Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in: Thomas Bock, Dorothea Buck, Jan Gross, Ernst Maß, Eliot
Sorel & Eugen Wolpert (Hg.): "Abschied von Babylon
Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie",
Bonn: Psychiatrie-Verlag 1995, S. 137-144
Peter
Lehmann
Chemische Knebel, tardive Dyskinesien: die andere Seite
der Sozialpsychiatrie
Tardive Dyskinesie, tardive Dystonie, tardive Psychose..... viele
neue Krankheitsformen spiegeln allesamt den gleichen Skandal wider:
Schäden, die auch die ambulante Form sozialpsychiatrischer
Behandlung häufig Neuroleptika in Depotform setzt.
Die speziellen gemeindepsychiatrischen Mechanismen unterstützen
die Verabreichung der chemischen Knebel. Die genannten Langzeitschäden
verstärken das Phänomen der Drehtürpsychiatrie, sichern
Pharmaherstellern Absatzmärkte, garantieren psychiatrisch Tätigen
Arbeitsplätze und befriedigen Schizophrenie-Theoretiker in
ihrem Glauben an Geisteskrankheit. Wer tut den ersten Schritt in
Richtung Ausstieg aus diesem traurigen Kapitel moderner Psychiatrie?
Dringend nötig sind statt immer neuer gemeindepsychiatrischer
Einrichtungen und immer mehr psychiatrischer Psychopharmaka
diagnoseunabhängige und einklagbare Menschen- und Bürgerrechte
sowie Finanzmittel für unabhängige und nutzerkontrollierte
Alternativen.
Kontrollorgan Gemeindepsychiatrie
Moderne gemeindepsychiatrische Bestrebungen waren die Reaktion
auf die Entwicklung von Depot-Neuroleptika: neue Verabreichungstechniken
waren entwickelt, die es psychiatrisch Tätigen ermöglichten,
eine Vielzahl von Anstaltsinsassinnen und -insassen aus den geschlossenen
Stationen zu entlassen. Gemeindenahe Aussenstellen in Anlehnung
an die Psychiatrische Aussenfürsorge vor 1945 hatte schon 1961
Psychiater Harald Neumann in Medicina experimentalis herbeigesehnt;
er meinte,
»... dass in Zukunft wahrscheinlich die Hauptaufgabe jeder
nachgehenden Fürsorge der Psychiatrischen Landeskrankenhäuser
sein wird, die Dauermedikation entlassener schizophrener Kranker
zu überwachen, um möglichst viele Kranke draussen halten
zu können.«
Seit 1961 ist viel Zeit vergangen, und inzwischen hat man
nicht nur in Deutschland ein engmaschiges gemeindepsychiatrisches
Netz geknüpt, bestehend aus sogenannten Tages- und Nachtkliniken,
Beratungsstellen, Laienhelfern und -helferinnen, Patientenklubs,
Hausbesuchs-, Krisendiensten und Sozialpsychiatrischen Diensten,
therapeutischen Wohngemeinschaften, Übergangseinrichtungen,
Nachsorgesprechstunden, Sonderabteilungen in normalen Krankenhäusern,
organisierten Angehörigengruppen, Beschäftigungsstätten.
Grundelement der gemeindepsychiatrischen Praxis ist, so z.B. Hanfried
Helmchen, Hanns Hippius und Peter Tiling 1967 in ihrem Aufsatz »Die
Zusammenarbeit von Klinik und Praxis bei der langfristigen medikamentösen
Behandlung von Psychose-Kranken« in Der Internist ,
die psychopharmakologische und soziale Totalüberwachung:
»Vor diesem Hintergrund können Arzt und nachgehende
Fürsorge die weiteren Hilfen für den Kranken etwa seitens
der öffentlichen Gesundheitsämter oder der Arbeitsämter
oder bestimmter Betriebe koordinieren. Vor allem aber können
sie in engem Kontakt mit dem weiterbehandelnden Hausarzt den psychosozialen
Leistungsbereich des Patienten gut abschätzen und dementsprechend
einen wirklichkeitsgerechten Gesamtbehandlungsplan aufstellen.
