FAPI-Nachrichten – Das Internet-Magazin für antipsychiatrische Rezensionen. P – T


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zuletzt aktualisiert am 27. November 2024

Ernst Pallenbach: Die stille Sucht. Missbrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln
Ein Drittel aller Kosten in Gesundheitsbereich lassen sich direkt oder indirekt auf Abhängigkeitserkrankungen zurückführen, so Ernst Pallenbach, promovierter Pharmazeut und angestellter Apotheker an Schwarzwald-Baar-Klinikum in Villingen-Schwenningen, unter Bezug auf eine Bachelor-Arbeit von Sandra Neuhaus. Wichtig seien deshalb Möglichkeiten der multidisziplinären Intervention und Prävention seitens medizinischem und pharmazeutischem Personal, Lehrern, Erziehern, Beschäftigten aus dem Personalmanagement und Angehörigen. Das ausgesprochen gut lesbare Buch ist in drei Teile untergliedert: Einführung und Grundlagen; Arzneimittelgruppen; Lebens- und Genussmittel und Partydrogen. In Teil 1 bespricht der Autor grundlegende Dinge, unter anderem Definitionen von Sucht, Abhängigkeit und Missbrauch, Sucht bei Frauen, Sucht im Alter, Sucht und Suizid. Der Begriff der Sucht sei von der WHO ersetzt worden durch Abhängigkeit oder Missbrauch, um die mit dem Suchtbegriff einhergehenden Stigmatisierungen der Betroffenen zu vermeiden. Dass die vereinigte Psychiaterschaft die Existenz der Abhängigkeit vom Vorhandensein von Sucht abhängig gemacht hat und gemäß dieser (willkürlichen) Definition Substanzen wie Neuroleptika oder Antidepressiva trotz massivster Entzugsprobleme auf dem Papier nicht mehr abhängig machen können (wer ist schon süchtig nach Haloperidol, das in manchen Ländern als Foltermittel verwendet wird?), diskutiert Pallenbach leider nicht. Klar kann man Medikamentenabhängige nicht mehr stigmatisieren, wenn man die Medikamentenabhängigkeit negiert. Gleichzeitig akzeptiert man damit jedoch, dass Patienten und verschreibende Ärzte nicht vor dem Abhängigkeitsrisiko gewarnt werden bzw. warnen, keinen Anspruch auf Rehamaßnahmen erwächst. Im Falle von Antidepressiva und Neuroleptika ist dies fatal. Doch zurück zum Aufbau des Buches und Teil 2, die Arzneimittelgruppen mit Abhängigkeitspotenzial. Hier schreitet der Autor von Substanzgruppe zu Substanzgruppe voran, beschreibt deren Wirkungsweise, Abhängigkeitspotenziale und missbräuchliche Verwendungen: Schmerzmittel, Barbiturate, antiallergische Mittel, Psychostimulanzien, psychiatrischen Psychopharmaka (Lithium ist nicht erwähnt), Dopingmittel, Nasentropfen, Abführmittel, Antiparkinsonmittel, Antiepileptika, Narkosemittel. Für Psychiatriebetroffene besonders interessant wären Antidepressiva, Neuroleptika und Psychostimulanzien wie Methylphenidat (Ritalin). Immerhin verweist Pallenbach auf die kontroverse Diskussion unter Medizinern darüber, ob Antidepressiva und Neuroleptika abhängig machen. Leider stellt er die Argumentation derer, die ein Abhängigkeitsrisiko bejahen, nicht dar. Bei Antidepressiva komme es nur selten zur Abhängigkeit, die teilweise heftigen Symptome nennt Pallenbach jedoch bloße Absetzreaktionen, nicht aber Entzugssymptome. Da mittlerweile selbst Antidepressiva herstellende Pharmafirmen das Risiko der Medikamentenabhängigkeit eingestehen, würde der Autor sich heute vermutlich anders äußern. Dies betrifft auch Neuroleptika: Eine Argumentation, die ein Abhängigkeitsrisiko verneint, da es keinen Schwarzmarkt gebe für Neuroleptika, übersieht den Grund für den nicht vorhandenen Schwarzmarkt – die mit Qualen einhergehende Eigenwirkung dieser Substanzen. Darüber hinaus sind schon seit den 1960er-Jahren aus den Veröffentlichungen des Psychiaters Rudolf Degkwitz äußerst quälende Entzugserscheinungen bei diesen Substanzen bekannt, die so heftig sein können, dass die Betroffenen nicht anders können, als sie weiterhin einzunehmen, auch wenn der Ursprungsgrund für deren Einnahme längst nicht mehr besteht. Unzufrieden darf man auch sein mit der Besprechung von Psychostimulanzien. Während der Autor auf neuere Studien zu Methylphenidat verweist, die eine erhöhte Suchtgefahr behaupten, wenn diese Substanzen nicht rasch eingenommen würden, lässt er Studien außer Acht, die ein erhöhtes Suchtrisiko bei Erwachsenen ausmachten, die in ihrer Kindheit Methylphenidat schlucken mussten. In Teil 3 wendet sich Pallenbach dann noch Lebensmitteln wie Coffein, Energydrinks, Schokolade, Alkohol, Nikotin und illegalen Drogen zu. Abschließend lässt sich sagen, dass das 222seitige Buch eine hervorragende Informationsquelle ist für alle, die Informationen zu abhängig machenden Substanzen suchen – abgesehen von den sechs unbefriedigenden Seiten zu Antidepressiva / Neuroleptika und Methylphenidat. Bei einer Überarbeitung würde das Buch meine uneingeschränkte Zustimmung finden. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, XI + 211 Seiten, 16 Abbildungen, ISBN 9-783-3-8047-2506-5. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2009. € 29.80
Peter Lehmann

Oskar Panizza: Mama Venus. Texte zu Religion, Sexus und Wahn
Erzählungen, Gedichte, Tagebucheintragungen und Briefe. Panizza, 1853-1921, Arzt und Literat, wegen »gotteslästerlicher Schriften« im Gefängnis, 1905 auf Drängen der Mutter entmündigt, Anstaltsinsasse bis an sein Lebensende. Mutter: »2 Naturen sind in ihm: ein Engel und ein Teufel. Wenn GOtt der HErr dem letzteren auszufahren gebietet – wird Oskar ein frommer Mann sein.« Oskar: »Ich selbst bin grinsender Zuschauer und betrachte meinen seelischen Zustand wie eine Eiterbeule, die mir ruhig fließen soll. Die Welt braucht gelegentlich auch Eiter. Sie soll ihn haben.« Kartoniert, 253 Seiten, Hamburg: Luchterhand 1992. 19.80 DM
Kerstin Kempker

Georg Parlow: Zart besaitet – Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen
Buch über alle Arten von hoher Sensibilität, außersinnlicher Wahrnehmung, Intuition u.v.m. – für alle, die wegen einer starken Sensibilität mit der normalen Welt schlecht zurecht kommen. Woran ist das Phänomen der Hochsensibilität zu erkennen, welche Auswirkungen hat sie, weshalb reagiert man so und nicht anders, wie kann man sich als Hochsensibler in der normalen Welt wohlfühlen, sich ihr bewusst anzupassen oder andere, geeignetere Wege gehen, ohne sich schlecht zu fühlen? Kartoniert, 247 Seiten, 4 Abbildungen, ISBN 978-3-9501765-0-6. Linz: Festland Verlag, 2., überarbeitete Auflage 2006. € 21.50
Peter Lehmann

Bernd Pelzer: Angstfrei glücklich leben – Lebens(hilfe)-Ratgeber für Angstbetroffene
Der Autor wirbt mit nachvollziehbaren Argumenten für Ausdauertraining und Körperübungen; Psychopharmaka würden höchstens die Probleme vorübergehend unterdrücken, allerdings auf Kosten von sog. Nebenwirkungen. Nach dem Absetzen kämen sie um so stärker wieder zurück. Und oft genug wären es, was stoffliche Auslöser betrifft, spezielle Ernährungssubstanzen und unter medizinischen Medikamenten gerade Psychopharmaka, die Angst- und Panikattacken auslösen. Die Erkenntnisse des Autors resultieren aus seiner Erfahrung als klinischer Psychologe, die er mit Angstbetroffenen in seiner psychotherapeutischen Praxis in Luxemburg gemacht hat. Er beschreibt die vielen Facetten von Angst und Panik, deren mögliche Ursachen, erläutert körperliche Funktionen, die von Angstanfällen betroffen sein können, um fundiert mit ihnen umgehen zu können, ebenso einfache Übungen für ein Anfreunden mit dem Körper. Neue Denkmuster, sportliche Betätigung, Gelassenheit, Traumaaufarbeitung, virtuelle Konfrontation, positive Affirmation, Entspannungsübungen u.v.m. werden ebenso leichtverständlich dargestellt wie die Probleme, die mit allen Arten von Psychopharmaka verbunden sein können, weshalb der Autor diese Substanzen allenfalls zur notfallmäßigen Therapie akzeptiert. An stofflichen Beeinflussungsmaßnahmen seien der Gruppe der synthetischen Tranquilizer, Antidepressiva, Stimmungsstabilisatoren und Neuroleptika naturheilkundliche Substanzen wie beispielsweise Johanniskraut (in der richtigen Dosierung) vorzuziehen, ebenso die Änderung von Nahrungsgewohnheiten, um auf diese natürliche Weise den Serotoninwert zu erhöhen und so das Bemühen um eine verbesserte Gefühlswelt zu unterstützen. Gebunden, 223 Seiten, ISBN 978-3-0350-0055-9. Zürich: Oesch Verlag 2009. € 14.95
Peter Lehmann

James W. Pennebaker: Heilung durch Schreiben – Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe
In dem Buch, original 2004 in den USA erschienen, ermuntert James Pennebaker, Professor für Psychologie an der Universität von Texas, zum Bewältigen emotionaler Krisen und traumatischer Erlebnisse durch expressives Schreiben. Deshalb dürfte es insbesondere für Psychiatriebetroffene interessant sein, die traumatisierende Erfahrungen vor der Psychiatrie und in der Psychiatrie gemacht haben und für deren Verarbeitung sich Traumatherapeuten keinerlei Gedanken machen, auch wenn selbst der psychiatrische Fachverband DGPPN öffentlich eingesteht, dass psychiatrische Zwangsbehandlung traumatisierende Wirkungen haben kann. Pennebaker stellt sein auf vier Tage à ca. 20 Minuten Schreiben angelegtes Projekt und die bisher damit gemachten Erfahrungen vor, die dazu gehörenden Übungen sowie alternative Schreibübungen für Leute, die das viertägige Schreibprojekt für ungeeignet halten oder in anderer Form weiterschreiben wollen. Tendenziell eher feindselige und aggressiv eingestellte Menschen, die mit ihren eigenen Emotionen nicht so gut im Kontakt stehen, würden mehr Vorteile aus dem Schreiben ziehen als Menschen, die eh gelassen und reflektiert seien. Als Regeln schlägt er vor, die eigenen Gefühle möglichst offen einzugestehen, Perspektiven zu wechseln, eine eigene Stimme zu finden und das Geschriebene vor anderen zu verbergen. Nach jedem Tag kann man das Geschriebene und die eigene Befindlichkeit auswerten. Anschließend geht es darum, das Geschriebene zu analysieren, Neues auszuprobieren, Krisen als Chancen zu sehen, andere um Verzeihung für eigenes Fehlverhalten zu bitten oder anderen zu verzeihen (wobei Letzteres schwer fallen dürfte, wenn bei Gewalt und Missbrauch ausübenden Personen nicht die Spur von Einsicht vorhanden ist), den eigenen Text zu überarbeiten und evtl. eine ganze Geschichte draus zu machen. Man kann dieses Buch empfehlen angesichts des Ansatzes der Traumabewältigung in Selbsthilfe (gerade für Menschen, die [noch] keiner Selbsthilfegruppe angehören) – bis auf das zweiseitige Schlusskapitel "Rat und Hilfe", in dem Pennebaker "beeindruckende Fortschritte" bei der Antidepressiva-Behandlung von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen einfach so dahersagt, ohne diese angeblichen Fortschritte zu belegen und ohne mit einem einzigen Wort auf die gesundheitlichen Risiken dieser Psychopharmaka und die Gefahr der Medikamentenabhängigkeit einzugehen. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 181 Seiten, ISBN 978-3-456-85976-7. Bern: Hogrefe Verlag, 2., unveränderte Auflage 2019. € 19.95
Peter Lehmann

Bianka Perez: Die Schwarze Liste. Nazi-Paragraf 63 StGB – weggesperrt und weggespritzt
Michael Perez, die Hauptperson in dem Buch, ist anscheinend ein dickköpfiger, gutgläubiger junger Mann, der an falsche Freunde geriet. Er fängt an zu kiffen, gerät in Streit mit seinem Vermieter, wird von diesem aus seiner Wohnung geklagt und um sein Hab und Gut gebracht, wirft ihm die Glasscheibe an seiner Wohnungstür ein und tippt ihm mit dem Finger etwas kräftiger auf die Brust, was ihm, so die Autorin des Buches, nämlich Michael Perez' Schwester, als Faustschlag, also Körperverletzung angelastet wird. Diesen Vorfall von 2004 nutzt der Vermieter, um Michael Perez strafrechtlich verfolgen zu lassen. Ein Gutachter attestiert ihm eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, unterstellt ihm eine schwere seelische Abartigkeit vielleicht aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens, so jedenfalls spekuliert der Gutachter, und so nimmt das Drama seinen Verlauf. Seit 2007 ist der junge Mann in Rheinland-Pfalz (u.a. Rheinhessen-Fachklinik Alzey, Klinik Nette-Gut) nun gerichtspsychiatrisch gemäß § 63 StGB untergebracht. Da er sich gegen das ihm widerfahrene Unrecht wehrt, auch gegen die Verabreichung von Psychopharmaka, soll er mit Fixierung und jahrelanger folterartiger Isolationshaft gefügig gemacht werden soll, damit er endlich die verordneten Psychopharmaka schluckt. Dies ist sicher kein Einzellfall. Einzigartig ist allerdings das Engagement, mit der sich Bianka Perez für ihren wehrlosen Bruder einsetzt und das himmelschreiende Unrecht mit Faksimiles von Behandlungsberichten, Gerichtsentscheiden, Gutachten und Strafanzeigen belegt, und bemerkenswert ist der Mut des Verlegers, ein Buch mit Nennung aller Klarnamen und Abdruck all der Dokumente zu wagen. Französische Broschur, 315 Seiten, 155 Faksimiles, 13 Abbildungen, ISBN 978-3-981-42570-3. Hamburg: underDog Verlag Olaf Junge 2017. € 17.90
Peter Lehmann

Franz Petermann / Sandra Winkel: Selbstverletzendes Verhalten
Die Neubearbeitung des Buches bietet einen Überblick über die Entstehung, Aufrechterhaltung, Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten selbstverletzenden Verhaltens aus Mainstreamsicht, unter Betonung der "besonders bedeutsamen Rolle" der Neurobiologie. Erfahrungen von Betroffenen wie z.B. der international bekannten Louise Pembroke aus Großbritannien sind wie selbstverständlich ausgeblendet. Die völlig unkritisch wiedergegebene Überlegung, sich selbst verletzenden Jugendlichen sog. atypische Neuroleptika wegen deren angeblich geringeren unerwünschten Wirkungen zu verabreichen und neuroleptikabedingte Fettleibigkeit bei jungen Frauen nicht etwa aus Gründen damit verbundener Herz-Kreislauf-Gefährdungen, sondern wegen evtl. mangelnder Compliance einzuschränken, führt wie auch das Ignorieren von neuroleptikabedingten Defizit-Syndromen, Hypercholesterinämien (erhöhter Cholesteringehalt im Blut), für tardive Psychosen und Dyskinesien verantwortliche irreversiblen Rezeptorenveränderungen und erhöhter Apoptose (Sichabstoßen von Zellen aus dem Gewebe, d. h. Zelltod) zum Ergebnis, das Buch als äußerst problematisch einzuschätzen. Liest man gar von der Empfehlung, Neuroleptika mit SRI zu kombinieren und ruft sich die erhöhte Sterblichkeit vor allem bei Verabreichung von Neuroleptika in Kombination mit anderen Medikamenten in Erinnerung, überkommt einen gar das glatte Grausen. Kartoniert, 250 Seiten, ISBN 978-3-8017-2201-2. Göttingen usw.: Hogrefe Verlag, 2., überarb. u. erw. Aufl. 2009. € 26.95
Peter Lehmann

