auf verschiedenen Wegen das Leben
gefährden oder verkürzen: (a) Vitale Funktionen werden soweit
geschwächt, dass die Widerstandskraft gegen Infekte abnimmt.
(b) Die Sinnesorgane werden stumpf, so dass jemand Gefahrensignale
wie Schmerz nicht mehr wahrnehmen kann. (c) Das Bewusstsein
ist vermindert, so dass man nicht mehr imstande ist, den todbringenden
Maßnahmen des Personals entgegenzuwirken, nicht mal, mit anderen
über dies Unrecht zu reden. (d) Andere körperliche Funktionen
sind eingeschränkt. Der Tod tritt aber durch ganz andere,
sekundäre Ursachen ein, etwa über Flüssigkeitsretention (-zurückhaltung),
über vermindertes Schwitzen (verursacht Hitzschlag) oder über
Einschränkung des Schluckens und Hustens, was wiederum die
offizielle Diagnose 'Tod durch Lungenentzündung' erlaubt.
(...) Man steht fassungslos davor, in welchem Ausmaß alltäglich
getötet werden kann, ohne dass jemand auch nur auf die Idee
kommt, dass dies Töten sei." (Wolfensberger 1991, S. 59/63)
Zur Funktion von BetroffenenfürsprecherInnen
Die Parteilichkeit der BetroffenenfürsprecherInnen für die Psychiatrie-Betroffenen
ist aufgrund deren schwacher Rechtsstellung, verstärkt von der
Beeinträchtigung durch mögliche psychische Probleme und psychopharmakabedingte
Behinderungen, auf allen Ebenen der Zuständigkeit zu stärken.
BetroffenenfürsprecherInnen müssen parteilich arbeiten. Die rechtlose
Situation von Psychiatrie-Betroffenen kann erfahrungsgemäß nur
durch massive Intervention und durch Androhung von Sanktionen
verbessert werden (siehe die Erfahrungen mit dem Psychiatrischen
Testament). Es ist gut, wenn BetroffenenfürsprecherInnen beratend,
informierend und vermittelnd im wohlverstandenen Interesse der
Betroffenen wirken, aber dies wird nicht ausreichen. Es gibt positive
Erfahrungen solcher Stellen aus dem Ausland, die die Möglichkeiten
haben, selbst zu publizieren und sich direkt an Regierungsstellen
zu wenden. Hier ist insbesondere die wenn auch mit einem
scheußlichen Namen versehene New York State Commission
on Quality of Care for the Mentally Disabled (Kommission für Behandlungsqualität
der psychisch Behinderten im US-Bundesstaat New York) zu nennen,
die eine eigene, kostenlose Zeitschrift ('Quality of Care') herausgibt,
in der Formalverstößen gegen festgelegte Versorgungs- und Behandlungsstandards
präzise nachgegangen und die Verstöße mitsamt den daraus zu ziehenden
Konsequenzen öffentlich gemacht werden (Bestelladresse: New York
State Commission on Quality of Care for the Mentally Disabled,
99 Washington Avenue, Suite 1002, Albany, New York 12210-2985).
Deshalb ist darauf hinzuwirken, dass BetroffenenfürsprecherInnen
von JuristInnen über die Möglichkeiten straf-, zivil- und verwaltungsrechtlicher
Maßnahmen informiert werden für den Fall, dass bei Konflikten keine
Einigung im Interesse der Psychiatrie-Betroffenen zustande kommt.
Haben Mitglieder von Beschwerdeinstanzen Kenntnis von strafrechtlich
relevanten oder ärztlich-standeswidrigen psychiatrischen Maßnahmen,
müssen sie ihren Anspruch auf Vermittlung aufgeben und sich an
zuständige Strafverfolgungsbehörden, Regierungs- und Verwaltungsstellen,
Verbraucherverbände oder Ärztekammern und sonstige Kontrollbehörden
wenden oder die Psychiatrie-Betroffenen bei der Aufnahme geeigneter
Maßnahmen unterstützen. BetroffenenfürsprecherInnen sind deshalb
anzuhalten, im Interesse der Wahrheitsfindung und zum Nutzen der
sonst alleingelassenen Psychiatrie-Betroffenen, denen in der Regel
nie geglaubt wird, als ZeugInnen vor Gericht und sonstigen Stellen
aufzutreten.