Ein wesentliches Fundament dieses ganzen Systems ist nun die psychiatrische
Pharmakotherapie.«
Depot-Neuroleptika spielen in diesem Konzept die wesentliche Rolle,
so Otfried Linde, Pharma-Werber, Psychiater aus der Pfalz-Klinik
Landeck und Berater des Angehörigenverbands; auch in seiner
Absicht »... ist eine verlässliche depotneuroleptische
Behandlung die conditio sine qua non (unerlässliche Voraussetzung)
für eine extramurale (ausserhalb der Anstaltsmauern
vollzogene) Therapie.« Dass Depot-Neuroleptika im sozialpsychiatrischen
Kalkül die Erfolgsrolle spielen, erläuterte beispielsweise
der Psychiater Raoul Schindler: »Der Vormarsch der Depot-Neuroleptika
ermöglicht grundsätzlich eine fast 100%ige Nachbehandlungsdisziplin...«
Eine Vielzahl von psychiatrischen Bestätigungen für diese
Aussagen wie auch weitere Berichte über die fundamentalistische
Orientierung an der biologisch-psychopharmakologischen Sozialpsychiatrie
finden Sie in dem Artikel »Wege zum Ausstieg aus der Psychiatrie«
(1). Leider herrscht hierzulande ein furchtbares Schweigen über
die Tatsache, dass der zunehmende Ausbau gemeindepsychiatrischer
Einrichtungen die Rate von Zwangseinweisungen (Ze) ständig
steigert, wie dies der Bremer Psychiater Georg Bruns 1986 nachgewiesen
hat: »Das unterschiedliche Niveau und der Anstieg der ZE-raten
in den drei Regionen korrelieren gleichsinnig mit der ambulanten
psychiatrischen Versorgungsdichte«. Dieses Schweigen ist nicht
weniger laut als das Schweigen über die Tatsache, dass Depot-Neuroleptika
unter Psychiatern als der Risikofaktor bei der Entstehung
tardiver Dyskinesien gelten.
Tardive Dyskinesien
Eine Vielzahl von psychischen, geistigen, vegetativen und motorischen
Risiken und Schäden, die regelhaft mit der Verabreichung von
Neuroleptika verbunden sind, sind ausführlich in meinem Buch
»Der chemische Knebel« (2) beschrieben. Ich will diese
Schäden hier nicht wiederholen. Eine Vielzahl tardiver, d.h.
im Laufe der Verabreichung oder erst nach ihrer Beendigung eintretender
und häufig chronischer Störungen wird einer der Schwerpunkte
in meinem 1995 erscheinenden neuen Buch (in Vorbereitung) über
Risiken und Schäden durch die modernen Neuroleptika sein.
Muskelstörungen, die unter dem Einfluss von Neuroleptika auftreten,
sind mittelbare Auswirkungen, die regelhaft mehr oder weniger ausgeprägt
auftreten, wie Psychiater immer wieder bestätigen. Den Muskelstörungen
liegen Neuroleptika-bedingte Störungen der Nervenimpuls-Übertragung
und Schädigungen verschiedener Hirnregionen zugrunde. Die Muskelstörungen
können auftreten als
-
Hypokinesien oder Akinesien (Verminderung oder Verlust der
willkürlichen und unwillkürlichen Funktionsfähigkeit
der Muskulatur) bzw. Parkinsonoide
-
Hyperkinesien (z.B. Tics)
-
Bewegungsstereotypen wie z.B. Akathisien
-
Dystonien (anfallsweise oder anhaltend auftretende krampfartige
und z.T. schmerzhafte Störungen der Muskelspannung), z.B.
Krämpfen im Zungen-Schlund-Bereich, die zu Erstickungsanfällen
führen können, und
-
tardive Dyskinesien: Muskelstörungen aller Art, die im
Laufe der Verabreichung, beim Absetzen oder danach auftreten.
Alle Schäden können chronisch werden. Mit Ausnahme
des Parkinsonoids können die Schäden auch dann erstmals
auftreten, wenn man die Neuroleptika absetzt oder gerade abgesetzt
hat.