Detlef Petry: Die Wanderung. Eine trialogische Biografie
Der Autor hat sich vermutlich angestrengt, etwas Neues, Gutes, Reformorientiertes zu schreiben, seinen Patienten als Mitmensch zu sehen. Als antipsychiatrischer Verleger, der ich im Rahmen meiner Arbeit Psychiatriebetroffenen als Autoren gegenüberstehe, die sich selbst über die eigene Person äußern, und angesichts des katastrophal unkritisch dargestellten Endes der Petryschen trialogischen Beziehung tue ich mich (gelinde gesagt) schwer mit dem Ansatz einer trialogischen Biografie. Petrys Ansatz bedeutet: Psychiatriebetroffene brauchen nicht mehr selbst zu schreiben, im Rahmen des Trialogs erledigen ihre behandelnden Psychiater dies nun für sie. Psychiater Petry, der seit einem Vierteljahrhundert im niederländischen Maastricht lebt und sich im Buch fortwährend als Bewunderer Klaus Dörners outet, erzählt nicht nur die Lebensgeschichte seines stimmenhörenden Patienten Bert Boers und dessen Großfamilie, sondern bezieht sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte incl. Stammbaum und Hochzeitsfoto mit ein. Ein Beispiel von S. 183, wie es sich liest, wenn zwei persönliche Lebensgeschichten nebeneinander auf gleiche Augenhöhe gestellt werden: "Bert hat schwer gelitten in der Psychiatrie und ich habe schwer gelitten an der Psychiatrie. Dadurch hat sich zwischen uns ein starkes Band der Solidarität gebildet." Ein kleiner Unterschied besteht jedoch, auch wenn der Autor ihn nicht problematisiert: Detlef Petry verabreicht Neuroleptika, Bert Boers erhält sie. Boers stirbt im Alter von nur 46 Jahren. Hierzu bringt sich Petry wieder mit ein: "Am 23. Januar des Jahres 1996 passierte etwas Schreckliches – früh am Morgen gegen 6 Uhr wurde ich zu Hause angerufen, und man teilte mir mit, dass Bert vor zwei Stunden tot in seinem Zimmer gefunden worden sei. Man hatte den Lärm gehört, als er auf den Boden stürzte. Als vorläufige Todesursache wurde Herzinfarkt genannt. Ich dachte gleich an die vielen Medikamente, die Bert über die Jahre hatte einnehmen müssen." (S. 175) Wer nun meint, Petry werde von diesem nicht ganz unwesentlichen Gedanken noch einmal heimgesucht, hat sich leider getäuscht, sein Interesse an der definitiven Todesursache ist nach Verfassen der zitierten fünfzehn Worte erloschen, von der Reflexion einer eigenen Verantwortung ganz zu schweigen. Dies ist ganz die Dörnersche Schule – bedeutungsschwanger klingende Worte, nichts dahinter, wenn es um Psychopharmakaverabreichung und in diesem Fall gar tödliche Folgen geht. "Detlef Petry ist Psychiater – und ein mutiger Mensch", schreibt der Paranus-Verlag auf dem Buchumschlag, der Patient werde Mit-Mensch, der Psychiater demaskiert, steige vom hohen Ross des Spezialisten herab, spreche die Familie von Schuld frei und werde zum Freund des Patienten, gar zum Lebensassistenten. "Trialog geglückt – Patient tot", kann man da nur sagen. Die einen mögen Petry bewundern – angesichts des totbehandelten Patienten löst bei mir die neue Maske, die des Gutmenschen, nur noch Grausen aus. Kartoniert, 192 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN 3-926200-55-3. Paranus Verlag Neumünster 2003. € 18.–
Peter Lehmann

Reneau Z. Peurifoy: Frei von Angst – ein Leben lang. Hilfe zur Selbsthilfe
"Laufe vor einem Gespenst fort, und es wird dich verfolgen. Gehe auf es zu, und es wird verschwinden." Diese irische Sprichwort steht als Motto des therapeutischen Ansatzes von Reneau Peurifoy. Er plädiert dafür, die häufig sozialisationsbedingten Botschaften hinter der Angst zu erkennen und sich nicht mit einfacher Symptomkontrolle zufrieden zu geben, da ansonsten keine langfristige Genesung möglich ist und somit der Verbleib im "Zeittunnel" programmiert ist: Mal verhält sich bei Konflikten in der Gegenwart so, wie man sich in der Vergangenheit und mit ihren traumatischen Misshandlungssituationen verhielt. Um die grundsätzliche Bewältigung dieser jetzt nicht mehr angemessenen Konfliktmuster und der darin begründeten Angst- und Panikattacken geht es also schwerpunktmäßig in diesem Buch. Es versteht sich als Arbeitsbuch mit praktischen Übungen, durchzuführen alleine, mit privaten MitstreiterInnen, in der Selbsthilfegruppe oder mit PsychotherapeutInnen. Also geht es um Gespräche, Entspannungsübungen, positive innere Dialoge, Grenzen-setzen in Beziehungen und vieles Vernünftige mehr (was in der psychiatrischen Praxis und der dort vorherrschenden stoffwechselfixierten Ideologie naturgemäß keinen Platz findet). Ein Buch frei von modischem neurobiologischen Blabla. Kartoniert, 232 Seiten, 10 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 978-3-456-84408-4. Bern: Huber Verlag 2007. € 19.95
Peter Lehmann

Gudrun Piechotta (Hg.): Das Vergessen erleben – Lebensgeschichten von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung
Ob wir, die (Mit-)Menschen lernen können, mit unserer eigenen Angst vor einer Demenz konstruktiv umzugehen, und durch Antizipation Verständnis für die Demenzbetroffenen zu entwickeln, fragt Gudrun Piechotta, Professorin für Pflegewissenschaft im Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin. Versuchen kann man es ja: Zehn (leicht) kommentierte Lebensgeschichten helfen zu verstehen, wie sich Demenz ankündigt, wie sie verläuft und was auf uns selbst und die uns Nahestehenden zukommen kann. Alt wollen die meisten werden, damit kommt auch das Problem der nachlassenden Hirnleistung auf uns zu. Unsere Eltern, sofern im entsprechenden Alter, entwickeln evtl. gerade eine Demenz und nerven uns mit ihrer Vergesslichkeit und ihrer Aggressivität. Das Buch mit den Geschichten von Menschen, die bei der Demenz angekommen sind, hilft, das Problem zu verstehen und Schmerzen und Wut zu lindern. Mit hilfreichen (auf Deutschland begrenzten) Adressen von Beratungsstellen für Menschen mit Gedächtnisstörungen sowie mit Adressen von Gedächtnisambulanzen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Kartoniert, 242 Seiten, ISBN 978-3-938304-70-9. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008. € 19.80
Peter Lehmann

Robert Pirsig: Lila
17 Jahre nach seinem brillanten halbautobiographischen Roman »Zen oder die Kunst ein Motorrad zu warten«, in dem es um die Wiederherstellung der persönlichen Identität der Hauptfigur ging, die durch Elektroschocks nahezu vollständig ausgelöscht worden war, ist jetzt das zweite Buch Pirsigs erschienen. Im Mittelpunkt von »Lila« steht laut Verlagsankündigung wiederum Phaidros, das Alter ego Pirsigs in »Zen«. Im Urlaub werde ich die Muße haben, mich in das neue Buch zu vertiefen. Wem Pirsig unbekannt ist, empfehle ich als Einstieg sein erstes Buch, längst als preiswerte Taschenbuchausgabe im Handel. Ist nach dessen Lektüre Lust auf mehr Pirsig gekommen: Vielleicht ist bis dann eine bezahlbare Ausgabe auch von »Lila« erschienen. Gebunden, 449 Seiten, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1991. DM 39.80
Peter Lehmann

Gabriele Pitschel-Walz: Lebensfreude zurückgewinnen. Ratgeber für Menschen mit Depressionen und deren Angehörige
Was kann man von einem Ratgeber zu Thema Depression und Hilfe zu deren Überwindung erwarten, wenn er ein Geleitwort von des Elektroschockers Joseph Bäuml enthält? Richtig – leider: man bekommt die Befürwortung von Elektroschocks und die Verharmlosung deren Folgeschäden, ebenso eine Anpreisung von Psychopharmaka an allererster Stelle (Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquilizer usw.), wobei Risiken in wenig verantwortungsvoller Weise mit wenigen Worten abgetan und Langzeitschäden – insbesondere Rezeptorenveränderungen – überhaupt nicht erwähnt werden. Als Mittel gegen "Nebenwirkungen" wie Mundtrockenheit (Begeitsymptom beispielsweise des neuroleptikabedingten Parkinsonoids) empfiehlt die Autorin Bonbonlutschen. Psychopharmakabedingte Chronifizierungen von Depressionen werden nicht thematisiert. Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika werden trotz international bekannt gewordener Entzugsprobleme abgestritten. Abhängigkeit von Sedativa und Tranquilizern trete nur bei längerer Einnahme auf. Von gleicher "Güte" sind das Wiederkäuen altbekannter Gentheorien über die Ursachen von Depressionen, das vollständige Ausklammern psychopharmakabedingter Depressionen und gesellschaftlicher sowie geschlechtsrollenbedingter Faktoren. Die Auflistung verschiedener psychotherapeutischer und sonstiger Verfahren und Tipps zur Alltagsbewältigung können die genannten gravierenden Mängel nicht im Ansatz wettmachen. Selbsthilfegruppen tauchen nur als Wort auf, Internetadressen sind teilweise veraltet. Fazit: kein empfehlenswertes Buch. Wer in Institutionen dieses Buch ausliegen sieht oder empfohlen bekommt, dürfte wissen, woran er oder sie ist. Kartoniert, XII + 132 Seiten, 12 Tabellen, ISBN 3-437-56440-4. München / Jena: Urban & Fischer 2003. € 19.95
Peter Lehmann

Nicole Plinz: Yoga bei Erschöpfung, Burnout und Depression
Die in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik in Hamburg-Harburg arbeitende Yogalehrerin Plinz hat dort Yoga in die Behandlung von Depressionen eingeführt, als Maßnahme, die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ergänzt. Wenn jemand unter Depression leidet, sei eine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung nötig, schreibt sie eingangs in ihrem Buch. Doch man muss sich daran nicht halten, wenn man depressiv ist und Yoga machen will, um seine Stimmungslage zu verbessern. Man kann das Buch auch lesen, wenn man nicht zum Psychiater gehen mag, und diverse Yogaübungen trotzdem machen. Im ersten Teil des Buches erläutert die Autorin ihr Verständnis von Depressionen als klassifizierbare Krankheit, Stresskrisen und Erschöpfungszuständen und die Auswirkung von Yoga auf diese Probleme im allgemeinen und beschreibt anschließend einzelne Übungen gegen psychische Problemfelder. Im zweiten Teil stellt sie eine Vielzahl unterschiedlicher Übungen dar, illustriert mit farbigen Abbildungen. Achtung: Yoga sei kein Trick, sondern werde als Weg verstanden, Körper, Geist und Psyche achtsam wieder in Balance zu bringen. Emotionen und Gedanken werden bei Yogaübungen wahrgenommen und ermöglichen so eine Auseinandersetzung mit ihnen. Schade, dass die Autorin trotz neuropsychologischer Beratung beim Verfassen des Buches nicht auf die Frage eingegangen ist, wie sich die Beeinträchtigung des Nervensystems durch synthetische neurotoxische Substanzen mit den Energieströmen verträgt, die Yoga freisetzen soll oder die bei Yogaübungen auf Körper, Geist und Psyche einwirken. Eine Überlegung wäre dieses Zusammentreffen entgegengesetzter Energien sicher wert, auch wenn sie nur für diejenigen interessant sein dürfte, die psychiatrische Psychopharmaka zu sich nehmen. Kartoniert, 189 Seiten, 208 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-86739-048-4. Bonn: BALANCE Buch + Medien Verlag 2009. € 17.95
Peter Lehmann

Edward M. Podvoll: Verlockung des Wahnsinns. Therapeutische Wege aus entrückten Welten
Podvoll ist ein amerikanischer Psychiater, der von drei sehr genauen Selbstbeschreibungen ausgehend eine Psychosetheorie entwickelt (dem Adligen John Thomas Perceval aus dem 19. Jh., verrückt, Zwangsjacke, Aufdeckung in 2 Büchern, antipsychiatrisch aktiv; John Custance, geb. 1900, Banker, Geheimdienst, »manisch-depressiv«, Anstalten, Schocks, Bücher, Kämpfer für Patientenschutz; Donald Crowhurst, 1932-1969, Ingenieur, der als Ein-Mann-Segler die Welt umrunden wollte, dabei größenwahnsinnig wurde und starb, minutiös Logbuch schrieb). Psychose ist für ihn »die natürliche Folge der besonderen Lebensumstände eines Menschen«, die bestimmte Stadien durchläuft (»Teufelskreis des Verrückt-Werdens«, »Spirale des Größenwahns«) und einer »natürlichen Heilung« zugänglich ist: »Letzten Endes hängt die Heilung eines Psychotikers davon ab, welche Bereitschaft und Fähigkeit er besitzt, sich auf die detaillierte Erkundung seines eigenen Geisteszustandes einzulassen, und zwar aus eigenem Antrieb und ganz auf sich allein gestellt.« Es geht Podvoll aber nicht um die aus esoterischen Kreisen bekannte Trennung der »spirituellen Krisen« von den psychiatrischen, sondern er ruft auf zur Selbsthilfe. Ob man seinen Theorien und Ratschlägen nun folgt oder nicht, Grundlage und Herzstück des Buches sind die Selbstbeobachtungen (s.o.) und die praktischen Konsequenzen im zweiten Teil: das Windhorse-Projekt (intensiv betreute WGs mit einer/m vorher Psychiatrisierten. Die WGs beruhten auf Respekt, Alltagshilfen, Psychopharmakareduzierung) und in der Folge das »Haus der Freundschaft« (fünf LangzeitinsassInnen, zwei HausgenossInnen, dreißig zum Großteil ehrenamtliche HelferInnen). Schlüsselwort für beide Projekte ist die »Basisbetreuung«: Für drei Stunden täglich steht den einzelnen »Betreuten« jemand zur Verfügung, um genau das zu tun, was diese gerade brauchen. Das kann alles sein, ein Spaziergang, zusammen aufräumen, ins Kino gehen, reden, schweigen. Es klingt so einfach, erfordert aber, wie Podvoll ausführlich beschreibt: »Präsent sein«, »den andern einlassen«, »gewähren lassen«, »mitnehmen«, »wahrnehmen«, die »Entdeckung der Freundschaft«. Die Beschreibungen der sechs Jahre Windhorse und des einen Jahres »Haus der Freundschaft« haben mir besonders gefallen und mich auch großzügig gemacht gegenüber dem üblichen Vokabular, das Podvoll sorglos benutzt. Er spricht von Geisteskranken, die der Pflege bedürfen, er lobt Eugen Bleuler und zitiert stolz dessen Sohn Manfred. Aber er schreibt auch: »Jeder kann endgültig den Verstand verlieren, wenn er nicht sehr gut für ihn sorgt.« Ein nutzbares Buch, respektvoll, bodenständig und buddhistisch angehaucht. Geb., 429 S., München: Hugendubel Verlag 1994. DM 48,–
Kerstin Kempker

