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in: Thomas Bock, Dorothea Buck, Jan Gross, Ernst Maß, Eliot Sorel & Eugen Wolpert (Hg.): "Abschied von Babylon – Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie", Bonn: Psychiatrie-Verlag 1995, S. 137-144 / PDF



Peter Lehmann

Chemische Knebel, tardive Dyskinesien: die andere Seite der Sozialpsychiatrie

Tardive Dyskinesie, tardive Dystonie, tardive Psychose..... viele neue Krankheitsformen spiegeln allesamt den gleichen Skandal wider: Schäden, die auch die ambulante Form sozialpsychiatrischer Behandlung – häufig Neuroleptika in Depotform – setzt. Die speziellen gemeindepsychiatrischen Mechanismen unterstützen die Verabreichung der chemischen Knebel. Die genannten Langzeitschäden verstärken das Phänomen der Drehtürpsychiatrie, sichern Pharmaherstellern Absatzmärkte, garantieren psychiatrisch Tätigen Arbeitsplätze und befriedigen Schizophrenie-Theoretiker in ihrem Glauben an Geisteskrankheit. Wer tut den ersten Schritt in Richtung Ausstieg aus diesem traurigen Kapitel moderner Psychiatrie? Dringend nötig sind – statt immer neuer gemeindepsychiatrischer Einrichtungen und immer mehr psychiatrischer Psychopharmaka – diagnoseunabhängige und einklagbare Menschen- und Bürgerrechte sowie Finanzmittel für unabhängige und nutzerkontrollierte Alternativen.

Kontrollorgan Gemeindepsychiatrie

Moderne gemeindepsychiatrische Bestrebungen waren die Reaktion auf die Entwicklung von Depot-Neuroleptika: neue Verabreichungstechniken waren entwickelt, die es psychiatrisch Tätigen ermöglichten, eine Vielzahl von Anstaltsinsassinnen und -insassen aus den geschlossenen Stationen zu entlassen. Gemeindenahe Aussenstellen in Anlehnung an die Psychiatrische Aussenfürsorge vor 1945 hatte schon 1961 Psychiater Harald Neumann in Medicina experimentalis herbeigesehnt; er meinte,

»... dass in Zukunft wahrscheinlich die Hauptaufgabe jeder nachgehenden Fürsorge der Psychiatrischen Landeskrankenhäuser sein wird, die Dauermedikation entlassener schizophrener Kranker zu überwachen, um möglichst viele Kranke draussen halten zu können.«

Seit 1961 ist viel Zeit vergangen, und inzwischen hat man – nicht nur in Deutschland – ein engmaschiges gemeindepsychiatrisches Netz geknüpt, bestehend aus sogenannten Tages- und Nachtkliniken, Beratungsstellen, Laienhelfern und -helferinnen, Patientenklubs, Hausbesuchs-, Krisendiensten und Sozialpsychiatrischen Diensten, therapeutischen Wohngemeinschaften, Übergangseinrichtungen, Nachsorgesprechstunden, Sonderabteilungen in normalen Krankenhäusern, organisierten Angehörigengruppen, Beschäftigungsstätten. Grundelement der gemeindepsychiatrischen Praxis ist, so z.B. Hanfried Helmchen, Hanns Hippius und Peter Tiling 1967 in ihrem Aufsatz »Die Zusammenarbeit von Klinik und Praxis bei der langfristigen medikamentösen Behandlung von Psychose-Kranken« in Der Internist, die psychopharmakologische und soziale Totalüberwachung:

»Vor diesem Hintergrund können Arzt und nachgehende Fürsorge die weiteren Hilfen für den Kranken etwa seitens der öffentlichen Gesundheitsämter oder der Arbeitsämter oder bestimmter Betriebe koordinieren. Vor allem aber können sie in engem Kontakt mit dem weiterbehandelnden Hausarzt den psychosozialen Leistungsbereich des Patienten gut abschätzen und dementsprechend einen wirklichkeitsgerechten Gesamtbehandlungsplan aufstellen. Ein wesentliches Fundament dieses ganzen Systems ist nun die psychiatrische Pharmakotherapie