Muskelstörungen würden lediglich beängstigend anmuten,
seien vielleicht subjektiv störend, letztlich aber harmlose
Begleiteffekte und keine ernsthafte Gefahren. Mit solchen Formulierungen
versuchen Psychiater und Mediziner immer wieder, bekanntgewordene
Berichte über Schäden und Risiken zu relativieren. Hyperkinesien
und Dystonien »sind im Grunde ungefährlich« (Hippius),
höchstens Überempfindlichkeitsreaktionen, die bei vorgeschädigten,
genetisch prädisponierten, besonders empfindlichen und älteren
Patienten festzustellen seien.
Hier zur Veranschaulichung und als Beleg für die Schwere dieser
psychiatrogenen Erkrankung das drastische Fallbeispiel einer tardiven
Dyskinesie, die Kashinath Yadalam und Kollegen vom Eastern Pennsylvania
Psychiatric Institute Philadelphia 1990 im Journal of Clinical
Psychiatry publizierten:
»Herrn D.s Bewegungsstörung, die 1982 nach einer einjährigen
Behandlung mit Thiothixen (Orbinamon) 20 mg/Tag begann,
war durch dystonische Bewegungen seines Halses, Rumpfes und seiner
Schultern charakterisiert. Diese Bewegungen nahmen nach Absetzen
der antipsychotischen Medikation zu, auch im Laufe der anschliessenden
Jahre. Man versuchte, Herrn D.s psychiatrische Symptome und die
dystonischen Bewegungen mit Lithium und Anxiolytika (angstlösenden
Mitteln, z.B. Antidepressiva oder Tranquilizer) zu kontrollieren,
obwohl man zeitweise 1 oder 2 mg Haloperidol benutzte. Allmählich
behinderten ihn seine Bewegungen vollständig. Wegen dieser
Schwierigkeiten begann er, beim Gehen für seinen Hinterkopf
an der Wand Halt zu suchen; dabei verursachte die Reibung an der
linken Seite des Kopfes einen kahlen Fleck. Lag er flach auf dem
Rücken, bewegte sich Herrn D.s Hals unwillkürlich in
eine beliebige Richtung. Zur Erleichterung legte er sich flach
auf den Fussboden, während sein Vater ein Kissen auf Herrn
D.s Kopfseite breitete und seinen Fuss darauf stellte. Herr D.
konnte nicht laufen, auch keine Treppe hochgehen, daher kam er
im Rollstuhl zur Klinik. Andererseits, wenn er zu Hause blieb,
verbrachte er seine meiste Zeit in einem chirurgischen Bett. Da
die dystonischen Bewegungen nach und nach Herrn D.s gesamten Körper
einschliesslich Axis (und Gliedmassen erfassten, sprach sich ein
Neurochirurg für eine bilaterale Thalamotomie (beidseitige
stereotaktische Elektrokoagulation [Gewebszerstörung mittels
Elektroden] spezieller Teile des Thalamus) aus. Das Verfahren
eliminierte die dystonischen Bewegungen komplett, hinterließ
aber eine leicht ausgeprägte undeutliche Aussprache, die
im Lauf der Zeit geringer wurde. Ein paar Monate später wurde
Herr B. psychotisch, erlebte einen ausgeprägten Beziehungswahn,
akustische Halluzinationen und einen kurzzeitigen Wahn, die Chirurgen
hätten ihm Elektroden in den Kopf plaziert, mit denen andere
seine Gedanken lesen könnten. Lithium alleine oder kombiniert
mit Carbamazepin schlug nicht an. Die Behandlung mit Mesoridazin
200 mg/Tag eliminierte alle psychotischen Symptome; Herrn D.s
Bewegungen sind bis dahin nicht zurückgekehrt. Ein Jahr nach
der Thalamotomie wurde Herr D. wegen einer depressiven Episode
hospitalisiert, die sich mit einer EKT-(Elektroschock-) Serie
behandeln ließ.....«
Eine wirksame Behandlung der tardiven Dyskinesien ist nicht möglich.
Heimtückischerweise treten tardive Syndrome oft erst nach dem
Verringern der Neuroleptika oder ihrem völligen Absetzen in
Erscheinung. Die Zahlenangaben zu der Frage, wie häufig sich
nach Absetzen der Neuroleptika tardive Dyskinesien wieder rückbilden,
liegen zwischen 0 und 90%.