Helmut Pollähne: Lockerungen im Maßregelvollzug
Rechtswissenschaftlicher Bericht über erleichternde Auswirkungen einer reformierten § 63 StGb-Praxis (am Beispiel der Anwendung des nordrhein-westfälischen Maßregelvollzuggesetzes im Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt/Eickelborn), mit vielen Literaturhinweisen und empirischen Daten. Pollähne ist zwar insgesamt wenig psychiatriekritisch, aber er liefert handfeste Daten für Betroffene des § 63, z.B. über die fehlende Fundiertheit psychiatrischer Prognostik. Kart., 366 S., Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 1994. Unverbindliche Preisempfehlung DM 89,–
Peter Lehmann

Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte
"Wer wurde als wahnsinnig bezeichnet? Was wurde als Ursache ihres Zustandes verstanden? Und was wurde getan, um sie zu heilen oder unter Kontrolle zu halten?" Diesen Fragen geht der englische Medizinhistoriker in seiner 2002 im Original erschienenen Kulturgeschichte des Wahnsinns nach und durchstreift dabei leichtfüßig, angenehm sachlich und mit offenem Blick zweieinhalb Jahrtausende. Es wird deutlich, wie im Laufe der Zeit der Blick auf den Wahnsinn immer enger wurde, von übernatürlicher Besessenheit zum Gendefekt, vom Exorzismus zur Pille, Milliardenumsätzen der Pharmaindustrie, dem "Schwanz, der mit dem Hund wedelt". Ein intelligentes, gut lesbares und erhellendes Buch, illustriert mit Stichen, Zeichnungen und Fotografien. Gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 28 Abbildungen, ISBN 3-908777-06-2. Zürich: Dörlemann Verlag 2005. € 18.90
Kerstin Kempker

Markus Preiter: Die Logik des Verrücktseins – Einblicke in die geheimen Räume unserer Psyche
Im Mittelpunkt des modernen Menschenbilds des Autors, den Psychiaters Dr. med. Markus Preiter, steht das Gehirn, das als Illusionsprojektor arbeitet und uns ein "Ich" vorspielt, die Welt um uns herum, die es bei gesunder Funktionsweise realitätsnah erfindet, ebenso und unsere eigene Existenz. Seinen Ansatz versteht er als psycho-sozio-philosophische Grundlagenforschung, die notwendigerweise dem gesellschaftlichen Mainstream voraus sei. Es sei wichtig, psychopathologische Phänomene als Chiffren des Strukturaufbaus der menschlichen Seele zu verstehen, wozu Kenntnisse über den Strukturaufbau des Labyrinths der Seele notwendig sei. Diese Kenntnisse möchte er liefern, indem er – ähnlich dm Periodensystem in der Chemie – mit einem übergreifenden Erklärungsmodell die verschiedenen Interpretationshorizonte der Psychiatrie auf ein gemeinsames Verständnisfundament stellen und damit in Bezug zueinander setzen und den Leser in die Lage bringen will zu sehen, was jenseits des Einzelfalls hinter den sogenannten psychopathologischen Phänomenen generell steht. Gebunden mit Schutzumschlag, 351 Seiten, ISBN 978-3-466-30886-6. München: Kösel Verlag 2010. € 19.95
Peter Lehmann

Alfred Pritz / Elisabeth Vykoukal / Katharina Reboly / Nassim Agdari-Moghadam (Hg.): Das Messie-Syndrom – Phänomen, Diagnostik, Therapie und Kulturgeschichte des pathologischen Sammelns
Das Buch zeigt die verschiedenen Ansätze zum Messie-Syndrom auf und fasst sie zu einem Ganzen zusammen. Wir finden Berichte über psychotherapeutische Hilfen und Selbsthilfeansätze für Menschen, die unter einem Sammel-"Wahn" (Namensvorschlag im Buch: "Organisations-Defizit-Störung [ODS]") leiden und sich nicht von ihrem Müll trennen mögen. Und es enthält Selbstzeugnisse, Fragebögen, Kontaktadressen und den Messie-House-Index (Vermessung der Wohnung inkl. Gerümpel). Der Versuch einer eigenen Diagnostik wird entwickelt, ebenso finden sich allerlei therapeutische, vor allem psychoanalytische Überlegungen, schließlich ist Alfred Pritz Leiter der Forschungsgruppe "Messie-Syndrom" und Rektor der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Dargestellt wird die Messie-Bewegung in Österreich und in der Schweiz; aus Deutschland gibt es im Anhang immerhin eine Adresse. Zudem werden kulturgesellschaftliche Überlegungen angestellt, beispielsweise fragt man sich, ob das Messie-Syndrom mit der modernen Wegwerfgesellschaft zu tun haben könnte. Ziel des Buches ist es, dem Messie-Phänomen näher zu kommen, um es besser zu verstehen und Konsequenzen für die effiziente psychotherapeutische Arbeit ableiten zu können. Für alle, die sich weiter mit dem Thema weiter – ob therapeutisch, selbsthilfemäßig oder theoretisch – beschäftigen wollen, liefert das Buch eine Vielzahl von Anregungen. Kartoniert, X + 324 Seiten, 4 schwarz-weiße und 16 farbige Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-211-76519-7. Wien: Springer Verlag 2008. € 39.95
Peter Lehmann

Psychotherapie im Dialog. Schwerpunktheft: Angststörungen
Alles über alle Arten von Angststörungen und deren Therapien aus der Sicht von Professionellen. Auf Erfahrungen und Beiträge von Betroffenen wurde leider offenbar keinen Wert gelegt. Aber wer sich ausschließlich für die Sicht mainstreamorientierter Profis interessiert, kann sich hier über den aktuellen Stand deren Wissens informieren. Auch enthalten: Besprechungen von Selbsthilfe-Ratgeberbüchern; wobei auch bei den Buchbesprechungen Bücher von Betroffenen wie selbstverständlich ausgegrenzt sind. Einen eingeschränkten Überblick bietet der Artikel zu Selbsthilferatgebern dennoch. Ebenfalls enthalten als Artikel ist ein großer Überblick über alle möglichen themenspezifischen Websites; schade, dass die Autorin dieses Beitrags keine Angaben darüber macht, hinter welchen Websites kommerzielle Interessen und gar Pharmafirmen stehen. Zeitschrift im Thieme Verlag Stuttgart. Heft 4/2005. 120 Seiten, ISSN 1438-7026. € 29.90
Peter Lehmann

William Pullen: Run for your Life. Achtsamkeit und Bewegung für ein glückliches und gesundes Leben
Laut Klappentext hat der britische Psychologe William Pullen das Laufen revolutioniert. Joggte man früher aus Fitnessgründen und um sich wohl zu fühlen, praktiziert man jetzt die Methode des Dynamischen Laufens: Man läuft nicht nur einfach, sondern kombiniert das Laufen mit Achtsamkeitsübungen. Bevor man loslegt, findet das Grounding statt. Man sammelt sich, macht den Body-Scan, dann den Umgebungs-Scan, dann den Gefühl-Scan, dann die Achtsamkeitsmeditation, dann denkt man sich ein Mantra aus. Dann erst läuft man los. Dann kommt der Flow, die Hormone strömen, das kann man mit der Lauf-App. messen. Macht man alles achtsam, stellt sich der Prozess ein, und hinterer sind viele Probleme gelöst und der Weg in ein glückliches und gesundes Leben ist frei. So einfach geht das? Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 256 Seiten, ISBN 978-3-608-11023-4. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2018. € 14.95
Peter Lehmann

Michaela Ralser: Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie – Kulturen der Krankheit um 1900
Habilitationsschrift an der Universität Innsbruck über die Verankerungen des Geltungsmodus Normalität in Psychiatrie, Schule, Fürsorge und Justiz im 19. Jahrhundert und dessen Durchsetzung als heutiges Unterscheidungsmittel in der Gesellschaft. Die Autorin analysiert Bedingung und Wirkung der Transformationen im Archipel "Normalität" speziell in der psychiatrischen "Wissenschaft" zwischen 1875 und 1914, um die Dynamiken und Prozesse deutlich zu machen, die den Strukturwandel des Subjekts als psychisches einleiten und vollziehen. Wie expandieren die Zonen der Normalität, wie werden ihre Grenzen flexibel? Den großen Nervenkrankheiten – den Hysterien, Neurasthenien, traumatischen Neurosen und sozialen Pathologien – kommt dabei strategische Bedeutung zu. Sie erreichen in kurzer Zeit eine Publizität, die es rechtfertigt, sie als erste mediale Krankheiten zu bezeichnen. Ihre Modelle bilden das Inventar noch heute gültiger Diagnosesysteme. Quellenbasis der Arbeit sind sorgfältig recherchierte publizierte psychiatrische "Fall"-Geschichten sowie "Kranken"-Akten der Innsbrucker Universitätsanstalt von 1891 bis 1918 mitsamt den darin enthaltenen "Ego-Dokumenten" die von Michaela Ralser neu interpretiert werden. Mit ihren Analysen weist die feministisch orientierte Autorin nach, wie Medizin und Psychiatrie zur dominierenden Sozialalisationsagentur wurde. Abgeschlossen wird das Buch mit 44 Seiten Quellenangaben und Literaturhinweisen. Kartoniert, 354 Seiten, ISBN 978-3-7705-4980-1. München: Fink Verlag 2010. € 39.90
Peter Lehmann

Rolf Rameder: Der verlorene Sohn
Eigentlich will er ja morgen aus dem Fenster springen, der in Wien lebende Autor, Jahrgang 1948, da er sein Leben aus Angst vor sich selbst und angewidert von der Gesellschaft und ihren psychiatrisch Tätigen nicht mehr aushält. Aber vorher schreibt er noch an Adolf Holl, Priester und Verfasser des Buches "Jesus in schlechter Gesellschaft". Dies tut er seit 20 Jahren, um – wie Scheherezade in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht – seinen Tod noch etwas aufzuschieben, und monatlich einmal treffen sich die beiden zum Teetrinken. Aus all den Schreiben entstand ein Manuskript, beginnend mit dem Brief vom 16. September 2007 und einem angekündigten Sprung aus dem Fenster. Und weiterhin schreibt Rameder an Holl, im Buch letztmalig am 18. Januar des Folgejahres. Dann lebt und leidet und weint er immer noch, und er tut das bis heute. Inbrünstig, brüsk, schamlos wahrhaftig und direkt bringt er verschiedene Leidenserfahrungen in selbstmitleidlosen Szenen zu Wort. Ein "Stück Scheiße" sei er, Abfall, Auswurf, Dreck, ein Niemand, ohne Rechte, Würde und Wert, nichts als das nackte Leben, mit dem man machen könne, was man wolle, er lebe in einem 20-Quadratmeter-Loch und verbringe seine Zeit im Bett mit Schwulenpornos, Büchern und Fernsehen. Keiner seiner Erfahrungsbereiche, ob in Gefängnis, Psychiatrie, Psychotherapie, Politik und Journalismus, wird verschont, wenn Rameder sich durch das Geröll seiner Erinnerungen gräbt, die ihn fortgesetzt überrollen und in der sich die Gemeinheiten der normalen psychosozialen Gemeinschaft herrlich widerspiegeln. Dapotum, das er in der Psychiatrie und danach ambulant erhalten habe, habe ihn die Zeit in der Totenstarre verbringen lassen. "Was ist die Psychiatrie anderes als die Fortsetzung der Familie an einem anderen Ort, mit anderem Personal und in anderen Kulissen?" fragt er, der so gerne erträgliche und großzügige Eltern gehabt hätte, die ihn gelehrt hätten, eine Frau zu lieben und ein Mann zu werden. Doch die Psychiatrie schütze nichts so sehr wie schuldig gewordene Eltern; das einzige, das sie mit höchster Sorgfalt behandle, seien Psychopharmaka. Psychiater seien dumm, primitiv und ungehobelt. Und gelegentlich trete zu allem Überfluss einer auf, lege ein strohdummes und abseitiges Buch über Kunst und Schizophrenie vor und sei ja doch nur ein kleiner Angestellter von Ciba-Geigy oder Hoffmann-La Roche. "Ich habe mir oft gedacht," schreibt Rameder, "dass die Nazis, und ich meine damit die echten der 30er-Jahre, vor Neid erblasst wären, hätten sie sehen können, dass die Hinaustötung von nutzlosem Menschenleben aus allen Bindungen mühelos und gewinnbringend gelingt. Und all das von biederen, halbblöden Linken und Ikea-Sozialisten inszeniert, auf den Weg gebracht, mit großem Aufwand an Trara und Reklame durchgesetzt." Hut ab vor Theodor Itten und seinem Mut, dieses durch und durch böse und schmutzaufwirbelnde Buch des Rolf Rameder zu verlegen. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 157 Seiten, ISBN 978-3-9522485-8-4. St. Gallen: itten books 2010. € 18.–
Peter Lehmann

Monica Ramirez Basco: Manie und Depression – Selbsthilfe bei bipolaren Störungen
Psychiatriekonformes Arbeitsbuch mit Strategien zur Kontrolle von Symptomen, zur Verhinderung von Rückfällen und zur Problemlösung – basierend auf der Überzeugung, dass Psychopharmaka unbedingt notwendig sind, auf einem durchgängig biomedizinischem Krankheitsverständnis und mit Anleitungen zu Interventionen und Aktionen durch die Betroffenen selbst ("Selbsthilfe"). Aus dem Englischen. Paperback, 355 Seiten, ISBN 978-3-86739-019-4. Bonn: BALANCE Buch + Medien Verlag 2007. € 17.90
Peter Lehmann

Luise Reddemann / Arne Hofmann / Ursula Gast (Hg.): Psychotherapie der dissoziativen Störungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend
Informative, allerdings kritische Publikationen (wie z.B. Wildwasser Bielefeld e.V. [Hg.]: Der aufgestörte Blick. Multiple Persönlichkeiten, Frauenbewegung und Gewalt) aus dem Blickfeld ausblendende Zusammenfassung des aktuellen Wissens über Krankheitsmodelle, Diagnostik, psychotherapeutische Behandlung und Verlauf dissoziativer Störungen zur psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung. Mit einer Liste von Beratungsstellen und Therapeuten. Kartoniert, XII + 219 Seiten, 4 Abbildungen, 9 Tabellen, ISBN 3-13-130511-8. Stuttgart & New York: Thieme Verlag 2004. € 39.95
Peter Lehmann

Susanne Regener: Visuelle Gewalt – Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts
Das Buch enthält eine akademische Auseinandersetzung mit psychiatrischen Fotografien als normierende Körperpolitik: Psychiater wollen Fremdes definieren, pathologisieren und katalogisieren. Die Autorin, Professorin für Kultur- und Medienwissenschaftlerin an der Universität Siegen, analysiert dieses psychiatrische Ordnungsverfahren, das im Namen von wissenschaftlicher Vernunft auf Körper und Seelen zielt, Menschen aber lediglich typisiert und ausgrenzt. Die 135 Abbildungen, beginnend mit der Anfangszeit der Photographie, ergänzt um gezeichnete Abbildungen aus der Zeit davor, hinterlassen einen schönen Eindruck von der Perversion des diagnostischen Blicks, der mit Diagnosen und entsprechenden Photographien Augenblickszustände der psychischen Befindlichkeit aus dem historischen Zusammenhang herauslösen und zum objektiven biologischen Krankheitssymptom umdeuten will. Schade, dass die Autorin – von einem kurzen Absatz über moderne bildgebende Verfahren mit demselben Anspruch auf Sichtbarmachung und Erklärung außerordentlicher seelischer Zustände und Erfahrungen – beim psychiatrischen Zeitalter der Lobotomie Anfang der 1950er-Jahre Halt gemacht hat und in psychiatrischer Fachliteratur publizierte Fotografien aus dem Zeitalter der Psychopharmakologie ebenso ausblendet wie Fotografien Elektrogeschockter. Auf Literaturquellen Psychiatriebetroffener verzichtet die Autorin ebenfalls, diese Spezies belässt sie in ihrem Objektstatus. Nichtsdestotrotz, wer sich kritisch mit der Geschichte und Funktion psychiatrischer Fotografien beschäftigen will, findet in Susanne Regeners Buch ausreichend Material für einen guten Einstieg ins Thema. Kartoniert, 253 Seiten, 135 Abbildungen, ISBN 978-3-89942-420-1. Bielefeld: transcript Verlag 2010. € 27.80
Peter Lehmann