BetroffenenfürsprecherInnen sollten Menschen mit Psychiatrieerfahrung
sein. Es ergibt sich von selbst, dass damit nicht die psychiatrisch
Tätigen oder andere gemeint sein können, die mal "irgend
etwas mit Psychiatrie zu tun" hatten. Zwecks Vermeidung von
Missverständnissen ist eine Klarstellung angebracht: gemeint sind
Personen mit direkter Erfahrungen als Psychiatrie-Betroffene (ehemalige
InsassInnen). Aus psychologischen Gründen sollte kritisch betrachtet
werden, welche Angehörige in Beschwerdekommissionen mitarbeiten,
speziell solange diese noch indirekt von psychiatrischer Behandlung
betroffen sind. Dies soll nicht heißen, dass sie nicht prinzipiell
dazu befähigt wären. Es ist allerdings durch sozialwissenschaftliche
Studien zur Genüge bekannt, dass die Psychiatrisierung immer wieder
zur Lösung innerfamiliärer Schwierigkeiten benutzt wird und dass
häufig das schwächste, wehrloseste oder eigenwilligste Familienmitglied
Sündenbockfunktion übernehmen muss. Deshalb sollten Angehörige
während der psychiatrischen Behandlung ihrer Familienmitglieder
(einschließlich Wahlverwandtschaften) in der Supervision das Risiko
reflektieren, dass sie ihre Funktion als BetroffenenfürsprecherInnen
mit der Weiterführung familiendynamischer Konflikte vermengen.
Die Benennung von BetroffenenfürsprecherInnen sollte nicht durch
eine Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft oder einen 'Versorgungs'-Träger
durchgeführt werden.
Zur Finanzierung der zeitaufwendigen und psychisch belastenden
Tätigkeit von BetroffenenfürsprecherInnen sollten bei den 'Versorgungs'-Trägern
der institutionellen Psychiatrie, speziell den Trägern Psychiatrischer
Anstalten, entsprechend dem Verursacherprinzip vorhandene Gelder
prozentual und in ausreichender Höhe umgewidmet werden.
Nötig sind also Parteilichkeit, rechtliche und medizinische Kompetenz
(was nicht bedeutet, dass BetroffenenfürsprecherInnen JuristInnen
oder MedizinerInnen sein müssen). Sie brauchen Geld für Öffentlichkeitsarbeit,
zivil- und strafrechtliche Druckmittel sowie einen direkten Zugang
zu Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung.
Als an der bestehenden Ordnung orientierte Institution handelt
es sich bei den BetroffenenfürsprecherInnen um eine reformistische
Instanz, die durchaus Sinn hat, auch wenn ihre Möglichkeiten beschränkt
sind. Allerdings wird sich an der Psychiatrie nur dann etwas Grundlegendes
ändern, wenn die Betroffenen Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen
Einrichtungen haben, die meinen, Hilfen anbieten zu können, und
die Chance haben, allen psychiatrischen Einrichtungern den Rücken
zu kehren und z.B. in einem Weglaufhaus Aufnbahme und Unterstützung
zu finden (Masson 1991).
Resümee
Das Gewässer, in dem die BetroffenenfürsprecherInnen segeln,
ist vermint. Psychiatrischer Machtanspruch und Finanzinteressen
der Pharmafirmen blasen den Betroffenen (mit deren Wunsch nach
angemessener Hilfe für ihre möglicherweise vorhandenen psychischen
Probleme) und den sie unterstützenden BetroffenenfürsprecherInnen
als eiskalter Wind ins Gesicht. Fehlende Parteilichkeit gar, gepaart
mit ungenügender Kompetenz und mangelhaften Mitteln zur Finanzierung
eines an die (Fach-)Öffentlichkeit gerichteten Handelns, würden
der Institution Betroffenenfürsprecher tendenziell eine bloße
Alibifunktion zuweisen und sie so lächerlich machen wie den hektischen
Ruderer im Trockendock.
Quellen
-
Breggin, Peter R.: Auf
dem Weg zum Verbot des Elektroschocks, in: Kerstin
Kempker / Peter Lehmann (Hg.): Statt
Psychiatrie, Berlin 1993, S. 156-172
-
Kempker, Kerstin: Teure
Verständnislosigkeit Die Sprache der Verrücktheit und
die Entgegnung der Psychiatrie, Berlin 1991
-
Lehmann, Peter: Schöne neue Psychiatrie, Band
1: "Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken, Band
2: "Wie
Psychopharmaka den Körper verändern", Berlin 1996 (E-Books 2022)
-
Masson, Jeffrey M.:
Vorwort zu: Uta Wehde: Das
Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene.
Erfahrungen, Konzeptionen, Probleme", Berlin 1991,
S. 5-8
-
Peeck,
Gisela / von Seckendorff, Christoph / Heinecke, Pierre: "Ergebnis
der Umfrage unter den Mitgliedern des Bundesverbandes Psychiatrieerfahrener
zur Qualität der psychiatrischen Versorgung", in:
Sozialpsychiatrische Informationen, 25. Jg. (1995), Nr. 4,
S. 30-34
-
Schönenberger, Edmund: Zwangspsychiatrie
in der Schweiz was tun?, in: Kerstin Kempker
/ Peter Lehmann (Hg.): Statt
Psychiatrie, Berlin 1993, S. 183-194
-
Wolfensberger, Wolf: "Der neue Genozid an den Benachteiligen,
Alten und Behinderten", Gütersloh 1991
Die Quellenhinweise zu den Abschnitten über unterlassene Aufklärung
und Aufklärungspflicht finden Sie in "Schöne
neue Psychiatrie", Band 1, S. 324ff. (E-Book 2022)
Coyright by Peter Lehmann 1997
|