Depot-Neuroleptika spielen in diesem Konzept die wesentliche Rolle, so Otfried Linde, Pharma-Werber, Psychiater aus der Pfalz-Klinik Landeck und Berater des Angehörigenverbands; auch in seiner Absicht »... ist eine verlässliche depotneuroleptische Behandlung die conditio sine qua non (unerlässliche Voraussetzung) für eine extramurale (ausserhalb der Anstaltsmauern vollzogene) Therapie.« Dass Depot-Neuroleptika im sozialpsychiatrischen Kalkül die Erfolgsrolle spielen, erläuterte beispielsweise der Psychiater Raoul Schindler: »Der Vormarsch der Depot-Neuroleptika ermöglicht grundsätzlich eine fast 100%ige Nachbehandlungsdisziplin...«

Eine Vielzahl von psychiatrischen Bestätigungen für diese Aussagen wie auch weitere Berichte über die fundamentalistische Orientierung an der biologisch-psychopharmakologischen Sozialpsychiatrie finden Sie in dem Artikel »Wege zum Ausstieg aus der Psychiatrie« (1). Leider herrscht hierzulande ein furchtbares Schweigen über die Tatsache, dass der zunehmende Ausbau gemeindepsychiatrischer Einrichtungen die Rate von Zwangseinweisungen (Ze) ständig steigert, wie dies der Bremer Psychiater Georg Bruns 1986 nachgewiesen hat: »Das unterschiedliche Niveau und der Anstieg der ZE-raten in den drei Regionen korrelieren gleichsinnig mit der ambulanten psychiatrischen Versorgungsdichte«. Dieses Schweigen ist nicht weniger laut als das Schweigen über die Tatsache, dass Depot-Neuroleptika unter Psychiatern als der Risikofaktor bei der Entstehung tardiver Dyskinesien gelten.

Tardive Dyskinesien

Eine Vielzahl von psychischen, geistigen, vegetativen und motorischen Risiken und Schäden, die regelhaft mit der Verabreichung von Neuroleptika verbunden sind, sind ausführlich in meinem Buch »Der chemische Knebel« (2) beschrieben. Ich will diese Schäden hier nicht wiederholen. Eine Vielzahl tardiver, d.h. im Laufe der Verabreichung oder erst nach ihrer Beendigung eintretender und häufig chronischer Störungen wird einer der Schwerpunkte in meinem 1995 erscheinenden neuen Buch (in Vorbereitung) über Risiken und Schäden durch die modernen Neuroleptika sein.

Muskelstörungen, die unter dem Einfluss von Neuroleptika auftreten, sind mittelbare Auswirkungen, die regelhaft mehr oder weniger ausgeprägt auftreten, wie Psychiater immer wieder bestätigen. Den Muskelstörungen liegen Neuroleptika-bedingte Störungen der Nervenimpuls-Übertragung und Schädigungen verschiedener Hirnregionen zugrunde. Die Muskelstörungen können auftreten als

  • Hypokinesien oder Akinesien (Verminderung oder Verlust der willkürlichen und unwillkürlichen Funktionsfähigkeit der Muskulatur) bzw. Parkinsonoide

  • Hyperkinesien (z.B. Tics)

  • Bewegungsstereotypen wie z.B. Akathisien

  • Dystonien (anfallsweise oder anhaltend auftretende krampfartige und z.T. schmerzhafte Störungen der Muskelspannung), z.B. Krämpfen im Zungen-Schlund-Bereich, die zu Erstickungsanfällen führen können, und

  • tardive Dyskinesien: Muskelstörungen aller Art, die im Laufe der Verabreichung, beim Absetzen oder danach auftreten. Alle Schäden können chronisch werden. Mit Ausnahme des Parkinsonoids können die Schäden auch dann erstmals auftreten, wenn man die Neuroleptika absetzt oder gerade abgesetzt hat.