Claudia A. Reinecke: Mit ADHS und Freude durch den Schulalltag
ADHS sei angeboren, schreibt die Autorin ohne weiteren Beleg, und empfiehlt als Methode zur Stressreduzierung eine Vielzahl verhaltenspädagogischer Maßnahmen. Seit zwei Jahrzehnten als Psychologin in der Lehrer- und Ärztefortbildung tätig und selbst Mutter von fünf Kindern, argumentiert sie für eine wertschätzende Behandlung problematischer Kinder und für eine lösungsorientierte Kommunikation, die effektives und freudvolles Lernen erleichtere. Die Autorin zeigt anhand ausgewählter Beispiele, wie man Probleme in Ziele umwandelt, aus der Fehlersuche ein Entdecken kleiner Erfolgen macht. Ausblick auf Entwicklung und liebevolle Begegnung sollen helfen, das Ruder in gelingendes Miteinander zu lenken. Die Anwendung prozess- und embodimentfokussierter Psychologie reduziere den Stress und stärke den Selbstwert bei allen Beteiligten, auch bei den betroffenen Lehrern. Kinder mit Ritalin und entsprechend sich selbst, wie das so manch ein Lehrer resigniert tut, mit Alkohol zuzudröhnen, wäre sicher einfacher. Ein Buch gegen den Zeitgeist. Kartoniert, 118 Seiten, 13 Abbildungen, Kleinformat (9,2 x 14,4 cm), ISBN 978-3-8497-0026-3. Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2015. € 9.95
Peter Lehmann

Mark A. Reinecke: Das kleine Anti-Angst-Buch. Die Notfallapotheke für Angstsituationen
Aus dem Amerikanischen übersetztes kleines, kompaktes Buch eines Psychiaters und Verhaltensforschers mit 20 Lektionen und Übungen, basierend auf kognitiver Verhaltenstherapie und affektiver Neurowissenschaft, um die Gedanken so zu filtern, dass das eigene Denken, Fühlen und Verhalten in positiver Weise verändert wird. Jede der Übungen ist klar gegliedert in eine kurze Beschreibung, den enthaltenen Kerngedanken, mögliche Einwände sowie Vorschläge, was man selbst tun kann. Der Untertitel "Notfallapotheke für Angstsituationen" des Patmos Verlags ist dagegen dumm und irreführend: Psychopharmaka jeglicher Art kommen in dem Buch absolut nicht vor. Statt dessen beinhaltet es – obwohl von einem Psychiater geschrieben – ein Plädoyer für eigenes Aktivwerden in Gelassenheit anstelle von panischem Pillenschlucken. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 115 Seiten, ISBN 978-3-8436-0216-7. Ostfildern: Patmos Verlag 2012. € 12.99
Peter Lehmann

Brigitte Reiskopf: Unchained psychosis – Leben im Ausnahmezustand
Recht unorthodox geschrieben und eher unübersichtlich zu lesen, empfiehlt sich das im Herbst von Brigitte Reiskopf im Leipziger Engelsdorfer Verlag vorgelegte autobiographische Werk zum "Leben im Ausnahmezustand". Denn umso tiefer geht die Lektüre zum individuellen Betroffenen-Erleben der Autorin, die wahrlich Prägnantes, Intensives seit ihrer Kindheit erlebt hat und durchleben musste. Die Schilderungen berichten vom Ausgeliefertsein: von ungesundem familiärem Kontext, sexuellem Missbrauch bis zu unseligen Psychiatrie-Behandlungen mit medikamentösen Gefährdungen, heruntergespielt durch eine verantwortungsarme Ärztin, was körperliche Schäden, Lebensgefahr und "Alltagsuntauglichkeit" bewirkte, anstatt zu helfen. Ritalin, Zyprexa, Benzodiazepine... das bekannte potente pharmakologische Waffenregister war aufgeboten worden.
Erfreulich gelang eine selbstbefreiende Odyssee, per Selbstreflexion und Selbstfindung, in der Liebe mit einem neuen Partner, durch künstlerisch-literarischen Bezug und Aufarbeitung über natürliche Wege, so gut dies dann eben geht. Das Surreale wurde paradoxerweise zum Halt. Die Kapitelinhalte sind sehr persönlich und konkret, gerade auch in der Beschreibung von Psychose-Wahrnehmungen: authentisch harte Kost, aber ohne Selbstüberschätzung, ohne Schwarz-Malerei oder gar sprachlichen Hasstiraden gegenüber (ehemaligen) Widersachern – einem Phänomen, dem psychiatrieerfahrene AutorInnen allzu oft erliegen. Gerade dieser Akzent macht das mit Lyrik und einer figurativen Illustration durch die Künstlerin Dana Einhorn auflockernd ergänzte Buch attraktiv und besonders.
Brigitte Reiskopf (Anfang 40, lebt in Niederösterreich) meint in ihrem Statement als Resümee: "Es gibt Dinge, die sind "real" skurril. Es gibt Dinge, die sind im "Surrealen" skurril. Und es gibt Dinge, die sind im "Irrealen" skurril. Sofern Irreales überhaupt Substanz haben kann. Bestand hat es keinen. Wesentlich ist, wie wir zu Erlebtem stehen, wie wir es bewerten; des Weiteren, dass wir positiv bleiben und uns besinnen auf das, was uns Kraft gibt. Sei es die Natur. Sei es die Kunst. Alles, was uns verhilft zu Menschlichkeit und Freiheit."
Broschur, 148 S., illustriert, ISBN 978-3-96145-970-4. Leipzig: Engelsdorfer Verlag 2020. € 15,–
Gangolf Peitz

John Rengen / Olaf Nollmeyer: Rubio spuckt's aus. A Story from a Pharma-Insider
"Rubio spuckt's aus" ist, als Fiktion notdürftig verpackt, die Geschichte von Rubio, einem schwedischen Pharmamanager, der mit skrupellosen Bestechungen von Ärzten, Gutachtern und Regierungsvertretern rasant Karriere machte und noch rasanter gefeuert wurde. Wer an Details der globalen, schmutzigen und effektiven Pharmageschäfte interessiert ist (und über die vielen Druck- und Rechtschreibfehler hinwegliest), wird glaubwürdig und flott lesbar bedient, angereichert mit aktuellen Presseberichten und Websites. Dass Rubio, dessen Geschichte nahezu identisch mit der des Autors scheint, just in dem Moment, wo er gefeuert ist, Reue und Empörung erfassen, hinterlässt einen kleinen Nachgeschmack. Rezension im BPE-Rundbrief. Paperback, 125 Seiten, ISBN 978-3-89626-605-7. Berlin: trafo verlag 2006. € 12.80
Kerstin Kempker

Anita Riecher-Rössler (Hg.): Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit
Bisher gab es drei nennenswerte Bücher zum Thema Psychiatrie, psychische "Krankheit" und Schwangerschaft: " Wochenbettdepression" von Katharina Dalton und Wendy Holton, "'Ich bin ganz und richtig' – Therapeutische Begleitung durch Psychose und Mutterschaft" von Lilla Sachse sowie "Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit" von Anke Rohde & Christof Schaefer (siehe unten). Jetzt ist noch ein drittes erschienen: "Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit" herausgegeben von Anita Riecher-Rössler. Auch dieses Buch beschäftigt sich mit Fragen, die für psychiatriebetroffene Frauen existenziell sind: Was ist zu beachten, wenn bei oder nach psychischen "Erkrankungen" eine Schwangerschaft geplant wird? Was, wenn die Schwangerschaft ungeplant eintritt? Wie sieht eine optimale Betreuung für Mutter und Kind während Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit aus? Welche Psychopharmaka dürfen eingesetzt werden? Welche nichtpsychopharmakologischen Wege der Unterstützung gibt es? Frau Riecher-Rössler ist Chefärztin der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel. Damit ist im Grunde seine inhaltliche Ausrichtung vorgezeichnet: Es geht um die Sichtweise der Mainstream-Psychiatrie. Im ersten Teil des Buches werden "Krankheitsbilder" in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt vorgestellt, also Depressionen in der Zeit nach der Geburt, Psychosen, Angstzustände während der Schwangerschaft, Drogenabhängigkeit und auch die Rolle der männlichen Partner. Der zweite Teil befasst sich mit Behandlungsaspekten vor, während und nach der Geburt – natürlich auch und vor allem Psychopharmaka und Elektroschocks, aber auch mit therapeutischen Aspekten, und der dritte Teil handelt von Prävention und Beratungsangeboten. Von den psychotherapeutischen Vorschlägen und der Lichttherapie abgesehen, bekräftigt das Buch die Lehrmeinung, dass die Nichtgabe von Psychopharmaka deren Risiken überwiegt. Frauen, die vor, während oder nach der Schwangerschaft in psychiatrische Hände gelangen, welche sich an diesem Buch orientieren, müssen sich darauf einstellen, dass ihnen Psychopharmaka oder gar Elektroschocks als risikoarm und effektiv angeboten werden. Natürlich werden in dem Buch auch Psychopharmakarisiken angesprochen: Fruchttod zu Beginn der Schwangerschaft, Fehlbildungen des Fötus speziell in der 5.-12. Woche (speziell bei Phasenprophylaktika), Wachstums- und Entwicklungsstörungen, toxische Wirkungen oder Entzugssyndrome nach der Entbindung beim Neugeborenen, eine mögliche langfristige Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung sowie Probleme des Übertritts von Psychopharmaka über die Muttermilch beim Stillen oder der Folgen des Abstillens. Der dritte Teil handelt von Prävention; wie kann übermäßigem Säuglingsschreien vorgebeugt werden, welche Strategien gibt es zur Betreuung schreiender Säuglinge u.v.m. Insgesamt wird aus der Lektüre des Buches noch einmal das Ausmaß der besonderen Problemsituationen deutlich, in die Frauen mit psychischen Problemen durch eine Schwangerschaft kommen können; einfache Rezepte gibt es kaum. Eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile der typischen psychiatrischen Behandlungsmittel ist auf Grundlage dieses Buches allerdings nicht möglich. Behandlungsbedingte Risiken werden kleingeredet, oder man versucht, sie durch nicht minder toxische Strategien zu umschiffen – Beispiel: Ersetzung von Antiepileptika, die als Phasenprophylaktika gegeben werden, durch sog. atypische Neuroleptika oder Umstellung auf Lithium, da diese Substanz nur eine "fragliches minimales kardiales Fehlbildungsrisiko" aufweise. Mit " fraglich" und "minimal" meint die Autorin an dieser Stelle vermutlich das nachgewiesene sechs mal häufiger auftretende Risiko von Schäden an Herzgefäßen und die 150 mal häufiger auftretende Ebstein-Anomalie, einen Herzklappenfehler) bei Babys, deren Mütter während der Schwangerschaft Lithium erhielten. Betroffenen Frauen und ihren Partnern ist deshalb dringend geraten, eine zweite und dritte – und vor allem vorurteilsfreie – Meinung einzuholen, die den tatsächlichen Gesundheitsrisiken von Mutter und Baby das Gewicht einräumt, das dem Anspruch auf medizinische Sorgfalt und auf körperliche Unversehrtheit und optimale Betreuung von Mutter und Baby in einer besonders sensiblen und gefährdeten Lebenssituation gerecht wird. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, X + 152 Seiten, 14 Abbildungen, 30 Tabellen, ISBN 978-3-8055-9562-9. Basel: Karger Verlag 2012. € 55.–
Hier die drei anderen genannten Bücher:
Dalton, Katharina / Wendy Holton: Wochenbettdepression. Erkennen – Behandeln – Vorbeugen
Rohde, Anke / Christof Schaefer: Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit. Arzneisicherheit – Beratung – Entscheidungsfindung
Sachse, Lilla: "Ich bin ganz und richtig" – Therapeutische Begleitung durch Psychose und Mutterschaft
Peter Lehmann

Peter Riedesser / Axel Verderber: »Maschinengewehre hinter der Front« – Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie
Umfassende und kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der deutschen Militärpsychiatrie von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik und den Faschismus bis zur heutigen Bundeswehr. Unter der Annahme, Militärpsychiatrie könne keine neutrale Wissenschaft sein, setzen sich die Autoren mit dem "Missbrauch" der Psychiatrie auseinander. Nie sei es um Heilung gegangen, immer nur um Disziplinierung, und die Folgen seien gewalttätige und schmerzhafte »Therapie«verfahren gewesen. Weshalb die Autoren auf die Frage verzichten, wo der prinzipielle Unterschied der Militärpsychiatrie zur "neutralen" Psychiatrie liegt mit ihren ebenfalls konfliktunterdrückenden Verabreichungen kaum weniger schmerzhafter Anwendungen (Neuroleptika, Elektroschocks, Insulinschocks) oft unter Gewaltanwendung oder -androhung, bleibt ihr Geheimnis. Wegen seiner Faktenfülle ist das Buch dennoch wichtig und lesenswert. Mit einem Kapitel zur Militärpsychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Bundeswehr und einem Vorwort der Autoren zur Neuauflage 2004. Kartoniert, 248 Seiten, 3 Abbildungen, ISBN 3-935964-52-8. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag, 2. Auflage 2004. € 24.–
Peter Lehmann

Uwe Ritzer / Olaf Przybilla: Die Affäre Mollath – Der Mann, der zu viel wusste
Der 1956 in Nürnberg geborene Gustl Mollath ist bekannt geworden, weil sich die Medien seiner annahmen, als es unübersehbar wurde, dass er sieben Jahre offenbar als Opfer eines Scheidungskriegs und typisch schludriger psychiatrischer Gutachten in der Gerichtspsychiatrie einsaß. Mit einem solchen Schicksal ist er nicht alleine; was seinen Fall so besonders macht, zeigt das äußerst sorgfältig recherchierte Buch von Uwe Ritzer und Olaf Przybilla, beides Journalisten bei der Süddeutschen Zeitung, anschaulich auf. Das Buch ist in neun Kapitel aufgeteilt. Es beginnt mit Mollaths Werdegang, Ehe, Scheidung und Psychiatrisierung, als er die Verwicklung seiner Ehefrau in illegale Geldgeschäfte der Hypovereinsbank anprangert. Im nächsten Kapitel wird, quasi im Vorgriff, das Gutachten des Psychiaters Hans Simmerl von 2007 beschrieben, das bei Mollath keinerlei psychotische Symptome feststellt, lediglich querulatorische Züge und eine rechthaberische Grundhaltung. Trotzdem (oder deshalb) bleibt Mollath noch weitere fünf Jahre in der Gerichtspsychiatrie. Kapitel 3 geht zur ursprünglichen Gerichtsverhandlung von 2006 zurück, als Mollath wegen angeblicher Gemeingefährlichkeit (Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung im Affekt) von einem offenbar voreingenommenen Richter in einem dilletantischen Verfahren, begleitet von richterlichem Gebrüll, in die Forensik versenkt wurde. Dem Folgekapitel liegt das Verhalten der Justizbehörde zugrunde, die es nicht für nötig hielt, die Beweise anzuschauen, mit denen Mollath illegale Geldgeschäfte belegte, die ihm als Hirngespinst ausgelegt worden waren. Kapitel 5 beschreibt mafiaähnliche Zustände in der bayerischen Politik und Justiz und deren Herumgeeiere (SPD inklusive), als der Justiz- und Psychiatrieskandal immer offensichtlicher wird. Außerdem dokumentieren die Autoren das Verhalten der Hypovereinsbank, der die Geldschiebereien anscheinend bekannt waren und die dennoch, so die Aussage der Autoren, von sich aus absolut nichts zur Entlastung von Mollath beitrug. Zum Schluss durchleuchten die Autoren die schwachsinnigen psychiatrischen Gutachten über Mollath, die jede seiner Äußerungen, und sei es sein Wunsch nach Kernseife, zum Symptom seiner angeblichen Geisteskrankheit uminterpretierten. Und dann die wundersame Freilassung Mollaths. Ein durch und durch atypischer Fall: nicht wegen der skandalösen Umstände, unter denen er in die Gerichtspsychiatrie verbracht wurde, sondern wegen des öffentlichen Interesses, das er und seine Unterstützer herstellen konnten, und der Sorgfalt, mit der die Autoren das Material zu einer krimiähnlichen Lektüre aufbereitet haben. Empfohlen als schön böses Weihnachtsgeschenk für alle, die noch an Wissenschaftlichkeit und Ethik der Psychiatrie glauben. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzumschlag, 238 Seiten, ISBN 978-3-426-27622-8. München: Droemer Verlag 2013. € 19.99
Peter Lehmann

