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in: Pro mente sana aktuell (Schweiz), 1994, Nr. 2, S. 18-20 / PDF / Letzter Nachtrag vom 17. November 2019

Peter Lehmann

Vom Streit um den Glauben zu den wahren Problemen

Wie der mittelalterliche Teufel ist die Schizophrenie ein Glaubenskonstrukt, das den Blick auf die vielfältigen Probleme verstellt, die sich dahinter verstecken. Die Abkehr von diesem Glauben ist die Voraussetzung, Verrücktheit als Möglichkeit zu erkennen, die Wirklichkeit angemessen zu verarbeiten.

An Schizophrenie glauben?

Die Existenz einer Krankheit namens Schizophrenie ist unbewiesen. Tausende und Abertausende von Büchern über dieses Thema zeugen zwar von reger Tätigkeit, sind aber kein Nachweis der Existenz der behaupteten Geisteskrankheit. Auch der feste Glaube an das Vorhandensein von Schizophrenie mit kategorisierbarer Ursache, definierbarem Verlauf und rationaler Prognose vermag dieses Konstrukt nicht real werden zu lassen, ebensowenig das Auftreten psychischer Veränderungen bei medizinischen Erkrankungen und Störungen, die in den Fachbereich der Neurologie fallen (und von Psychiatern im konkreten Fall oft genug übersehen werden). Die psychiatrischen Anstrengungen zur Beschreibung, Erkennung und Unterteilung von »Schizophrenie« erinnern statt dessen verdächtig an die mittelalterliche Praxis, durch fortwährende Beschwörungen als existente Wesen apostrophierte Teufel in allen Klassifikationsformen real werden zu lassen. Thomas Szasz, selbst Psychiater, hat in seinem Klassiker »Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie« (1) die psychiatrische Theorie der Schizophrenie eindrucksvoll als grössten wissenschaftlichen Skandal dieses Jahrhunderts blossgelegt.

Wenn auch gewöhnliche Psychiater mit ihrem starren »diagnostischen Blick« (2) auf der Suche nach Symptomen der vermeintlichen Krankheit Schizophrenie nun wissentlich-schlau oder dickköpfig-dröge an der Realität unbequemer und störender Sinnes- und Handlungsweisen vorbeischielen: Selbstverständlich gibt es Menschen mit solchen – nicht abwertend gemeinten – verrückten Verarbeitungsformen der Realität, die für sie selbst oder ihre Umgebung störend und unbequem sind, so dass sie das gewohnte Leben nicht fortführen wollen oder können, mit allen denkbaren Konsequenzen.

Schizophrenie psychosozial diagnostizieren?

Welche Verrücktheiten es sind, die man unter bestimmten (Macht-)Verhältnissen als Symptome der Schizophrenie interpretiert, lässt sich anhand psychiatrischer Fallbeispiele analysieren. Es handelt sich um Feinfühligkeit, Gefühlsveränderungen und -schwankungen, Erregung, Lust, Liebe, Ärger, Wut, Zorn, Hass, Stärke- und Selbstwertgefühle, Euphorie, Ekstase, Wirklichkeitsgefühle, Begeisterungsfähigkeit, Inspiration, Klarsicht, Phantasie, Unwohlsein, Unzufriedenheit, Ratlosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Angst, Misstrauen, Leidenschaft(en), Anpassungsunfähigkeit, Obrigkeitswidrigkeit, Querulanz, Eigenart.

Psychologinnen und Psychologen reklamieren häufig die Beurteilung und Kategorisierung verrückter Sinnes- und Handlungsweisen als ihr berufliches Metier. Auf den Vorwurf:

Wenn die Qualität der Schizophrenie darin liegen soll, dass die schizophrene Symptomatik unverstehbar ist und man sich nicht in die Schizophrenen einfühlen kann, so könnte der Gegenvorwurf lauten, das Diagnostizieren von Schizophrenie ist nur Ausdruck von Verständnislosigkeit und fehlendem Einfühlungsvermögen der Diagnostizierenden.