Muskelstörungen würden lediglich beängstigend anmuten, seien vielleicht subjektiv störend, letztlich aber harmlose Begleiteffekte und keine ernsthafte Gefahren. Mit solchen Formulierungen versuchen Psychiater und Mediziner immer wieder, bekanntgewordene Berichte über Schäden und Risiken zu relativieren. Hyperkinesien und Dystonien »sind im Grunde ungefährlich« (Hippius), höchstens Überempfindlichkeitsreaktionen, die bei vorgeschädigten, genetisch prädisponierten, besonders empfindlichen und älteren Patienten festzustellen seien.

Hier zur Veranschaulichung und als Beleg für die Schwere dieser psychiatrogenen Erkrankung das drastische Fallbeispiel einer tardiven Dyskinesie, die Kashinath Yadalam und Kollegen vom Eastern Pennsylvania Psychiatric Institute Philadelphia 1990 im Journal of Clinical Psychiatry publizierten:

»Herrn D.s Bewegungsstörung, die 1982 nach einer einjährigen Behandlung mit Thiothixen (Orbinamon) 20 mg/Tag begann, war durch dystonische Bewegungen seines Halses, Rumpfes und seiner Schultern charakterisiert. Diese Bewegungen nahmen nach Absetzen der antipsychotischen Medikation zu, auch im Laufe der anschliessenden Jahre. Man versuchte, Herrn D.s psychiatrische Symptome und die dystonischen Bewegungen mit Lithium und Anxiolytika (angstlösenden Mitteln, z.B. Antidepressiva oder Tranquilizer) zu kontrollieren, obwohl man zeitweise 1 oder 2 mg Haloperidol benutzte. Allmählich behinderten ihn seine Bewegungen vollständig. Wegen dieser Schwierigkeiten begann er, beim Gehen für seinen Hinterkopf an der Wand Halt zu suchen; dabei verursachte die Reibung an der linken Seite des Kopfes einen kahlen Fleck. Lag er flach auf dem Rücken, bewegte sich Herrn D.s Hals unwillkürlich in eine beliebige Richtung. Zur Erleichterung legte er sich flach auf den Fussboden, während sein Vater ein Kissen auf Herrn D.s Kopfseite breitete und seinen Fuss darauf stellte. Herr D. konnte nicht laufen, auch keine Treppe hochgehen, daher kam er im Rollstuhl zur Klinik. Andererseits, wenn er zu Hause blieb, verbrachte er seine meiste Zeit in einem chirurgischen Bett. Da die dystonischen Bewegungen nach und nach Herrn D.s gesamten Körper einschliesslich Axis (und Gliedmassen erfassten, sprach sich ein Neurochirurg für eine bilaterale Thalamotomie (beidseitige stereotaktische Elektrokoagulation [Gewebszerstörung mittels Elektroden] spezieller Teile des Thalamus) aus. Das Verfahren eliminierte die dystonischen Bewegungen komplett, hinterließ aber eine leicht ausgeprägte undeutliche Aussprache, die im Lauf der Zeit geringer wurde. Ein paar Monate später wurde Herr B. psychotisch, erlebte einen ausgeprägten Beziehungswahn, akustische Halluzinationen und einen kurzzeitigen Wahn, die Chirurgen hätten ihm Elektroden in den Kopf plaziert, mit denen andere seine Gedanken lesen könnten. Lithium alleine oder kombiniert mit Carbamazepin schlug nicht an. Die Behandlung mit Mesoridazin 200 mg/Tag eliminierte alle psychotischen Symptome; Herrn D.s Bewegungen sind bis dahin nicht zurückgekehrt. Ein Jahr nach der Thalamotomie wurde Herr D. wegen einer depressiven Episode hospitalisiert, die sich mit einer EKT-(Elektroschock-) Serie behandeln ließ.....«

Eine wirksame Behandlung der tardiven Dyskinesien ist nicht möglich. Heimtückischerweise treten tardive Syndrome oft erst nach dem Verringern der Neuroleptika oder ihrem völligen Absetzen in Erscheinung. Die Zahlenangaben zu der Frage, wie häufig sich nach Absetzen der Neuroleptika tardive Dyskinesien wieder rückbilden, liegen zwischen 0 und 90%.