Als Ursachen der tardiven Dyskinesien betrachten Mediziner und
Pharmakologen Rezeptorenveränderungen und Hirnschäden.
Eine Forschergruppe um Angus Mackay vom Argyll and Bute Hospital
in Lochgilphead in Schottland fand 1982 im Laborversuch heraus,
dass Neuroleptika zu einer unnatürlichen und chronischen Erhöhung
der Zahl der Dopaminrezeptoren sowie einem erhöhten Dopaminspiegel
führen. Offenbar reagiert der Organismus auf die künstliche
chemische Blockade der Dopamin-Rezeptoren mit der Bildung zusätzlicher
Rezeptoren, die sich nach Ende der Neuroleptika-Verabreichung nicht
immer zurückbilden, so dass es zu einem Ungleichgewicht von
Transmittern und Rezeptoren und einer Übersensitivität
der Dopamin-Rezeptoren kommen kann. Diese Neuroleptika-bedingten
Veränderungen des Rezeptorensystems gelten bei vielen Forschern
als behandlungsbedingte Ursachen sowohl für tardive Dyskinesien
als auch für die sogenannten Supersensitivitäts-Psychosen.
Als massgebend für tardive Dyskinesien gelten besonders Veränderungen
spezieller Dopaminrezeptoren-Subtypen, der Dopamin-D-2-Rezeptoren;
dem atypischen Clozapin wird dagegen eher die Veränderung von
Dopamin-D-1- und D-4-Rezeptoren zugeschrieben.
Eine besondere Stellung unter Neuroleptika, die Supersensitivitäts-Psychosen
fördern, scheint Clozapin (Alemoxan, Leponex) einzunehmen.
In Schweden, wo man diese Substanz intensiv einsetzte, stellte man
bei einer ganzen Reihe von Betroffenen beim Absetzen von Clozapin
psychotische Symptome in einer Stärke fest, die vorher nicht
vorhanden war. Wie Urban Ungerstedt und Tomas Ljungberg, Mitarbeiter
der Histologischen Abteilung des Karolinska Instituts in Stockholm,
in den Advances of Biochemical Psychopharmacology ausführten,
wirkt Clozapin besonders stark auf die limbischen Dopamin-Rezeptoren,
was bei Ratten zu verminderter Bewegungsfähigkeit führt;
zu Vergleichszwecken verabreichtes Haloperidol wirke eher auf die
Nagetätigkeit:
»Wenn wir unsere Haloperidol-Ergebnisse zu klinischen Erfahrungen
mit diesem Medikament in Beziehung setzen, lockt die Annahme,
die Potenzierung des Nagens im chronisch behandelten Tier stehe
in Beziehung zu tardiven Dyskinesien, die wir bei Patienten sahen.
Der zugrundeliegende Mechanismus ist vielleicht die Erzeugung
einer Supersensitivität von Dopamin-Rezeptoren, besonders
in den Gebieten, wo Haloperidol besonders wirksam Dopamin-Rezeptoren
hemmt, d.h. vermutlich im Caudatus nucleus . Klinische Erfahrung
lässt erkennen, dass Clozapin spezifischer als
Haloperidol bei der Behandlung der Psychose sein kann. Unsere
Verhaltensdaten zeigen, dass diese Besonderheit des
Clozapin auf seine vergleichsweise stärkere Hemmung von limbischen
Dopamin-Rezeptoren zurückzuführen ist. Diese Rezeptoren
können somit am ehesten etwas mit der Entwicklung der Supersensitivität
nach chronischer Clozapin-Behandlung zu tun haben. Das Gegenstück
zu tardiven Dyskinesien nach chronischem Haloperidol kann somit
die Potenzierung von psychotischem Verhalten nach chronischem
Clozapin sein! Diese Ergebnisse werfen augenfällig ernste
Fragen auf hinsichtlich der Strategie für den Versuch, neue,
wirksame antipsychotische Medikamente zu finden. Wird ein Medikament,
das spezifische Rezeptoren blockiert, eine spezifische
Rezeptoren-Supersensibilität und somit spezifische
Nebenwirkungen verursachen, d.h. die Krankheit selbst potenzieren?