wird mit dem Entwurf eines sozialpsychologischen Konzepts einer psychischen Krankheit gekontert, verbunden mit dem Anspruch auf grosses psychotherapeutisches Einfühlungsvermögen. Dass sich diese enorme Einfühlung hurtig in Wohlgefallen auflöst, wenn es etwa darum geht, sich in die Leidenssituation der eingesperrten Elektrogeschockten oder des Haldol-Zombies in der Tages-»Klinik« einzufühlen, soll hier dahingestellt bleiben. Doch wer masst sich an, die Vielfalt des Lebens mit all seinen Entwicklungsmöglichkeiten, Sprüngen und Rückschlägen theoretisch zu fixieren und zu klassifizieren – das Leben und die jeweils höchst individuelle Geschichte des einzelnen Menschen? Liesse sich nicht eher noch »die Normalität« begrifflich und theoretisch fassen? Widerspiegeln nicht Neuroleptika-Anzeigen, wie Beispiel Decentan [Wirkstoff Fluphenazin] (3) oder Psyquil [Wirkstoff Triflupromazin] (4) belegt, in prägnanter Weise die in der Psychiatrie angestrebte Ausschaltung der Lebenskraft und Normierung des Lebens, wenn die Neuroleptika-Wirkung mit Gleichschaltung bzw. dem Übergang von lebendiger Schwingung in eine tödliche Null-Linie veranschaulicht wird?

Decentan
Werbung: Gleichschaltung mit Decentan (= Trilafon)

Als 1977 verrückt Gewordener, von Hebephrenie über Logorrhoe und Stupor bis Schizophrenie mit allen konjunkturüblichen Diagnosen belegt, masse ich mir an, einen Tic mehr Ahnung vom Subjekt des Themas zu haben als viele, die ihr Wissen aus schlauen Büchern oder vom Hörensagen beziehen oder die meinen, nach anatomischen Studien schon alles über den Menschen zu wissen. Angetreten 1980, in einer wissenschaftlichen Arbeit meine eigene Normalität und den verrückten Ausbruch aus ihrer Beschränktheit theoretisch zu verarbeiten, erkannte ich aber bald die Gefahr, in der ich mich befand: Aus meiner Lebensgeschichte gewonnene Einsichten theoretisch zu verallgemeinern hiesse, das Leben anderer, die mir so unbekannt sind wie ihre Lebensbedingungen, ihre Entwicklungsgeschichte und die ihnen zur Verfügung stehende Auswahl an Verarbeitungsmöglichkeiten ihrer Realität, zu interpretieren und damit notwendigerweise fehlzuinterpretieren. Ein theoretischer Hintergrund über erziehungswissenschaftliche und sozialpsychologische Zusammenhänge ist für das Verständnis sozialer Erscheinungen sicher nützlich, führt aber leicht zu verstärktem Schubladendenken und bietet unendlich freie Auswahl an Interpretationsmustern der nicht verstandenen anderen, statt sie zu Wort kommen zu lassen.

Autonomie statt Psychiatrie

Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit, zu Wort zu kommen, eigene Probleme und Wünsche vorzutragen und nach Verständnis und Unterstützung zu suchen, ohne gleich als krank, gestört und behandlungsbedürftig abqualifiziert zu werden, ist die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts. Dies schliesst auch das Recht auf Nichtverstandenwerden ein, will doch das Verrückte, das Unverstandene, nicht um jeden Preis und von jedermann verstanden sein (5). Eine Vielzahl mentaler, expressiver sowie alltagsbezogener nicht-psychiatrischer und einrichtungsferner Formen des Umgangs mit »Krisen« stellten 17 ehemals u.a. als schizophren diagnostizierte Autorinnen und Autoren in ihrem Artikel »Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?« (6) vor. Eine behutsame und unaufdringliche Unterstützung in organisierter Form kann aber auch geleistet werden in nutzerkontrollierten Einrichtungen und in Selbsthilfegruppen, sofern sie frei von psychiatrischer Einmischung arbeiten. Flankierend dazu können Psychiatrie-unabhängige Vereine wie PSYCHEX wirksam und angstmindernd eine psychiatrische Versenkung erschweren (7).