Als Ursachen der tardiven Dyskinesien betrachten Mediziner und Pharmakologen Rezeptorenveränderungen und Hirnschäden. Eine Forschergruppe um Angus Mackay vom Argyll and Bute Hospital in Lochgilphead in Schottland fand 1982 im Laborversuch heraus, dass Neuroleptika zu einer unnatürlichen und chronischen Erhöhung der Zahl der Dopaminrezeptoren sowie einem erhöhten Dopaminspiegel führen. Offenbar reagiert der Organismus auf die künstliche chemische Blockade der Dopamin-Rezeptoren mit der Bildung zusätzlicher Rezeptoren, die sich nach Ende der Neuroleptika-Verabreichung nicht immer zurückbilden, so dass es zu einem Ungleichgewicht von Transmittern und Rezeptoren und einer Übersensitivität der Dopamin-Rezeptoren kommen kann. Diese Neuroleptika-bedingten Veränderungen des Rezeptorensystems gelten bei vielen Forschern als behandlungsbedingte Ursachen sowohl für tardive Dyskinesien als auch für die sogenannten Supersensitivitäts-Psychosen. Als massgebend für tardive Dyskinesien gelten besonders Veränderungen spezieller Dopaminrezeptoren-Subtypen, der Dopamin-D-2-Rezeptoren; dem atypischen Clozapin wird dagegen eher die Veränderung von Dopamin-D-1- und D-4-Rezeptoren zugeschrieben.

Eine besondere Stellung unter Neuroleptika, die Supersensitivitäts-Psychosen fördern, scheint Clozapin (Alemoxan, Leponex) einzunehmen. In Schweden, wo man diese Substanz intensiv einsetzte, stellte man bei einer ganzen Reihe von Betroffenen beim Absetzen von Clozapin psychotische Symptome in einer Stärke fest, die vorher nicht vorhanden war. Wie Urban Ungerstedt und Tomas Ljungberg, Mitarbeiter der Histologischen Abteilung des Karolinska Instituts in Stockholm, in den Advances of Biochemical Psychopharmacology ausführten, wirkt Clozapin besonders stark auf die limbischen Dopamin-Rezeptoren, was bei Ratten zu verminderter Bewegungsfähigkeit führt; zu Vergleichszwecken verabreichtes Haloperidol wirke eher auf die Nagetätigkeit:

»Wenn wir unsere Haloperidol-Ergebnisse zu klinischen Erfahrungen mit diesem Medikament in Beziehung setzen, lockt die Annahme, die Potenzierung des Nagens im chronisch behandelten Tier stehe in Beziehung zu tardiven Dyskinesien, die wir bei Patienten sahen. Der zugrundeliegende Mechanismus ist vielleicht die Erzeugung einer Supersensitivität von Dopamin-Rezeptoren, besonders in den Gebieten, wo Haloperidol besonders wirksam Dopamin-Rezeptoren hemmt, d.h. vermutlich im Caudatus nucleus . Klinische Erfahrung lässt erkennen, dass Clozapin ›spezifischer‹ als Haloperidol bei der Behandlung der Psychose sein kann. Unsere Verhaltensdaten zeigen, dass diese ›Besonderheit‹ des Clozapin auf seine vergleichsweise stärkere Hemmung von limbischen Dopamin-Rezeptoren zurückzuführen ist. Diese Rezeptoren können somit am ehesten etwas mit der Entwicklung der Supersensitivität nach chronischer Clozapin-Behandlung zu tun haben. Das Gegenstück zu tardiven Dyskinesien nach chronischem Haloperidol kann somit die Potenzierung von psychotischem Verhalten nach chronischem Clozapin sein! Diese Ergebnisse werfen augenfällig ernste Fragen auf hinsichtlich der Strategie für den Versuch, neue, wirksame antipsychotische Medikamente zu finden. Wird ein Medikament, das ›spezifische‹ Rezeptoren blockiert, eine ›spezifische‹ Rezeptoren-Supersensibilität und somit ›spezifische‹ Nebenwirkungen verursachen, d.h. die Krankheit selbst potenzieren? «