Eckhard Roediger: Wege aus der Angst. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige
"Wie Ängste entstehen", lautet das erste Kapitel des übersichtlichen und verständlichen Buches. Eckhard Roediger beginnt mit dem Abschnitt "Körperliche Grundlagen des Angsterlebens". Roediger ist Neurologe, organische Dispositionen sind für ihn wichtig. Als tiefenpsychologisch orientierter Therapeut, der am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin arbeitet, schlägt er mehr oder weniger undogmatische Bögen zwischen Neurologie, Antroposophie, Verhaltenstherapie und Psychiatrie. Allerlei durchaus sinnvollen Ratschlägen, Angst- und Panikanfälle zu verstehen und vernünftig mit ihnen umzugehen, sowie Selbsthilfe-Übungen und psychotherapeutischen Techniken steht allerdings der psychiatrische Vorschlag entgegen, Psychopharmaka einzusetzen, insbesondere die marktaktuellen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), denen der Neurologe die Förderung der Aussprossung von Hirnzellen im Hippocampus nachsagt, was zu verbesserten Lerneffekten führe. Neuere Forschungen, die Roediger allerdings nicht benennt, würden darauf hinweisen. Doch dies ist eine sehr schwer (oder niemals) zu beweisende und recht abenteuerliche Hypothese. Das würde auf ein so genanntes Hirndoping hinauslaufen, was im Grunde auch das bewusste Lernen von "Gesunden" verbesserte. Werden lernschwache Schulkinder vielleicht bald schon SRI bekommen? Um auf die Frage des Einsatzes dieser Antidepressiva bei unter Ängsten leidenden Menschen zurückzukommen: Wäre es nicht sinnvoll, erst mal die therapeutische Wirkung der SSRI nachzuweisen? Kartoniert, 175 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, ISBN 3-7725-5019-3. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2005. € 14.50
Peter Lehmann

Heinz-Peter Röhr: Vom Glück, sich selbst zu lieben. Wege aus Angst und Depression
Flüssig geschriebener und leicht verständlicher Ratgeber für Menschen, die sich darauf einlassen können, dass der Autor immer wieder Grimms Märchen "Der Teufel mit den drei goldenen Haaren" heranzieht, um seinen differenzierten Vorschlägen zur Überwindung des eigenen inneren negativen Selbstbildes zu folgen. Laut Heinz-Peter Röhr tragen Menschen mit traumatischen Erfahrungen, denen Schlimmes angetan wurde, zwar in keiner Weise die Schuld dafür (diese liegt einzig bei den Tätern), allerdings die Verantwortung dafür, dass sie all ihre Energie darauf verwenden, aus der Opferidentität herauszutreten und trotz allem Vorgefallenen möglichst glückliche Menschen zu werden. Damit liegt er auf ähnlicher Linie wie Tina Stöckle, die ihr Buch "Die Irren-Offensive – Erfahrungen einer Selbsthilfeorganisation von Psychiatrie-Opfern" in der Neuauflage in "Die Irren-Offensive – Erfahrungen einer Selbsthilfeorganisation von Psychiatrie-Überlebenden" umbenannt haben wollte. Original 2001 im Penda Verlag erschienen. Kartoniert, 185 Seiten, ISBN 3-530-40182-X. Düsseldorf & Zürich: Walter Verlag 2005. € 14.90
Peter Lehmann

Thomas Röske / Bettina Brand-Claussen / Gerhard Dammann (Hg.): Wahnsinn sammeln – Outsider Art aus der Sammlung Dammann / Collecting madness – Outsider Art from the Dammann Collections
Deutsch-englischer Ausstellungskatalog mit vielen farbprächtigen großformatigen Abbildungen von Gemälden, Zeichnungen, Figuren, Objekten, Schnitzereien ... beeindruckend durch Kraft und Eigensinn. Wahnsinn einmal nicht als Feld der Psychiatrie, sondern als Feld, dem radikale Kunst und ihr Sammeln entwachsen. "Verrückte" Sammler und Galeristen werden intensiv befragt und analysiert – ist es Sucht, ist es Leidenschaft, was ist es? Aquarelle und Zeichnungen von Adelheid Duvanel und Unica Zürn, die als Autorinnen bekannt wurden, zähnebleckende Madonnen-Objekte von Hans Schärer, schreiende Torsi an einem geschnitzten Bett, das um 1880 in einer französischen Anstalt entstand, eine "erstaunliche Parallelwelt neben der offiziellen Institution Kunst". Beiträge von Maria A. Azzola, Bettina Brand-Claussen, Peter Gorsen, Monika Jagfeld, Floria Reese, Barbara Safarova, Michael Schroeder und Wolfgang Ullrich. Gebunden, 224 Seiten, 100 farbige Abbildungen, 20 x 28 cm, ISBN 3-88423-265-7. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2006. € 29.90
Kerstin Kempker

Gisela Roggendorf / Katja Rief: Schizophrenie – ein Denkausbruch mit Folgen. Eine Positivtheorie
Hier geht es um eine neue "Theorie der Schizophrenie-Entstehung", die als Ursache keinen Defekt und keine genetische Schwäche postuliert, sondern eine atypische Häufung von guten und starken Charaktereigenschaften sowie eine Anpassungsunfähigkeit. So bricht die Balance zusammen, das Denken gerät in Unordnung, ein Gefühls- und vor allem ein Denkausbruch findet statt und bei den Betroffenen treten schließlich Erschöpfungszustände ein, die sie in Tabuzonen geraten lassen, bis eine Verständigung mit ihnen nicht mehr möglich scheint. Ein nachvollziehbarer Ansatz, wäre da nicht der absolute Anspruch der Autorinnen – einer Psychiaterin und einer Politikwissenschaftstudentin –, ihre Theorie erkläre schlüssig jedes Detail, das im Zusammenhang mit "Schizophrenie" auftritt: "Die vorliegende Theorie ist eine vollständige und nicht widerlegbare Darlegung der Entstehung schizophrener Symptome." "Schizophrenie ist und bleibt eine Krankheit" schreiben sie weiter und halten es für erstrebenswert, wenn Befürworter und Gegner des Krankheitsbegriffs eine Einigung fänden. Leider machen sie hierzu keinen Vorschlag, was angesichts ihres Überzeugtheitsgrads nicht verwundert. Dass "Schizophrenie" als Krankheit zu definieren sei, begründen sie unter anderem mit dem Argument, sie würde mit Medikamenten und in Krankenhäusern behandelt. Ähnliches könnte auch Kritikern der Psychiatrisierung sowjetischer Dissidenten entgegnet werden: Ist die Neigung zu demokratischen Verhältnissen deshalb eine Krankheit, weil die Missliebigen in Anstalten gesteckt werden und Psychopharmaka gespritzt bekommen? Würden die Autorinnen psychiatrisch diagnostizierte Menschen nicht in altbekannte diagnostische Schubladen sperren ("die Schizophrenen", "die Genialen"), die Verwendung von Psychopharmaka nicht per se gutheißen und den existentiellen Unterschied zwischen einem Modell und der Realität nicht ausblenden, könnte man diesem Denkausbruchsversuch aus der herrschenden Ideologie weit positiver gegenüberstehen. Wer allerdings noch im biopsychiatrischen Krankheitsdenken verfangen ist, findet in diesem Buch sicher Denkfreiräume. Man muss den Autorinnen ja nicht auf den Leim gehen und glauben, jenseits ihrer Einsichten und Vorstellungen sei die Welt zu Ende. Gebunden mit Schutzeinschlag, 204 Seiten, ISBN 978-3-9803103-9-0. Bielefeld: Gisela Roggendorf Verlag 2006. € 19.50
Peter Lehmann

Anke Rohde / Christof Schaefer: Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit. Möglichkeiten und Grenzen
Aus der Sicht der herrschenden Medizin geschriebenes, dennoch nicht unreflektives – im Verhältnis zum Umfang leider teures – Buch, aus dem die Unsicherheit und Risikobehaftetheit von psychiatrischen Psychopharmaka aller Art für Fötus und Neugeborenes deutlich wird: im negativen Fall Einzelfallberichte über Schäden oder nachweislich erhöhte Risiken, im positiven Fall eine unzureichende Datenlage. Die Risikoabschätzung bleibt den Betroffenen nicht erspart, wollen sie sich nicht blind auf das Urteil von Ärzten verlassen. Auch für NichtmedizinerInnen recht verständlich geschrieben. Kartoniert, VIII + 71 Seiten, 3 Abbildungen, ISBN 3-13-134331-1. Stuttgart / New York: Thieme Verlag 2006. € 19.95
Peter Lehmann

Marius Romme / Sandra Escher: Stimmenhören verstehen – Der Leitfaden zur Arbeit mit Stimmenhörern
Nach "Stimmenhören akzeptieren" geht es jetzt um das Verstehen von Stimmen: um alternative Erklärungs- und Therapieansätze sowie therapeutische Interventionen wie Stimmeninterviews, Berichte und Konstrukte als methodische Hilfsmittel, damit Therapeuten und über sie auch Betroffene die Beziehung zwischen Stimmen und individueller Lebensgeschichte analysieren und der Bedeutung der Stimmen auf die Spur kommen können. Romme und Escher empfehlen, die in dem Buch erläuterten Methoden nur in Verbindung mit der Teilnahme an speziellen Fortbildungskursen und möglichst gemeinsam von Profi und Stimmenhörer anzuwenden. Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Teil I erklärt die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes, die Auswirkung von Forschung auf die Diagnostik und den Zusammenhang von Stimmen und Lebensgeschichte. Teil II führt den Fragebogen ein als Mittel, diese Beziehung zu analysieren und zu einem Konstrukt (welch scheußlicher Begriff) weiterzuentwickeln, das die zugrunde liegenden Probleme definiert. Teil III befasst sich mit den Interventionen und mit Erklärungen, die Stimmenhörer für ihre Stimmen haben. Leider fehlt in der erwähnten Literatur, über die man sich mit Erfahrungen von Stimmenhörern vertraut machen soll, ausgerechnet das Buch "Meine Stimmen – Quälgeister und Schutzengel. Texte einer engagierten Stimmenhörerin" von Hannelore Klafki, der 2005 gestorbenen Gründerin des deutschen Netzwerks Stimmenhören. Im Maastrichter Fragebogen, der dem Buch beiliegt, werden u.a. traumatische Erfahrungen insbesondere in der Kindheit abgefragt. Ausgespart werden allerdings ausgerechnet Fragen nach traumatischen Psychiatrieerfahrungen, dabei ist der Zusammenhang zwischen Missbrauch in der Kindheit, Wiederholung traumatischer Erfahrungen in der Psychiatrie (erzwungenes Entkleiden, erzwungener Bettaufenthalt, gewaltsame Manipulationen am Körper) und Stimmenhören wie auch anderen Formen verrückter Lebens- und Sinnesweise hinreichend bekannt. Kartoniert, 240 Seiten, mit der 16seitigen Beilage "Maastrichter Fragebogen", ISBN 978-3-88414-442-8. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2008. € 24.90
Peter Lehmann

Matthias Rosemann: BTHG – Die wichtigsten Neuerungen für die psychiatrische Arbeit
Dieses kleine hochaktuelle Buch stellt einen Wegweiser durch das neue Teilhaberecht dar und möchte den Leser ermutigen, sich den Veränderungen des BTHG zu stellen und sie mitzugestalten. Rosemann stellt die wichtigsten Neuerungen dar, die der Gesetzgeber möglich macht. Dabei konzentriert er sich auf ausgewählte, für die psychiatrische Arbeit relevante Texte. Er zeigt auf, wie die Selbstbestimmungsrechte und Ansprüche auf Unterstützung von Menschen mit Behinderungen gestärkt werden. Die Vor- und Nachteile dieser Analyse arbeitet Rosemann gut und verständlich heraus. Der Behinderungsbegriff des SGB IX wird folgenreich neu gefasst. Der Kern des BTHG ist die Überführung der Eingliederungshilfe SGB IX in ein eigenes Gesetz, erfolgend zum 01.01.2020. Dann werden die Vorschriften der Eingliederungshilfe zu einem neuen Teil des SGB IX. Der bisherige Teil 2 des SGB IX, das Schwerbehindertenrechts wird zu Teil 3 des SGB IX. In dem Buch werden auch zentrale Begriffe wie Assistenz, Selbstbestimmung und Teilhabe in der Gesellschaft, die gestärkt wird, gut erklärt. Laut UN-Behindertenrechtskonvention (am 03.05.08 von der BRD ratifiziert) und § 1 SGB IX (seit 2018) ist die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen und Benachteiligungen zu vermeiden und ihnen entgegenzuwirken, im Grundsatz ein Antidiskriminierungsgebot. Barrieren bestehen nicht nur aus baulichen oder sinnesorientierten Hindernissen, sondern auch aus überholten Haltungen und gesellschaftlichen Konventionen. Aus Rosemanns Buch geht hervor, wie der Abbau der Barrieren und Stigmatisierungen mit diesem Gesetz gefördert wird. Weitere Thesen in dem Buch: In der politischen Debatte steht das Ziel des Rechts auf Selbstbestimmung stets dem zweiten Ziel (keine weitere Ausgabendynamik) in der Eingliederungshilfe gegenüber. Menschen mit Beeinträchtigungen werden jetzt Menschen mit funktionellen (krankheitsbedingten) Teilhabestörungen genannt. Nach Lektüre des Buches scheint mir das neue Teilhaberecht allerdings so kompliziert, wie auch die Ausführungen in diesem Buch, so dass vor allen Dingen die Menschen, an die sich das BTHG richtet, bei der Antragstellung unterstützt werden müssen, sofern sie nicht wider Erwarten doch in der Lage sind, sich selbst zu vertreten. Kartoniert, 111 Seiten, ISBN 978-3-88414-698-9. Köln: Psychiatrie Verlag 2018. € 17.–
Marion Bennewitz