«
Hier soll nicht der Platz sein, eine Diskussion über den Sinn
von Begriffen wie psychische Krankheit oder Psychose wieder aufflackern
zu lassen (3). Viel existentieller ist die Tatsache, dass Forscher,
die sich mit dem Einfluss tardiver Dyskinesien auf die Lebenserwartung
beschäftigten, seit drei Jahrzehnten allesamt zu den gleichen
Ergebnissen kamen: tardive Dyskinesien und Verminderung der Lebenserwartung
korrelieren signifikant, einfacher ausgedrückt: Menschen mit
tardiver Dyskinesie sterben schneller. Keine Beziehung fanden viele
Studien allerdings zwischen tardiven Dyskinesien und der Dosishöhe,
dem Alter oder Geschlecht der Erkrankten und der Potenz des Neuroleptikums
(potent oder schwachpotent). Antiparkinsonmittel, Neuroleptikawechsel,
Neuroleptika-freie Perioden gelten als wirkungslos oder als zusätzliche
Risikofaktoren.
Nicht klar antworten können Psychiater auf die Frage, welche
Zeit es braucht, bis Muskelstörungen chronisch werden. Manche
behaupten, sie würden erst im Verlauf einer sogenannten Langzeitmedikation
auftreten, d.h. nach ca. sechs bis zwölf Monaten, während
andere Psychiater eine drei- bis sechsmonatige Behandlung als ausreichend
erlebten. Die Haldol-Firma McNeil Pharmaceutical warnte z.B. im
Februar 1988 in den Archives of General Psychiatry im Kleingedruckten
ihrer Werbeanzeige:
»Tardive Dyskinesie, ein Syndrom, das aus möglicherweise
irreversiblen unfreiwilligen dyskinetischen Bewegungen besteht,
kann bei Patienten auftreten, die mit antipsychotischen Mitteln
behandelt worden sind. Obwohl die Verbreitung des Syndroms bei
älteren Menschen, speziell bei älteren Frauen, am höchsten
zu sein scheint, ist es unmöglich, eine Beziehung zur Verbreitung
überhaupt herzustellen und zu Beginn einer antipsychotischen
Behandlung vorherzusagen, welche Patienten das Syndrom entwickeln
könnten. Ob antipsychotische Medikamente sich in ihrem Potential
unterscheiden, tardive Dyskinesie zu verursachen, ist unbekannt.
Man geht davon aus, dass mit der Dauer der Behandlung und der
sich summierenden Gesamtdosis der verabreichten antipsychotischen
Medikamente beim Patienten das Risiko steigt, eine tardive Dyskinesie
zu entwickeln; ebenso nimmt die Möglichkeit zu, dass die
tardive Dyskinesie irreversibel wird. Jedoch kann sich das Syndrom
wenn auch viel seltener selbst nach relativ kurzen
Behandlungsperioden mit niedrigen Dosen entwickeln.«
Strategien gegen psychiatrische Gewalt
Anstelle fortgesetzter Neuroleptika-Verabreichung und endloser
psychiatrischer Behandlung hatte der US-amerikanische Psychiater
George Simpson 1977 vorgeschlagen:
»Die beste Behandlung momentan ist das schrittweise Absetzen
der Neuroleptika und ihren Ersatz durch Tranquilizer, um die Angst
zu lindern. Das Potential der Neuroleptika, tardive Dyskinesien
zu verursachen, ist eine ernstzunehmende Komplikation bei einer
beträchtlichen Zahl von Patienten und sollte bei allen Patienten
einen Absetzversuch nahelegen.«
Ich darf als bekannt voraussetzen, dass Simpson seine Warnung in
den Wind gesprochen hat. Fürsorge ist nicht unbedingt das Grundelement
in der Psychiatrie eher Gewalt. In seinem Lehrbuch »Irren
ist menschlich« beschrieb der Sozialpsychiater Dörner
nüchtern und ehrlich, wie es in Aufnahmestationen zum Einsatz
von Neuroleptika gegen Menschen mit störender Sinnes- und Lebensweise
kommt. Tief sind die Einblicke, die er in allgemeinpsychiatrisches
Denken gewährte:
»Häufiger passiert es, dass in dieser Weise bedrohte
oder drohende Menschen mit Zwang in die Klinik kommen. Die Zwangssituation
setzt in größter Erregung ein, steigert die Erregung
dann nochmal, so dass es üblich ist, sofort Neuroleptika
zu verabreichen, weil ich und andere die Menschen, die so in Erregung
sind, heutzutage nicht anders aushalten können
oder wollen. Die Beziehungsaufnahme nach so einem Knall kann eigentlich
nur von der Gewalt ausgehen, kann nicht verharmlosen, kann nur
die Begegnung von Gegnern sein.«
Kehrseite der sich nach aussen stets freundlich gebenden Sozialpsychiatrie
ist ebenso eine Gewaltform, wie sie als Erschleichung einer Zustimmung
zur Behandlung ohne rechtswirksame Aufklärung die Regel zu
sein scheint: indem die Risiken von Neuroleptika verharmlost oder
nicht benannt werden. Zwei Beispiele: 1981 verdeutlichte Helmchen
den Standpunkt seiner Berufsgruppe, die ihn zum Präsidenten
gewählt hatte:
»Vermutlich wäre die Ablehnungsrate sehr hoch, wenn
alle akut schizophrenen Patienten über dieses Nebenwirkungsrisiko
vor Beginn einer notwendigen neuroleptischen Behandlung informiert
würden.«
Asmus Finzen soll als Beispiel für eine Desinformationsstrategie
aus dem Jahre 1993 dienen: er versucht, das Ausmass der millionenfach
z.T. schon nach Wochen und Monaten auftretenden epidemieartigen
Neuroleptika-bedingten Dauerschäden als Ausnahmen zu begatellisieren:
»Diese sogenannten Spätdyskinesien bilden sich bei einzelnen
Kranken nach langjähriger Neuroleptika-Dauerbehandlung aus.«
Dabei litten nach Berechnungen des englischen Psychologen David
Hill von der Psychiatrievereinigung MIND (vergleichbar der DGSP)
1985 weltweit bereits 38,5 Millionen Menschen irreversibel an tardiver
Dyskinesie. 1992 meldete sich Hill im Clinical Psychology Forum
mit neuen Hochrechnungen und unter Verwendung einer Vielzahl konventioneller
psychiatrischer Zahlenangaben erneut zu Wort:
»Man hat geschätzt, dass zwischen 1954 und 1970 weltweit
250 Millionen Menschen Neuroleptika verabreicht bekamen. Mit Sicherheit
scheint man nach den vergangenen 22 Jahren von einer Verdopplung
dieser Zahl ausgehen zu können. Die zurückhaltendste
Schätzung (25,7%) sie ignoriert die milderen Symptome
und die kaschierende Wirkung legt nahe, dass ungefähr
128,5 Millionen Menschen bisher an tardiver Dyskinesie litten.
Bei annähernd 86 Millionen davon sind die Symptome, die von
peinlichen Mundbewegungen bis zu entkräftenden Schüttelbewegungen
der Extremitäten reichen, irreversibel.«
Bezeichnend ist auch, dass auf dem gesamten Weltkongress der Sozialpsychiatrie
1994 nur diese eine Arbeitsgruppe sich mit den Behandlungsschäden
und speziell den tardiven Dyskinesien beschäftigt. Auf der
anderen Seite bemühen sich Psychiatrie-Betroffene weltweit
um die Durchsetzung von Schmerzensgeldklagen. Um die Rechtsposition
von Psychiatrie-Betroffenen besser als diejenige von Versuchstieren
zu machen, hat das Europäische Netzwerk von Psychiatrie-Betroffenen
eine multinationale Arbeitsgruppe geschaffen, die alle Informationen
über zivilrechtliche Schmerzensgeldklagen oder strafrechtliche
Tatbestände sammelt, auswertet, speichert und Klägern
und Klägerinnen unterstützend zur Verfügung stellen
will (Kontakt c/o Peter Lehmann). Immerhin gibt es in den USA schon
seit vielen Jahren erfolgreiche Klagen gegen Herstellerfirmen und
Verabreicher, mit Millionenbeträgen, wieso sollte dies nicht
auch in Europa möglich sein?