Hier soll nicht der Platz sein, eine Diskussion über den Sinn von Begriffen wie psychische Krankheit oder Psychose wieder aufflackern zu lassen (3). Viel existentieller ist die Tatsache, dass Forscher, die sich mit dem Einfluss tardiver Dyskinesien auf die Lebenserwartung beschäftigten, seit drei Jahrzehnten allesamt zu den gleichen Ergebnissen kamen: tardive Dyskinesien und Verminderung der Lebenserwartung korrelieren signifikant, einfacher ausgedrückt: Menschen mit tardiver Dyskinesie sterben schneller. Keine Beziehung fanden viele Studien allerdings zwischen tardiven Dyskinesien und der Dosishöhe, dem Alter oder Geschlecht der Erkrankten und der Potenz des Neuroleptikums (potent oder schwachpotent). Antiparkinsonmittel, Neuroleptikawechsel, Neuroleptika-freie Perioden gelten als wirkungslos oder als zusätzliche Risikofaktoren.

Nicht klar antworten können Psychiater auf die Frage, welche Zeit es braucht, bis Muskelstörungen chronisch werden. Manche behaupten, sie würden erst im Verlauf einer sogenannten Langzeitmedikation auftreten, d.h. nach ca. sechs bis zwölf Monaten, während andere Psychiater eine drei- bis sechsmonatige Behandlung als ausreichend erlebten. Die Haldol-Firma McNeil Pharmaceutical warnte z.B. im Februar 1988 in den Archives of General Psychiatry im Kleingedruckten ihrer Werbeanzeige:

»Tardive Dyskinesie, ein Syndrom, das aus möglicherweise irreversiblen unfreiwilligen dyskinetischen Bewegungen besteht, kann bei Patienten auftreten, die mit antipsychotischen Mitteln behandelt worden sind. Obwohl die Verbreitung des Syndroms bei älteren Menschen, speziell bei älteren Frauen, am höchsten zu sein scheint, ist es unmöglich, eine Beziehung zur Verbreitung überhaupt herzustellen und zu Beginn einer antipsychotischen Behandlung vorherzusagen, welche Patienten das Syndrom entwickeln könnten. Ob antipsychotische Medikamente sich in ihrem Potential unterscheiden, tardive Dyskinesie zu verursachen, ist unbekannt. Man geht davon aus, dass mit der Dauer der Behandlung und der sich summierenden Gesamtdosis der verabreichten antipsychotischen Medikamente beim Patienten das Risiko steigt, eine tardive Dyskinesie zu entwickeln; ebenso nimmt die Möglichkeit zu, dass die tardive Dyskinesie irreversibel wird. Jedoch kann sich das Syndrom – wenn auch viel seltener – selbst nach relativ kurzen Behandlungsperioden mit niedrigen Dosen entwickeln.«

Strategien gegen psychiatrische Gewalt

Anstelle fortgesetzter Neuroleptika-Verabreichung und endloser psychiatrischer Behandlung hatte der US-amerikanische Psychiater George Simpson 1977 vorgeschlagen:

»Die beste Behandlung momentan ist das schrittweise Absetzen der Neuroleptika und ihren Ersatz durch Tranquilizer, um die Angst zu lindern. Das Potential der Neuroleptika, tardive Dyskinesien zu verursachen, ist eine ernstzunehmende Komplikation bei einer beträchtlichen Zahl von Patienten und sollte bei allen Patienten einen Absetzversuch nahelegen.«

Ich darf als bekannt voraussetzen, dass Simpson seine Warnung in den Wind gesprochen hat. Fürsorge ist nicht unbedingt das Grundelement in der Psychiatrie – eher Gewalt. In seinem Lehrbuch »Irren ist menschlich« beschrieb der Sozialpsychiater Dörner nüchtern und ehrlich, wie es in Aufnahmestationen zum Einsatz von Neuroleptika gegen Menschen mit störender Sinnes- und Lebensweise kommt. Tief sind die Einblicke, die er in allgemeinpsychiatrisches Denken gewährte:

»Häufiger passiert es, dass in dieser Weise bedrohte oder drohende Menschen mit Zwang in die Klinik kommen. Die Zwangssituation setzt in größter Erregung ein, steigert die Erregung dann nochmal, so dass es üblich ist, sofort Neuroleptika zu verabreichen, weil ich und andere die Menschen, die so in Erregung sind, – heutzutage – nicht anders aushalten können oder wollen. Die Beziehungsaufnahme nach so einem Knall kann eigentlich nur von der Gewalt ausgehen, kann nicht verharmlosen, kann nur die Begegnung von Gegnern sein.«

Kehrseite der sich nach aussen stets freundlich gebenden Sozialpsychiatrie ist ebenso eine Gewaltform, wie sie als Erschleichung einer Zustimmung zur Behandlung ohne rechtswirksame Aufklärung die Regel zu sein scheint: indem die Risiken von Neuroleptika verharmlost oder nicht benannt werden. Zwei Beispiele: 1981 verdeutlichte Helmchen den Standpunkt seiner Berufsgruppe, die ihn zum Präsidenten gewählt hatte:

»Vermutlich wäre die Ablehnungsrate sehr hoch, wenn alle akut schizophrenen Patienten über dieses Nebenwirkungsrisiko vor Beginn einer notwendigen neuroleptischen Behandlung informiert würden.«

Asmus Finzen soll als Beispiel für eine Desinformationsstrategie aus dem Jahre 1993 dienen: er versucht, das Ausmass der millionenfach z.T. schon nach Wochen und Monaten auftretenden epidemieartigen Neuroleptika-bedingten Dauerschäden als Ausnahmen zu begatellisieren: »Diese sogenannten Spätdyskinesien bilden sich bei einzelnen Kranken nach langjähriger Neuroleptika-Dauerbehandlung aus.« Dabei litten nach Berechnungen des englischen Psychologen David Hill von der Psychiatrievereinigung MIND (vergleichbar der DGSP) 1985 weltweit bereits 38,5 Millionen Menschen irreversibel an tardiver Dyskinesie. 1992 meldete sich Hill im Clinical Psychology Forum mit neuen Hochrechnungen und unter Verwendung einer Vielzahl konventioneller psychiatrischer Zahlenangaben erneut zu Wort:

»Man hat geschätzt, dass zwischen 1954 und 1970 weltweit 250 Millionen Menschen Neuroleptika verabreicht bekamen. Mit Sicherheit scheint man nach den vergangenen 22 Jahren von einer Verdopplung dieser Zahl ausgehen zu können. Die zurückhaltendste Schätzung (25,7%) – sie ignoriert die milderen Symptome und die kaschierende Wirkung – legt nahe, dass ungefähr 128,5 Millionen Menschen bisher an tardiver Dyskinesie litten. Bei annähernd 86 Millionen davon sind die Symptome, die von peinlichen Mundbewegungen bis zu entkräftenden Schüttelbewegungen der Extremitäten reichen, irreversibel.«

Bezeichnend ist auch, dass auf dem gesamten Weltkongress der Sozialpsychiatrie 1994 nur diese eine Arbeitsgruppe sich mit den Behandlungsschäden und speziell den tardiven Dyskinesien beschäftigt. Auf der anderen Seite bemühen sich Psychiatrie-Betroffene weltweit um die Durchsetzung von Schmerzensgeldklagen. Um die Rechtsposition von Psychiatrie-Betroffenen besser als diejenige von Versuchstieren zu machen, hat das Europäische Netzwerk von Psychiatrie-Betroffenen eine multinationale Arbeitsgruppe geschaffen, die alle Informationen über zivilrechtliche Schmerzensgeldklagen oder strafrechtliche Tatbestände sammelt, auswertet, speichert und Klägern und Klägerinnen unterstützend zur Verfügung stellen will (Kontakt c/o Peter Lehmann). Immerhin gibt es in den USA schon seit vielen Jahren erfolgreiche Klagen gegen Herstellerfirmen und Verabreicher, mit Millionenbeträgen, wieso sollte dies nicht auch in Europa möglich sein?