Decentan
Psyquil
Werbung mit Psyquil

Die Befreiung vom psychiatrischen Einfluss und vom Krankheitsbegriff ist die Grundvoraussetzung für Psychiatrie-Betroffene bzw. für derzeitige und ehemalige Verrückte, ihre Geschicke wieder in die eigenen Hände zu nehmen und sich, sofern vorhanden, mit eigenen Schwächen, Problemen, Ängsten und Blockaden auseinanderzusetzen.

»Ich spüre, wenn ich mich nicht von den Diagnosen, den Krankheitsbegriffen der Psychiatrie befreie, gebe ich mir irgendwann die Kugel.« (8)

schreibt die Psychiatrie-Betroffene Jutta Jentges aus Nürnberg, die die mangelnde Abgrenzung ihrer Selbsthilfegruppe von psychiatrischer Ideologie kritisiert. Welche Angst Psychiater und Psychopharmaka-Hersteller vor frei denkenden Psychiatrie-Betroffenen und Angehörigen haben, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Psychiater den widersinnigen Versuch unternehmen, Selbsthilfegruppen für Schizophrene zu initiieren, und dass Chemieunternehmen Angehörigengruppen wie z.B. die VASK (Schweizer »Vereinigung der Angehörigen von Schizophreniekranken«) gerne mit Geldzahlungen und ideologischem Material beeinflussen. Schliesslich stellen kritische Betroffene und Angehörige sowohl die Macht der psychiatrischen »Halbgötter in Weiss« als auch durch möglicherweise Schule machende Beispiele Psychiatrie- und Psychopharmaka-unabhängigen Durchlebens von Verrücktheitszuständen Umsatz und Kapitalertrag in Frage.

»Gute« Psychologinnen und Psychologen, an die sich trotz allgemein häufigen Missbrauchs in der Therapie (9) immer noch viele Hoffnungen der Psychiatrie-Betroffenen richten, sollten humanistisch-antipsychiatrische Grundsätze vertreten (10), ihre Ausbildung und ihre Vorstellungen von »Schizophrenie« offenlegen, ihre Klientel ermuntern, sich neben der Therapie (und auch über diese) in Gruppen auszutauschen, und vor Therapiebeginn gemeinsam zu klären, welchen Einsatz sie im Krisenfall leisten sollen und können.

Wenn Menschen mit ihrer Verrücktheit oder der Diagnose Schizophrenie alleine oder im Freundeskreis nicht klar kommen, aber lieber auf die Einnahme neurotoxischer Psychodrogen als auf ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre körperliche Unversehrtheit verzichten wollen, drängt sich der Gedanke an organisierte Selbsthilfe geradezu auf – nicht zuletzt wegen der Offenheit, die in solchen Gruppen im Prinzip möglich ist. Eine solide finanzielle Absicherung kann, muss aber nicht die Voraussetzung für eine gut arbeitende Gruppe sein. Noch wichtiger ist, dass die Mehrheit der Mitglieder nicht in der eigenen Geschichte verfangen ist. Doch Vorsicht, Psychiatrie-Betroffenheit macht aus niemandem per se einen an gleichberechtigten Beziehungen interessierten Menschen, und zu oft beendet ein »Ja, das kenne ich auch« das Gespräch über das jeweils Individuelle, als dass es Ausgangspunkt zum Zuhören wäre. Doch wo ist die Alternative zur Selbsthilfe? Für eine Gruppe, die in ausschliesslicher oder teilweiser Selbsthilfe Unterstützung bei der Integration oder Überwindung verrückter Sinnes- und Lebensweisen leisten will, wirkt der Glaube an die Existenz von Schizophrenie und an die wirksame Hilfe durch den guten Arzt wie Gift. Denn damit endet die Möglichkeit, Verrücktheit als Möglichkeit angemessener Verarbeitung normaler Wirklichkeit zu erkennen, Einsicht in die Kontinuität des eigenen Lebens in all seiner Vielfalt zu gewinnen und die oft genug vorhandenen realen existentiellen Probleme anzupacken.