Die Situation (akuter und eventuell zukünftiger) Psychiatrie-Betroffener
lässt sich in vielfältiger Weise verbessern. Schlüsselbegriffe
zur dringend erforderlichen Humanisierung der Lage von Psychiatrie-Betroffenen
sind hierbei
-
die rechtliche Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen,
d.h. strafrechtliche Verfolgung von Behandlung ohne Zustimmung
z.B. mithilfe des Psychiatrischen Testaments (4)
-
Aufklärung über Gefahren moderner psychiatrischer
Behandlungsmaßnahmen mit scharfem Blick auf die braunen
Ursprünge gerade der Sozialpsychiatrie (5)
-
Aufzeigen der Absurdität der Übernahme des psychiatrischen
Krankheitsmodells (6)
-
schrittweiser Reduzierung von Finanzmitteln der Anstalts-
und gemeindenahen Psychiatrie und
-
Unterstützung individueller Resozialisierungsmaßnahmen
sowie finanzielle Förderung Psychiatrie-unabhängiger
Selbsthilfe- und Unterstützungsprojekte wie Kommunikationszentren,
Krisen-Einrichtungen, Weglaufhäuser (7) usw.
Summary: Chemical gags, tardive dyskinesia the backside
of social-psychiatry
Tardive dyskinesia, tardive dystonia, tardive psychosis..... many
new diseases reflect the same scandal: damages, caused by out-patient
social-psychiatric treatment, frequently using long-acting neuroleptics.
The special mechanisms of community-psychiatric treatment support
the administration of »chemical gags«. The above mentioned
chronic damages intensify the phenomenon of revolving-door-psychiatry,
secure markets for drug-companies, protect the jobs of psychiatrists
and their followers and give satisfaction to theorists, who believe
in schizophrenia and mental illness. Most necessary as first steps
out of this sad chapter of modern psychiatry are instead
more and more new outpatient institutions and more and more psychiatric
psychopharmaceutica diagnoses-independent human and civil
rights, which are legally recoverable, as well as financial resources
for autonomous and user-controlled organisations and alternatives.
Literatur
Die Quellen der psychiatrischen Zitate werden in
meinem 1995 erscheinenden Buch enthalten sein. Titel und Erscheinungstermin
bitte erfragen. Weitere Quellen:
-
Peter Lehmann,
Peter Stastny, Don Weitz: Wege zum Ausstieg aus der Psychiatrie,
in: Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin
1993, S. 449-482
-
Peter
Lehmann: Der chemische Knebel Warum Psychiater Neuroleptika
verabreichen, 3. Aufl., Berlin 1993 (eBook 2022)
-
Peter
Lehmann: Vom Streit um den Glauben zu den wahren Problemen,
in: Pro mente sana aktuell (Schweiz), Nr. 2/1994, S. 18-20
-
Hubertus
Rolshoven, Peter Rudel: Das formelle Psychiatrische Testament.
Gebrauchsanweisung und Mustertext, in: Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin
1993, S. 282-298
-
Peter
Lehmann: »Progressive« psychiatry: publisher J.F.
Lehmann as promoter of social psychiatry under fascism,
in: Changes (England), Vol. 12 (1994), Nr. 1, S. 37-49; ders.:
Fortgeschrittene
Psychiatrie Der J.F. Lehmanns Verlag als Wegbereiter
der Sozialpsychiatrie im Faschismus«, in: Psychologie
& Gesellschaftskritik, 18. Jg. (1992), Heft 62, S. 69-79
-
Kerstin
Kempker: Teure Verständnislosigkeit Die Sprache
der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie,
Berlin 1991
-
Uta
Wehde: Das Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene.
Erfahrungen, Konzeptionen, Probleme, Berlin 1991; dies.:
»The Runaway-house: Human support instead of inhuman psychiatric
treatment«, in: Changes, Vol. 10 (1992), no. 2, pp. 154-160
Copyright by Peter Lehmann 1995
|