Die Situation (akuter und eventuell zukünftiger) Psychiatrie-Betroffener lässt sich in vielfältiger Weise verbessern. Schlüsselbegriffe zur dringend erforderlichen Humanisierung der Lage von Psychiatrie-Betroffenen sind hierbei

  • die rechtliche Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen, d.h. strafrechtliche Verfolgung von Behandlung ohne Zustimmung – z.B. mithilfe des Psychiatrischen Testaments (4)

  • Aufklärung über Gefahren moderner psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen mit scharfem Blick auf die braunen Ursprünge gerade der Sozialpsychiatrie (5)

  • Aufzeigen der Absurdität der Übernahme des psychiatrischen Krankheitsmodells (6)

  • schrittweiser Reduzierung von Finanzmitteln der Anstalts- und gemeindenahen Psychiatrie und

  • Unterstützung individueller Resozialisierungsmaßnahmen sowie finanzielle Förderung Psychiatrie-unabhängiger Selbsthilfe- und Unterstützungsprojekte wie Kommunikationszentren, ›Krisen‹-Einrichtungen, Weglaufhäuser (7) usw.

Summary: Chemical gags, tardive dyskinesia – the backside of social-psychiatry

Tardive dyskinesia, tardive dystonia, tardive psychosis..... many new diseases reflect the same scandal: damages, caused by out-patient social-psychiatric treatment, frequently using long-acting neuroleptics. The special mechanisms of community-psychiatric treatment support the administration of »chemical gags«. The above mentioned chronic damages intensify the phenomenon of revolving-door-psychiatry, secure markets for drug-companies, protect the jobs of psychiatrists and their followers and give satisfaction to theorists, who believe in schizophrenia and mental illness. Most necessary as first steps out of this sad chapter of modern psychiatry are – instead more and more new outpatient institutions and more and more psychiatric psychopharmaceutica – diagnoses-independent human and civil rights, which are legally recoverable, as well as financial resources for autonomous and user-controlled organisations and alternatives.

Literatur

Die Quellen der psychiatrischen Zitate werden in meinem 1996 erscheinenden Buch "Schöne neue Psychiatrie" enthalten sein. Weitere Quellen:

  1. Peter Lehmann, Peter Stastny, Don Weitz: Wege zum Ausstieg aus der Psychiatrie, in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin 1993, S. 449-482

  2. Peter Lehmann: Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen, 3. Aufl., Berlin 1993 (PDF E-Book 2022)

  3. Peter Lehmann: Vom Streit um den Glauben zu den wahren Problemen, in: Pro mente sana aktuell (Schweiz), Nr. 2/1994, S. 18-20

  4. Hubertus Rolshoven, Peter Rudel: Das formelle Psychiatrische Testament. Gebrauchsanweisung und Mustertext, in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin 1993, S. 282-298

  5. Peter Lehmann: »Progressive« psychiatry: publisher J.F. Lehmann as promoter of social psychiatry under fascism, in: Changes (England), Vol. 12 (1994), Nr. 1, S. 37-49; ders.: Fortgeschrittene Psychiatrie – Der J.F. Lehmanns Verlag als Wegbereiter der Sozialpsychiatrie im Faschismus«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 18. Jg. (1992), Heft 62, S. 69-79

  6. Kerstin Kempker: Teure Verständnislosigkeit – Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie, Berlin 1991

  7. Uta Wehde: Das Weglaufhaus – Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene. Erfahrungen, Konzeptionen, Probleme, Berlin 1991; dies.: »The Runaway-house: Human support instead of inhuman psychiatric treatment«, in: Changes, Vol. 10 (1992), no. 2, pp. 154-160

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