Julia Ross: Was die Seele essen will – Die Mood Cure
Die Autorin vertritt die Ansicht, dass ein Großteil des emotionalen Stresses auf Fehlfunktionen des Gehirns und Störungen der Körperchemie zurückzuführen sind. Damit reiht sie sich grundsätzlich ein in die normale biologische Weltsicht der Mainstream-Psychiatrie. Gesellschaftliche Faktoren werden ebenso ausgeblendet wie Umweltfaktoren. Innerhalb dieses auch erkenntnistheoretisch massiv eingeschränkten Rahmens bewegt sich die Autorin. In typisch amerikanischer Begeisterung reklamiert sie die Erfindung der Beeinflussung der Psyche durch Nahrungsumstellung und Nahrungsergänzungsstoffe für sich (Überschrift: "Wie ich die Stimmungskorrektur entdeckte"). Die Darstellung ihres Programms beinhaltet eine schwer verträgliche Mischung aus Anekdoten und sachlichen Ausführungen. Wer all diese Kröten schluckt, möglicherweise in verzweifelter Absicht, für sich selbst brauchbare Tipps zu finden, um psychischen Notlagen zu entkommen, kann in diesem Buch mit kritischem Blick zwar nicht unbedingt Tipps zur gesunden Ernährung und zu naturbelassenen Nahrungsmitteln finden, die ja auch einen erheblichen Einfluss auf Körper, Geist und Psyche haben, dafür aber möglicherweise hilfreiche Informationen über Aminosäuren incl. Produktempfehlungen, die die Psyche in die gewünschte Richtung beeinflussen. Informationen über unerwünschte Wirkungen von Nahrungsergänzungsmitteln muss man sich allerdings an anderer Stelle holen. Wer nun vor der Frage steht, ob es besser ist, seine Psyche mittels Nahrungsergänzungsstoffe oder mittels psychiatrischen Psychopharmaka zu beeinflussen, findet in dem Buch massenhaft Belege dafür, dass es ungleich erfolgsträchtiger ist, dies mit Nahrungsergänzungsstoffen zu versuchen. Dies betrifft auch die Verminderung von Problemen beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka; hierbei können Nahrungsergänzungsstoffe eine ausgesprochen hilfreiche Rolle spielen. Allerdings ist es fraglich, ob Ross' Empfehlung, bloß nicht auch nur ein einziges Medikament ohne ärztliche Betreuung abzusetzen, angesichts der oft positiven Erfahrungen von Betroffenen, die dies alleine oder mit Hilfe von Naturheilpraktikern, Psychologen, Sozialpädagogen und anderen Nichtmedizinern oder im Selbsthilfebereich erfolgreich bewältigt haben und angesichts der Verunsicherung, die von Medizinern ausgehen kann, wirklich so hilfreich ist, wie sie meint. Dies gilt auch – dies ist allerdings nicht der Autorin anzulasten, sondern dem Klett-Cotta Verlag und seinen Beratern – für die "hilfreichen Links am Ende des Buches, zum Beispiel das sogenannte Kompetenznetz Depression mit seiner Empfehlung von Elektroschocks bei Depressionen oder der Website www.psychiatrie-aktuell.de mit Links zur Pharmamultis und von ihr gesponserten Gruppen. Wer bislang von Ross' Ratschlägen zu "Gute-Laune-Lebensmitteln" profitiert hat, wird schnell wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht. Gebunden, 432 Seiten, ISBN 978-3-608-94654-3. Stuttgart: Klett-Cotta, 2. Auflage 2010. € 24.90
Peter Lehmann

Hans G. Rudzinski: Delirius
Roman eines Selbstzerstörung, geschrieben aus einer völlig unklaren Erzählperspektive. Zwar ist der Roman in Ichform verfasst, aber die Handlung bereits diagnostisch beschrieben. So haut der Protagonist beispielsweise nicht etwa in panischer Angst seinen Schädel an die Wand, sondern "es setzen Selbstverletzungsattacken ein"; statt dass er beispielsweise schreiend durch den Wald rennt und ein Wolfsrudel abzuhängen versucht, das hinter ihm her ist und ihn aufzufressen versucht, "steckt er noch mitten drin in der Psychose". Lebendige und direkte Sprache, die das Erleben Verrückter glaubhaft und ungebrochen darstellt, sieht anders aus. Kartoniert, 141 Seiten, ISBN 978-3-938157-95-4. Jena usw.: Verlag Neue Literatur 2009. € 10.90
Peter Lehmann

Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie – Psychisches Leiden ist keine Krankheit. Die Medizinalisierung abweichenden Verhaltens – ein Irrweg
Rezension 1), erschienen mit der schulmeisterhaften Überschrift "Verborgene Diffamierung der Psychiatrie" in: Der Eppendorfer – Zeitschrift für die Psychiatrie (Brunsbüttel), 4. Jg. (1989), Nr. 2. Rezension 2), erschienen in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 13. Jg. (1989), Heft 4, S. 117-118. Kartoniert, 232 Seiten. Bern & Bonn: Zytglogge Verlag 1988. DM 30.–
Peter Lehmann

Klaus-Dietrich Runow: Wenn Gifte auf die Nerven gehen – Wie wir Gehirn und Nerven durch Entgiftung schützen können
Umweltmedizinisches Fachbuch, das für ein ganzheitliches Gesundheitskonzept plädiert und Antworten gibt auf Fragen wie: Können Umweltgifte, Pollenallergien oder Nährstoffdefizite für körperliche, psychische und neurologische Beschwerden verantwortlich sein? Können Nahrungsmittel Hyperaktivität bei Kindern oder sogenannte Psychosen verursachen? Kann eine Entgiftungsbehandlung zur Linderung von Nerven- und Gehirnstörungen beitragen? Welche körpereigenen Substanzen bzw. Vitalstoffe können neurologische Beschwerden lindern? Gebunden mit Schutzeinschlag, 173 Seiten, 10 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 978-3-517-08387-2. München: Südwest-Verlag 2008. € 12.95
Peter Lehmann

Ingo Runte: Begleitung höchst persönlich – Innovative milieutherapeutische Projekte für akut psychotische Menschen
Lesenswerte Arbeit über die wichtigsten internationalen Alternativprojekte. Im Mittelpunkt dieses Buches stehen vier erfolgreiche sogenannte milieutherapeutische Projekte, die "akut psychotischen" Menschen eine wirksame Alternative zur Überwindung ihrer Krise bieten können: Die Soteria Kalifornien als Pionier-Einrichtung der Soteria-Häuser, das Burch House in der Tradition von Laing, die Soteria Bern und das in Deutschland noch wenig bekannte Windhorse-Programm. Kart., 264 S., ISBN 3-88414-275-5. Bonn: Psychiatrieverlag 2001. € 36.–
Peter Lehmann

Franz Ruppert: Verwirrte Seelen – Der verborgene Sinn von Psychosen. Grundzüge einer systemischen Psychotraumatologie
Versuch des Hellinger-Schülers Ruppert, aus dessen fragwürdigen Aufstellungs-Erfahrungen eine Theorie psychischer "Störungen" und ihrer "Heilung" zu machen. Gebunden mit Schutzumschlag, 477 S., ISBN 3-466-30600-0. München: Kösel Verlag 2002. € 29.95
Peter Lehmann

Ulrike S. / Hans Reinecker: ABC für Zwangserkrankte. Tipps einer ehemals Betroffenen
Ein typischer Ratgeber, Plädoyer für Verhaltenstherapie, locker geschrieben und alphabetisch gegliedert von A wie "Aberglaube" über H wie "Hölle" und M wie "Medikamente" bis Z wie "Zuversicht". Ich lese Seite 68, "Medikamente", und erfahre, man solle den Beipackzettel nicht zu ernst nehmen. Weil: Ohne Psychopharmaka hätte die Autorin nicht gesund werden können, so ihre Worte. Weshalb andere sich deshalb nicht um Risiken und sog. Nebenwirkungen kümmern und alles ärztlich Verordnete brav schlucken sollen, verrät sie nicht. Dafür ihre Grundhaltung: "Wenn Sie keine Medikamente brauchen, was durchaus der Fall sein kann, dann sollte diese Erkenntnis vom Therapeuten kommen und nicht von der Freundin oder der Gemüsefrau um die Ecke." Somit erübrigt sich unter V die Rubrik "Verachtung eigenständigen Denkens". Kartoniert, 107 Seiten, ISBN 3-525-46263-8. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. € 14.90
Peter Lehmann

Ischtar Sabbathon: VorLaut. Wie ein Friedensengel lernte, Tacheles zu reden
Als ich das Buch »VorLaut« geschenkt bekam, begann ich es neugierig zu lesen. Und während des Lesens kam mir immer wieder die Frage: »Warum heißt dieses Buch ›VorLaut‹« ? Bis zu diesem Zeitpunkt war »vorlaut« für mich eine unangenehme Eigenschaft, die mir, als ich Kind war, mit Nachdruck ausgetrieben wurde: Man drängt sich nicht in den Vordergrund; Kinder sprechen nur, wenn sie gefragt werden. Während des Lesens spürte ich aber, dass »VorLaut« hier auch etwas ganz anderes meinte. Ich begann zu begreifen, dass Kinder schon ganz früh Sprache verstehen lernen und damit ein Gespür entwickeln, Lebenszusammenhänge zu erfassen. Und weil sie noch nicht fähig sind, aktiv zu sprechen, bleibt ihnen das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und dass ihnen etwas verborgen gehalten wird, mit dem sie sich oft viele Jahre im Leben, manche sogar lebenslang, herumplagen. Ischtar Sabbathon (der Autorenname ist ein Pseudonym), 1945 in Deutschland geboren, wuchs in einer zusammengewürfelten Familie auf, in der es seit Generationen Tradition war, Themen von Missbrauch und Gewalt in einer intimen Tabukiste verschwinden zu lassen. Ischtar hat in den Jahren des Heranwachsens in dieser Familie ein Fremdheitsgefühl. Sie spürt, dass ihr etwas fehlt. Ein ganz merkwürdiges Gefühl spricht zu ihr, dass sie in dieser Familie aufwächst, sich aber als nicht dazugehörig empfindet. Sie ahnt, dass ihr die Lebensumstände ihrer eigenen Herkunft und Geburt bislang verschwiegen wurden: Faktoren, die zu ihr gehören und ihre eigene Identität ausmachen. Sie geht dieser noch nicht in Sprache zu fassenden Ahnung nach und findet auf ihrer biographischen Spurensuche in dem Geflecht von Unstimmigkeiten und schicksalhaften Verstrickungen schließlich im Rahmen einer hypnotherapeutischen Ausbildung zu ihren Wurzeln. Dass diese nun auch noch in der deutsch-jüdischen Vergangenheit liegen, macht das vorliegende Buch zusätzlich zu einem sehr feinfühligen Dokument der nationalsozialistischen Zeitgeschichte, obwohl die Autorin nicht die Absicht hatte, ein weiteres Buch über den Holocaust zu schreiben, sondern einzig und allein Spurensuche betrieb auf dem Weg zu sich selbst. Diese Spurensuche, das Erkennen von Zusammenhängen, das Einfügen der gefundenen Bausteine in ihr Lebensmosaik, beschreibt die Autorin ohne Sentimentalität und wissenschaftliche überfrachtung. Statt dessen wird der Leser zunehmend fasziniert und in die tiefgreifende Erfahrung der Autorin mit hineingezogen, nicht zuletzt durch ihre sehr sensible, klare und deshalb so packende Sprache. 318 Seiten, Schafft Verlag 2000. DM 34.50
Astrid Stecker

Lilla Sachse: "Ich bin ganz und richtig" – Therapeutische Begleitung durch Psychose und Mutterschaft
Bei diesem Buch handelt es sich um einen Erfahrungsbericht der Psychoanalytikerin Lilla Sachse, bekannt durch das von ihr gegründete "Biotop Mosbach" in dem eine Gruppe die Rolle des Wegbegleiters durch psychotische Krisen übernahm. In ihrer 28jährigen Arbeit macht die Gruppe auch Erfahrungen mit sogenannten psychotischen Müttern. Sechs von ihnen und ein Paar stellt Sachse in ihrem Buch detailliert und mit Biographien und Interviewergebnissen vor, skizziert die jeweiligen psychischen Problemsituationen beschreibt ausführlich die unmittelbaren Erfahrungen in der therapeutischen Begleitung. Kartoniert, 171 Seiten, ISBN 978-3-926200-44-0. Neumünster: Paranus Verlag 2000. € 19.95
Peter Lehmann

SAMMELREZENSION

  1. Dieter Naber, Franz Müller-Spahn (Hg.): Clozapin. Pharmakologie und Klinik eines atypischen Neuroleptikums. Eine kritische Bestandsaufnahme