Nachtrag vom 11. März 2019

»Das Problem ist ja, dadurch ist ja die Schizophrenie definiert, dass wir die Ursachen nicht kennen. Und sie ist eine Krankheit, eine Störung, von der wir annehmen, dass sie eine Krankheit sein könnte, wobei wir die Ursachen nicht kennen. Das ist eigentlich die sauberste wissenschaftliche Diagnose.«

Diskussionsbeitrag von Wolfgang Werner (Saarländischer Landespsychiatriearzt und Leiter der Anstalt Merzig) in: »Zwischen Verfügungsgewalt und Verantwortung – Wie menschenwürdig ist die deutsche Psychiatrie?«, Redaktion »Streit im Schloss«, Diskussionsteilnehmer: Dorothea Buck, Peter Lehmann, Hubertus Rolshoven, Prof. Dr. med. Klaus Weise, Prof. Dr. med. Wolfgang Werner, Moderator: Dr. phil. Peter Huemer, Saarländischer Rundfunk, Fernsehsendung vom 21. Dezember 1992

»Schizophrenie ist eine ›mikro-soziale‹ Krisensituation, in der die Handlungen und das Erleben einer bestimmten Person durch andere aus verständlichen kulturellen und mikrokulturellen (gewöhnlich familialen) Gründen zunichte gemacht werden, bis ein Punkt erreicht ist, an dem der Mensch als in irgendeiner Weise ›geisteskrank‹ erwählt und identifiziert und schließlich (mittels einer spezifizierbaren, aber höchst willkürlichen Abstempelung) in der Rolle eines ›schizophrenen Patienten‹ von medizinischen oder quasimedizinischen Gremien bestätigt wird. [Fußnote: Die Bezeichnung mikro-sozial bezieht sich auf eine begrenzte Anzahl von Personen, deren Interaktion Auge in Auge abläuft – Personen, die einander ansehen oder angesehen werden].«

Versuchsweise Definition von Schizophrenie durch David Cooper (1931-1986) in seinem Buch »Psychiatrie und Antipsychiatrie«, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1971, S. 14

Nachtrag vom 17. November 2019

Wim Swinnen: »Schizophrenie gibt es nicht«. Über das Plädoyer »Weg mit dem Etikett 'Schizophrenie'« von Jim van Os, einem der bekanntesten Psychiater in den Niederlanden. In: Spektrum der Wissenschaft, Online-Ausgabe, 13. November 2019. Online-Ressource https://www.spektrum.de/news/psychiatrie-schizophrenie-gibt-es-nicht/1682902


Quellen

  1. Thomas S. Szasz: »Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie«, Wien / München / Zürich: Europaverlag 1973

  2. Klaus Mücke: »Kritik der psychiatrischen Diagnostik. Implikationen und Konsequenzen des ›diagnostischen Blicks‹ in der Psychiatrie«, in: Forum Kritische Psychologie, Band 29 (1992), S. 130-147

  3. E. Merck: Anzeige, in: Arzneimittel-Forschung, 19. Jg. (1969), Nr. 3a, S. A17

  4. Von Heyden AG: Anzeige, in: Nervenarzt, 37. Jg. (1966), Nr. 1, S. A30

  5. siehe Kerstin Kempker: Teure Verständnislosigkeit – Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1991

  6. Ernst Kostal / Harold A. Mayo / Paula Abalanda / E. H.-S. / U.N. Terwegs / Zoran Solomun u.a.: »Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?«, in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 26-67

  7. siehe Peter Rippmann: PSYCHEX – ein schweizerisches Experiment, in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 174-182

  8. Jutta Jentges: »Pandora und seine Kooperation mit Fachleuten der Psychiatrie«, in: Infoblatt Psychiatrie (Nürnberg), Heft 18 vom April 1994, S. 8-9

  9. siehe Jeffrey M. Masson: »Die Abschaffung der Psychotherapie«, München: Goldmann Verlag 1993

  10. siehe Bonnie Burstow: »Radical feminist therapy: Working in the context of violence«, Newbury Park: Sage Publications 1992; dies.: »Ethischer Kodex feministischer Therapie«, in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 131-136

Copyright by Peter Lehmann 1994