  2. Clozaril Patient Monitoring Newsletter, Nr. 5

  3. Jolien Kok-van Esterik: Clozapine: Benefits and Risks of a Controversial Drug

Wie bei allen anderen psychiatrischen Psychopharmaka entstehen bei Clozapin (Leponex, Clozaril) – nur öfter durch die spezielle Knochenmark-schädigende Wirkung – Entzündungen aller Art. Laut psychiatrischen Veröffentlichungen überleben in ca. 40% aller Fälle die Betroffenen eine Agranulozytose (Absterben der weißen Blutkörperchen mit lebensgefährlichen Folgen) nicht. Im speziellen Fall der Leponex-bedingten Agranulozytose beträgt die offizielle Sterblichkeitsrate 50%. Da öffentlich bekannt wurde, dass bei Leponex die Rate der tödlich verlaufenden Agranulozytosen höher ist als bei anderen Neuroleptika, sind Psychiater oder Herstellerfirmen inzwischen bei der Anwendung dieses Neuroleptikums offiziell zu gewissen formellen Auflagen (z.B. regelmäßigen Blutbildkontrollen) verpflichtet. Auch eine Aufklärung über das spezielle Risiko einer Agranulozytose sollte selbstverständlich sein.
In der Regel scheinen sich Psychiater nicht an die Auflagen zu halten; sie klären weder die Betroffenen selbst noch deren Angehörige über den Charakter einer möglichen Agranulozytose auf, geschweige denn über ihre möglichen Vorboten. Auch die starke abhängigmachende vegetative Wirkung des Neuroleptikums wird in aller Regel nie erwähnt. Wie die 10% ›Fälle‹, bei denen die Leponex-Behandlung nach Ablauf der ersten 18 Wochen eine Agranulozytose hervorruft, wirksam geschützt werden sollen, wurde bisher in der psychiatrischen Literatur nicht erwähnt. Die im Ausnahmefall Leponex vorgeschriebenen, ansonsten gelegentlich von Psychiatern interessehalber freiwillig oder zur Überprüfung der Neuroleptika-Einnahme durchgeführten Blutbildkontrollen sind kein sicherer Schutz vor Agranulozytosen. Der Wert regelmäßiger Blutkontrollen wird von Psychiatern wie der Schweizerin Brigitte Woggon gering geschätzt, weil es sich im Prinzip um Plazebokontrollen handelt; Hans Joachim Kähler zur Wirksamkeit dieser Prophylaxe (Vorbeugung): »Da der Beginn der Agranulozytose oft fulminant (explosiv) ist, kommt solchen Blutbildkontrollen natürlich nur ein relativer prophylaktischer Wert zu.«
Agranulozytosen treten gelegentlich mit Vorboten auf. Dies können Krankheiten aller Art sein, vorwiegend Entzündungen. Die Gefährdeten und ihre Angehörigen werden in aller Regel nicht über den Charakter dieser Vorboten informiert, sie können die drohende Gefahr nicht erkennen. Nach internen Mitteilungen von Psychiatern können folgende Symptome den Beginn einer möglicherweise tödlich verlaufenden Agranulozytose ankündigen: Entzündungen im Mund- und Rachenraum, Fieberanstieg, Schüttelfrost, Schwitzen, Schwächegefühl, Hinfälligkeit, Hautausschlag, Gelenkschmerzen, Gelbsucht, Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Durchfall. Auch andere Infektionen können Anzeichen einer beginnenden Agranulozytose sein, so z.B. Otitis (Ohrenentzündung), Pharyngitis (Rachenkatarrh; Schlundkopfentzündung), Halsentzündung, Glossitis (Zungenentzündung), Stomatitis (Entzündung der Mundschleimhaut), Gingivitis (Entzündung des Zahnfleischsaums), Angina, Lymphknotenschwellungen oder Leberzellschäden. Wird die Neuroleptika-bedingte Zerstörung der weißen Blutkörperchen nicht rechtzeitig festgestellt, die Verabreichung von Neuroleptika nicht sofort beendet, kann es aufgrund der körperlichen Abwehrschwäche leicht zu tödlichen Folgeinfektionen kommen.
Wie Ross Baldessarini und Frances Frankenburg von der Harvard Medical School in Boston im New England Journal of Medicine mitteilten, kann es unter Leponex offenbar zu einer Reihe vielfältigster Störungen des Zentralnervensystems und des Vegetativums kommen: z.B. zu epileptischen Anfällen (weshalb manche Psychiater gleichzeitig auch noch Antiepileptika verabreichen), Erhöhung des Prolaktinspiegels (die erhöhte Ausschüttung dieses Hormons wird als krebsfördernder Faktor verdächtigt), Blutdruckabfall (verbunden mit Übelkeit und Erbrechen), exzessivem Speichelfluss (speziell während des Schlafs), Tachykardie (Herzjagen), Verwirrtheit und Delir, und bei mindestens einem Drittel der Behandelten nehme das Gewicht merklich zu. Da in den USA die jährlichen Kosten für Leponex einschließlich der notwendigen Blutbildkontrollen immerhin ca. 9000 $ pro »Patient« betragen sollten, weigerten sich einige Bundesstaaten lange Zeit, die Verabreichung von Leponex im Rahmen öffentlicher Hilfsprogramme zu finanzieren: »Obwohl Clozapin einen einzigartigen antipsychotischen Wirkstoff ohne die meisten der charakteristischen neurologischen Begleitwirkungen der neuroleptischen Standardwirkstoffe darstellt, ist es mit seinen hohen Kosten, dem notwendigen Aufwand und dem Risiko von Anfällen und Agranulozytose weit entfernt von einer idealen Behandlung von Patienten mit stark behindernden ernsthaften psychischen Krankheiten. Sein Wiedererscheinen 30 Jahre nach seiner Patentierung unterstreicht den wesentlichen Mangel an Fortschritt bei der Entwicklung wirksamerer und sicherer antipsychotischer Medikamente.«
Das Vorhandensein dieser kritischen Erkenntnisse mache ich zum Prüfstein der Qualität der drei Publikationen. Wünschenswert wäre auch eine Diskussion des Problems, dass (nichtorganische) »chronische Psychosen« und »Behandlungsresistenz« in aller Regel Ergebnis Neuroleptika-bedingter bleibender Rezeptorenveränderungen oder aber verzweifelte Versuche sind, die eigene Identität zu bewahren, und von daher die Clozapin-(Leponex-)Frage an sich unter dem Aspekt zu diskutieren sind, warum es überhaupt noch zur Anbehandlung mit typischen Neuroleptika kommt. Dieses grundlegende Problem ist in keinem der drei Publikationen auch nur ansatzweise angedeutet.
In dem Naber/Müller-Spahn-Buch plädieren Vertreter von Pharmafirmen und Universitätsanstalten unisono für eine massive Ausweitung der Clozapin-Verabreichung: bei Depressionen, Manien, organischen Psychosen, Schlafstörungen sollen auch bisher zurückhaltende Ärzte Clozapin verschreiben, und auch Kinder sollen mehr als bisher der Absatzsteigerung dienen. Gründe: In den USA würde ein Clozapin-(Leponex-)Boom stattfinden, wieso nicht auch bei uns? Übliche Neuroleptika würden schwere Schäden anrichten, z.B. tardive Dyskinesien, und die Zahl der »Therapie«-Verweigerer bei normalen Neuroleptika sei enorm. Allerdings hegten hierzulande Herstellerfirmen noch Bedenken gegen eine zu weite Indikation; diese Ausweitung, so fürchten sie, könnte spätere Schadenersatzklagen wegen Behandlungsschäden begünstigen – sehr realistisch. An »Nebenwirkungen« wird erwähnt: Krampfrisiko, Akathisie (Sitzunruhe), Hypersalivation (übermäßiger Speichelfluss), Müdigkeit, Kreislaufstörungen, Leberwertveränderungen, EEG-Veränderungen, Neuroleptisches Malignes Syndrom, Agranulozytose, Gewichtszunahme, plötzlicher Tod unter Kombinationsverabreichung von Tranquilizern. Eine Auflistung bisher bekanntgewordener Vorzeichen Clozapin-bedinger Agranulozytosen und die Beantwortung der Frage, wieso die Betroffenen und ihre Angehörigen diese Listen nicht erhalten: kein Thema in dem Buch. Prolaktin-Erhöhung: kein Thema. Nichts über den eingeschränkten Wert wöchentlicher Blutbildkontrollen. Die Frage, wie von Clozapin wieder wegkommen: kein Thema. Was an der »Bestandsaufnahme« kritisch sein soll, weiß wahrscheinlich bloß der PR-Manager des Verlags.
Im Newsletter lässt sich u.a. ein Dr. Mike Launer über das Thema »Clozaril – An opportunity for creative psychiatry« (»Leponex – Gelegenheit für kreative Psychiatrie«) aus und weist Angehörigen als Erfüllungsgehilfen gemeindenaher Psychiater ihren im Absatzsystem wichtigen Platz zu – kein Wunder, dass in vielen Ländern Angehörigengruppen von Pharmafirmen gesponsert werden. Clozapin würde den Prolaktin-Spiegel nicht erhöhen, erfahren wir. Studien, die das Gegenteil besagen, wie die von Ross Baldessarini und Frances Frankenburg von der Harvard Medical School in Boston im New England Journal of Medicine (Vol. 324 [1991], Nr. 11, S. 746 – 754), werden nicht erwähnt. Dafür wird hier wenigstens vor einer Clozapin-Einnahme während der Schwangerschaft und Stillzeit gewarnt, immerhin. Eine Auflistung bisher bekanntgewordener Vorzeichen Clozapin-bedinger Agranulozytosen und die Beantwortung der Frage, wieso die Betroffenen und ihre Angehörigen diese Listen nicht erhalten: Fehlanzeige. Ebenso die Frage der Abhängigkeit. Nichts über den eingeschränkten Wert wöchentlicher Blutbildkontrollen. Wenig empfehlenswert.
Das Utrecht-Papier, das Jolien Kok-van Esterik von der Universität Utrecht auf Wunsch des Europäischen Netzwerks von Nutzern und Ex-Nutzern der Psychiatrie erstellt hat, geht von derselben Ideologie aus wie die beiden zuvor erwähnten Publikationen: Clozapin habe »eine gute Wirkung auf behandlungsresistente Schizophrene«, abgesehen von den oben erwähnten »Nebenwirkungen«. Clozapin sei Chlorpromazin gar »überlegen«. All die Folgerungen des Papiers sind diesem psychiatrischem Gedankengut unterworfen. (Übersetztes) Schlusswort des Autoren, eines Studenten der Pharmazeutik: »Nach meiner Meinung kann Clozapin unter der Bedingung, dass ihr Blutbild wöchentlich überwacht wird, eine gute Alternative für schwer schizophrene Patienten sein, die auf typische Antipsychotika nicht reagieren oder die an tardiver Dyskinesie leiden. In anderen Situationen (bei schizophrenen und Parkinson-Patienten im allgemeinen) muss man den Nutzen von Clozapin abwägen gegen die hohen Kosten, die Unannehmlichkeiten wöchentlicher Blutkontrolle und die Meinung des Patienten.« Prima, dass ihn der Autor nicht völlig vergessen hat, den »Patienten«, dessen Meinung als Faktor unter vielen der Psychiater abzuwägen habe. Peinlich aber, dass das Papier, so in der Einleitung nachzulesen und wie oben bereits erwähnt, auf Wunsch des Europäischen Netzwerks von Nutzern und Ex-Nutzern der Psychiatrie erstellt worden ist, und bei diesem Netzwerk sollen die Nutzer, Opfer und Überlebende der Psychiatrie doch die selbst entscheidenden Subjekte sein. Blicken ich auf die Liste der Literatur, woraus der Student sein Wissen schöpft, so sind es nahezu ausnahmslos von Pharmafirmen gesponserte »wissenschaftliche« Zeitschriften. Kritische Literatur, z.B. Peter Breggins »Toxic Psychiatry« oder Zeitschriften von Psychiatrie-Betroffenen, ist nicht vertreten, entsprechend einseitig das Produkt. Die Gruppe aus (deutschen, schweizerischen, österreichischen und belgischen) Aktiven, die an sich vom Plenum des Netzwerks mit Informationsbeschaffung zu Risiken psychiatrischer Psychopharmaka beauftragt wurde, erfuhr von dem Utrecht-Papier nichts. Dadurch sind die für die Betroffenen so wichtigen Fragen der Entzugsproblematik, des eingeschränkten Werts wöchentlicher Blutbildkontrollen und der frühzeitigen Vorzeichen möglicherweise tödlich verlaufender Auswirkungen völlig unter den Tisch gefallen, und dabei ist bei vielen »Nutzern« und »Nutzerinnen« der Psychiatrie das Bedürfnis so stark, die Rolle eines »Users« mit der eines selbstbestimmten und chemiefreien Menschen zu vertauschen.
Nachtrag: Nach massiver Kritik von VertreterInnen des Europäischen Netzwerks wurden die Verfasser des Papiers gebeten, wenigstens eine moderat-kritische Stellungnahme des Netzwerks beizulegen. Nicht einmal dazu waren sie in der Lage.

  1. Kart., 188 S., 24 Abb., 53 Tab., Stuttgart / New York: Schattauer Verlag 1992. DM 48.–

  2. 12 A4-Seiten, Frühjahr 1993, Bestelladresse: Sandoz Pharmaceuticals, Frimley Business Park, Frimley, Camberley, Surrey GU16 5SG, England. Vermutlich kostenfrei.

  3. Kart., 24 A4-Seiten, Utrecht: Universität Mai 1994. Bestelladresse: Universiteit, Faculteit Farmacie, Wetenschapswinkel Geneesmiddelen, Sorbonnelaan 16, kamer N 811, Postbus 80082, 3508 TB Utrecht, Niederlande. Ohne Preisangabe.

Peter Lehmann

Peter Sauer / Peter Wißmann: Niedrigschwellige Hilfen für Familien mit Demenz
Die Herausgeber des Sammelbandes wollen zur Diskussion über die Novellierung des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes (§§45 a-c SGB XI) beitragen, um die Versorgungssituation von demenzkranken Mitbürgern zu verbessern. Sie fragen: Welche Veränderungen haben sich seit dem Jahre 2002 für Menschen mit gerontopsychiatrischen Veränderungen durch dieses Gesetz ergeben? Haben die zusätzlichen finanziellen Hilfen im Umfang von € 460.– pro Kalenderjahr zur Stärkung und Förderung der häuslichen Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung beigetragen? Gab es durch die Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote und durch die Förderung von Modellvorhaben eine Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen für diese Zielgruppe? Die AutorInnen dieses Bandes zeigen Beispiele und Perspektiven auf, wie Familien mit Demenz entlastet und unterstützt werden können. Sie untersuchen neue Handlungsfelder für ambulante Pflegedienste, ambulant betreute Wohngruppen, freiberufliche Anbieter und bürgerschaftlich Engagierte. Und sie machen Vorschläge, wie auf struktureller Ebene eine Verbesserung der niederschwelligen Versorgungssituation erreicht werden kann. Angesichts des Ausmaßes der noch ungelösten Probleme und unzureichenden Hilfeangeboten und -möglichkeiten und angesichts seiner kompetenten Aussagen ein wichtiges Buch. Kartoniert, 220 Seiten, ISBN 978-3-938304-92-1. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2007. € 23.90
Peter Lehmann

Ulf Sauerbrey: ADHS durch Umweltgifte? Schadstoffe in der Kinderumwelt
Ulf Sauerbrey, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat ein kompaktes und gut verständliches Buch geschrieben für alle, die sich für die Einflüsse von Umweltbelastungen auf Kinder interessieren. So zeigen sich gesundheitliche Schädigungen aller Art und schlagen sich oft in der Diagnose ADHS und dem Einsatz psychiatrischer Psychopharmaka nieder. Sauerbrey beschreibt den Kenntnisstand zu Symptomen und möglichen Ursachen von ADHS und erläutert die Bedeutung von Umweltgiften, Umwelterkrankungen und neurotoxischen Schäden, u.a. von Blei, chemischen Weichmachern, Pestiziden, Nahrungsmittelzusatzstoffen, Quecksilber (das in Amalgam enthalten ist) und weiteren Umweltgiften, die im kindlichen Alltag vorkommen. Informationen zu Präventionsmaßnahmen und Beratungsstellen und ein umfangreiches Literaturverzeichnis schließen das Buch ab. Wer sich einen Überblick über den neuesten Kenntnisstand zu Umweltschäden und ADHS verschaffen will – ob Mediziner, Eltern oder Pädagogen –, dem sei dieses kompetent und sachlich geschriebene Buch nachdrücklich ans Herz gelegt. Kartoniert, 109 Seiten, ISBN 978-3-941854-14-7. Jena: IKS Garamond Verlag 2010. € 12.90
Peter Lehmann

Hilde Schädle-Deininger: Fachpflege Psychiatrie
Umfassendes Fachbuch von einer Psychiatriepflegerin für die Weiterbildung in der psychiatrischen Pflege, das sich leider ausschließlich auf psychiatrische Literatur stützt und alle antipsychiatrischen Entwicklungen nach 1969 ignoriert. Insofern überrascht es wenig, wenn beispielsweise der Elektroschock, die künstliche Auslösung eines epileptischen Anfalls, der mit der Zerstörung von Hirnzellen verbunden ist, völlig unkritisch dargestellt wird. Ebenso veraltet ist die Darstellung der Risiken der modernen, in der Psychiatrie umfangreich verordneten sogenannten atypischen Neuroleptika: "Bisher sind gravierende unerwünschte Nebenwirkungen nicht bekannt" (S. 262). Dabei weiß man schon seit 10 Jahren und länger von Bauchspeicheldrüsenerkrankungen und chronischem Diabetes, Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, tardiven Dyskinesien und tardiven Psychosen. Auch bei anderen kritischen Themen stößt unangenehm auf, dass sich die Autorin zwar ungemein engagiert zeigt, jedoch grundsätzlich einseitig in der Auswahl von Stellungnahmen und Literatur agiert, wenn es darum geht, einen Konflikt verständlich zu machen. Beispiel Zwangsbehandlung. Fast zwei Drittel der angegebenen Literatur aus diesem Kapitel stammt aus dem Psychiatrieverlag. Die neuere Rechtslage, die sich aus der UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung ergibt, ist nicht berücksichtigt. Wenn man stichpunktartig für Betroffene existenzielle Themen nachschlägt und sich derart fehlinformiert wiederfinden, muss zu der Einschätzung kommen, dass das Buch bei aller Ausführlichkeit veraltetes Material beinhaltet, das schon bei der Erstveröffentlichung 2006 im Urban & Fischer nicht up to date war. Kartoniert, X +452 Seiten, 85 Abbildungen, 10 Comics, ISBN 978-3-940529-56-5. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2010. € 39.90
Peter Lehmann

Klaus Schlagmann: Ödipus – komplex betrachtet. Männliche Unterdrückung und ihre Vergeltung durch weibliche Intrige als zentraler Menschheitskonflikt. Nebst Ausführungen zu den Problemen des schönen und selbstbewussten Jünglings Narziss. Der Beitrag alter Mythen zur Überwindung eines modernen Irrglaubens
Mittels einer umfassend begründeten und belegten Neuinterpretation der Dramen des Sophokles zum Leben von König Ödipus weist der Autor die Freudsche Ödipustheorie als Erfindung und als Verdrehung der Tatsachen zurück; durch die Umsetzung der Ödipustheorie in der Freudschen Psychoanalyse würden die KlientInnen, ehemals gedemütigte Kinder, folgenschwer zu Tätern erklärt und somit fortwährend fehlinterpretiert. Das Buch ist sehr komplex und wohl nur in kleineren Häppchen zu lesen. Es empfiehlt sich, sich zunächst einmal von der Geschichte Ödipus' faszinieren zu lassen (S. 35-68), da die in dieser Geschichte so überdeutlich zu Tage tretende Handlungsdynamik immer wieder übersehen wird, anschließend in Schlagmanns Ausführungen über die mythologischen Hintergründe abzutauchen (S. 141-176), in denen sich nach seiner Meinung die Grundlagen eines alten Menschheitskonflikts spiegeln. Hervorzuheben sind auch die Kapitel über Josef Breuer (S. 419-442), das Kapitel über Freuds Theorie-Entwicklung (S. 443-540) und schließich die Auseinandersetzung mit dem Mythos von Narkissos. Ein Buch für Leute, die offen sind für eine massive Kritik an Freud. Kartoniert, 720 Seiten, 21 Abbildungen, ISBN 978-3-9805272-3-1. Saarbrücken: Verlag Der Stammbaum und die Sieben Zweige 2005. € 24.90
Peter Lehmann

Roland Schleiffer: Das System der Abweichungen – Eine systemtheoretische Neubegründung der Psychopathologie
Gleich im allerersten Satz zitiert der Kinderpsychiater Schleiffer von der Universität Köln den durch die Verabreichung von Insulin- und Elektroschocks an Heranwachsende einschlägig besonders bekannt gewordenen Psychiater Uwe Henrik Peters, bis 1996 Direktor der Nervenklinik an der Universität Köln. Kein guter Einstieg für ein Buch, das ernstgenommen werden will. Worum geht es darin? Schleiffer will der Psychiatrie ein einheitliches, übergeordnetes systemtheoretisches Gerüst geben. Dabei grenzt er selbstreferenziell jedweden erfahrungswissenschaftlichen Ansatz systematisch aus und sendet so die Botschaft aus: Dieses Buch ist uninteressant für Leser, die des Monologs der "Experten" überdrüssig sind und die wissenschaftliche Verarbeitung subjektiver Erfahrungen von Menschen mit störender und unbequemer Lebens- und Sinnesweise in einer Neubegründung der Lehre von den psychischen "Erkrankungen" berücksichtigt haben wollen. Und es ist ärgerlich, muss man sich doch auch noch anhören, dass "Schizophrene" Psychopharmaka nicht etwa wegen deren toxischen, ihre Lebenserwartung um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verringernden Psychopharmaka ausgesprochen reserviert gegenüberstehen, sondern weil sich ihr schizophrenes System unbedingt selbst erhalten wollen. Et cetera et cetera. Kartoniert, 266 Seiten, ISBN 978-3-89670-828-1. Heidelberg: Carl Auer Verlag 2012. € 34.–
Peter Lehmann

Jann E. Schlimme / Burkhart Brückner: Die abklingende Psychose – Verständigung finden, Genesung begleiten
Jann E. Schlimme, humanistisch orientierter Psychiater in Berlin, und Burkhart Brückner, Mitbegründer des Berliner Weglaufhauses und mittlerweile Professor für Sozialpsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Niederrhein, haben mit "Die abklingende Psychose" ein anspruchsvolles Buch über alltagstaugliche Konzepte der Begleitung von Menschen in psychotischen Krisen durch psychiatrisch Tätige und Angehörige geschrieben. Das Werk berücksichtigt die philosophisch begründete Herangehensweise der Tradition in der europäischen Psychiatrie mit psychodynamischen und sozialwissenschaftlichen Konzepten. Es integriert Überlegungen humanistisch orientierter Psychiater wie Edward Podvoll, enthält zahlreiche Fallbeispiele, spiegelt die Wirklichkeit erlebter Genesungserfahrungen wider, versucht die Wendepunkte psychotischer Phasen dingfest zu machen, und liefert ein theoretisches Modell für gelegentlich langfristig anhaltenden Psychosen und einen angemessenen Umgang mit solchen Problemen. Basierend auf theoretisch unterlegten und einem an Interview-Auszügen veranschaulichten Prinzip des Verstehens psychotischer Erfahrungen, auf Ergebnissen und auf Gesprächen aus verschiedenen Diskussionsgruppen, entsteht so ein Modell des Abklingens von "schizophrenen" Psychosen. Mit ihrem Buch, in weiten Teilen entstanden unter intensiver Mitarbeit von mitforschenden psychoseerfahrenen Personen, wollen die Autoren alle am Geschehen Beteiligten ansprechen: Betroffene, Professionelle und Angehörige. Sie wollen Antworten liefern auf die Fragen, welche Struktur Genesungsprozesse aufweisen, was der Motor der Genesung ist, welche Barrieren bei der Genesung zu überwinden sind und wie Genesung unterstützt werden kann. Nach den Erfahrungen der Autoren klingen "schizophrene" Psychosen ab, wenn sich die Betroffenen über ihre Erfahrungen und deren Hintergründe verständigen können. Damit sollen sie in die Lage versetzt werden, die Mitteilung ihrer Erfahrungen wieder in vertrauten sozialen Beziehungen und lebensweltlichen Abläufen zu verankern, was die Hinwendung zu neuen Lebenszielen erlaubt. Für alle, die mit ihren Psychosen nicht klar kommen, eine spannende, wenn auch nicht ganz einfach zu lesende Geschichte. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, 272 Seiten, 14 Abbildungen, 16,5 x 24 cm, ISBN 978-3-88414-642-2. Köln: Psychiatrieverlag 2017. € 30.–
Peter Lehmann

Jann E. Schlimme / Thelke Scholz / Renate Seroka: Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen
Generell gilt, schreibt das Autorenteam in der Einleitung, dass das Reduzieren und gegebenenfalls Absetzen von Neuroleptika eine gemeinsame Suchbewegung aller Beteiligter sei. Damit ist die Richtung des Buches vorgegeben: Es geht im Wesentlichen um das vom Arzt und den Angehörigen gutgeheißene Absetzen von Neuroleptika, also den Idealfall mit einem unterstützungswilligen sowie kompetenten Arzt und mit gutwilligen und aufgeschlossenen Angehörigen – leider für viele Betroffene ein Wunschtraum, so das Autorenteam.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste befasst sich mit dem Genesungsprozess von Psychosen, wobei immer wieder Querverweise auf das Buch »Die abklingende Psychose – Verständigung finden, Genesung begleiten« von Jann Schlimme und Burkhart Brückner von 2017 erfolgen, und Herausforderungen beim Reduktionsprozess. Im zweiten Teil geht es um die Grundregeln beim Reduktionsprozess. Im dritten Teil stellt das Autorenteam Überlegungen an zur Reduktion und Genesungsbegleitung im Gesamtrahmen der gemeinsamen, durch eine inhumane Einstellung zur Erfahrung von Psychosen geprägte Lebenswirklichkeit. Um so wichtiger sind die Maßnahmen, die das Autorenteam den Betroffenen zum Bewältigen des Absetzprozesses vorschlägt. Sie sind nicht unbedingt neu, aber man kann sie nicht oft genug wiederholen: Geduld, Vorausverfügung, Absetztagebuch, Psychotherapie, Beruhigungs- oder Schlafmittel in Krisensituationen, Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, gegenseitige Beratung in der Selbsthilfegruppe, Körpertechniken, pflanzenheilkundliche Präparate inkl. Cannabidiol, Musiktherapie, vernünftig essen und trinken, Nahrungsergänzungsmittel (z.B. Omega-3-Fettsäuren) und vor allem Schlafhygiene. Und notfalls einen Schritt zurück auf die vorige Stufe, wenn man zu schnell abgesetzt hat und die Entzugsprobleme zu stark werden.
Letztlich, so das Autorenteam, betrete es mit seinem Buch und den darin entwickelten Reduktionsregeln Neuland. Neuland betritt das Autorenteam in der Tat, wenn man die Publikationen insbesondere von Psychiatriebetroffenen und kritischen Psychiatern außer Acht lässt, die seit Anfang der 1990er-Jahre bekannt wurden und in denen dezidiert auf Wege zur Minimierung von Entzugsproblemen und Rückfallgefahren eingegangen wurde, speziell auf Wege, die die Betroffenen mangels Unterstützung alleine gehen müssen (und können). Neuland wird aber auch betreten, wenn der in der psychiatrischen Literatur ängstlich ausgeblendeten Reduktion von Psychopharmaka-Kombinationen und der Problematik des Übergangs von einer Minidosis auf Null eigene Kapitel gewidmet werden. Neu sind auch insbesondere für Mediziner wichtige Tabellen zu Bindungskräften von Neuroleptika an Rezeptortypen, zu unterschiedlichen Rezeptorwirkungen, zu oralen Dosisäquivalenten von Neuroleptika (die wichtig sind für Psychopharmaka-Umstellungen), zu Umrechnungsfaktoren von oralen Dosierungen in Depotdosen (wobei für Absetzwillige die umgekehrte Umrechnung wichtig wäre: Umstellung auf Dosierungen in Tablettenform oder noch besser Tropfen, um eigenständiger Reduktionsschritte vorzunehmen) und zu Abbauwerten und Transportproteinen ausgewählter Psychopharmaka. Da vorgegebene Produkteinheiten oft ein kleinschrittiges Reduzieren verhindern, ist der Hinweis des Autorenteams auf Rezepturen einschließlich Beispielrezepten extrem wichtig: Ärzte können per Rezept Apotheker beauftragen, individuell zugeschnittene Dosierungen herzustellen, die ein Reduzieren in manchmal absolut notwendigen minimalen Schritten ermöglichen.
Das Buch schließt mit einer kurzen Liste von Handlungen, die man beim Absetzen unbedingt vermeiden sollte (beispielsweise kiffen, koksen oder abrupt absetzen), sowie einem Text zur Aufklärung von Patientinnen und Patienten, wie ihn Uwe Gonther im Ameos-Klinikum Dr. Heines in Bremen einsetzt. Hier wird die »medikamentöse Behandlung« als Teil des Behandlungskonzepts erläutert und erklärt, dass das Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka nach verabredeten Regeln ebenso zu einer verantwortungsvollen Therapiegestaltung gehöre wie deren Ansetzen. Hier würde ich mir die noch weitergehenden »Aufklärungsbögen Neuroleptika« wünschen, wie sie in einigen psychiatrischen Kliniken in Rheinland-Pfalz angeboten werden. Dort weist man darauf hin, dass Neuroleptika nur als eines von mehreren Behandlungsangeboten gelten; dass es nicht-psychopharmakologische Alternativen gibt; dass es Sache der Patientinnen und Patienten ist zu entscheiden, welche Angebote sie annehmen; und dass sie im Krisenfall auch dann auf einer psychiatrischen Station willkommen sind, wenn sie keine Neuroleptika wollen.
Wer sich für nicht-psychopharmakologische Alternativen entscheiden kann, wäre vom Problem der Medikamentenreduktion gar nicht erst betroffen. Wie sagte 2010 die deutsche Internistin Jutta Witzke-Gross? »Es ist auch immer daran zu denken, dass eine Möglichkeit, Medikamente abzusetzen, die ist, mit dem Medikament erst gar nicht anzufangen.«
Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 272 Seiten, ISBN 978-3-88414-694-1. Köln: Psychiatrieverlag 2018. € 25.–
Peter Lehmann

Wilhelm Schlötterer: Staatsverbrechen – der Fall Mollath. Das vorsätzliche Verbrechen an Gustl Mollath zwischen Schwarzgeld-Millionen, Vertuschung und der Rolle der CSU
Thema des Buches ist die jahrelange Wegsperrung und monatelange Isolation Gustl Mollaths, der willkürlich zwangspsychiatrisiert worden war, da er illegale Schwarzgeldverschiebungen der HypoVereinsbank Nürnberg angezeigt hatte. Dies wurde ihm als Wahn ausgelegt, ohne dass die von ihm vorgelegten Beweise geprüft worden wären. Nachdem sich Mollath hilfesuchend an Wilhelm Schlötterer (geb. 1939, Verwaltungsjurist und Buchautor, Ministerialrat a.D. der bayerischen Finanzverwaltung und langjähriges Parteimitglied der CSU) gewandt hatte, beschreibt dieser en detail, wie er gegen alle Widerstände aus Politik, Justiz und Psychiatrie den Stein ins Rollen brachte und so die Wiederaufnahme des Falles bewirkte.
Nicht als Justizirrtum, sondern als Staatsverbrechen bezeichnet der Autor das Geschehen: Wie ein Mensch von Anfang an durch Rechtsverdrehungen, Lügen, Täuschungen, psychiatrische (Falsch-) Gutachten seitens RichterInnen, BeamtInnen, PsychiaterInnen, seiner Ehemaligen, der bayerischen Justizministerin und der Staatsanwaltschaft systematisch und vorsätzlich um seine Freiheit, seine Würde, seinen Besitz und fast um sein Leben gebracht wurde. Schlötterer vergleicht die Causa Mollath mit der Affäre Dreyfus, die 1894 und in den Jahren danach als schwerste innenpolitische Krise Frankreich erschütterte. Seine Kritik belegt Schlötterer im gesamten Buch präzis, und er nennt die Namen der Beteiligten.
Detailliert zeigt er die vorgebrachten Unwahrheiten und die Unhaltbarkeit der gegen Mollath vorgebrachten Anschuldigungen auf, zuletzt auch den Skandal der unterbliebenen Strafverfolgung der TäterInnen und die blamabel niedrige Entschädigung: 670.000 € Schmerzensgeld für sieben gestohlene Lebensjahre durch gerichtspsychiatrische Haft (2006-2013), für halbjährige Vollisolation, für demütigende Fesselungen an Händen und Füßen, für öffentliche Stigmatisierung als Monster und weitere Übergriffe.
Es gibt schon zwei Bücher zum Thema: Von den Journalisten Uwe Ritzer/Olaf Przybilla (»Die Affäre Mollath. Der Mann, der zu viel wusste«, 2013) und vom Strafverteidiger Gerhard Strate (»Der Fall Mollath. Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie«, 2014). Mit dem neuen Werk schildert jetzt ein CSU-ler, der schon die Amigo-Affäre aufdeckte und politische Entscheidungsabläufe in der Partei kennt, wie heimtückisch, skrupellos und unbehelligt von ihren Berufsverbänden und Parteien sich PsychiaterInnen, RichterInnen und PolitikerInnen verhalten können und welche Mittel sie institutionell haben, um (gemeinsam) gegen wehrlose Menschen zu agieren. Eine politische Abrechnung, die ihresgleichen sucht. Man ist gespannt, was jetzt zuerst passiert: Werden die Beteiligten zur Rechenschaft gezogen? Oder werden diese mit ihren mafiösen Strukturen gegen den Autor und sein Buch vorgehen?
Rezension in SeelenLaute. Gebunden mit Schutzumschlag, 217 Seiten, ISBN 978-3-95972-447-0. München: FinanzBuch Verlag 2021. € 22.99
Peter Lehmann

Martin Schmela: Vom Zappeln und vom Philipp – ADHS: Integration von familien-, hypno- und verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen
Vorsicht: Mogelpackung! Während der Verlag ankündigt, der Autor würde auf Konzepte und Techniken aus der Familien-, der Hypno- und der Verhaltenstherapie zurückgreifen, plädiert er in Wirklichkeit für die Integration von Ritalin in alle Arten von psychotherapeutischen Ansätzen, ohne der – für einen seriösen Psychologen an sich wesentlichen – Frage nachzugehen, was eine aufdeckende Psychotherapie unter psychopharmakologischer Dämpfung bewirken kann. Dafür preist er Psychostimulanzien (Aufputschmittel), die bei Kindern paradox, also dämpfend wirken, als gut verträglich an und erklärt die Ängste der Eltern vor schädlichen Langzeitwirkungen schlicht für unbegründet. Wir erleben hier leider die x-te Variante von (vermeintlichen) Psychofachleuten, sich dem Diktat der biologischen Psychiatrie unterzuordnen. Ach ja, Schmela, Mitarbeiter einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz, hat auch Vorschläge parat für den Fall, dass Kinder auf Psychostimulanzien nicht ansprechen: Blutdruckmittel und Antidepressiva. Vermutlich lässt sich mit dieser Einstellung viel Geld verdienen. Kartoniert, 233 Seiten, 80 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 3-89670-452-4. Carl Auer Verlag 2004. € 22.95
Peter Lehmann

Ulrike Schmidt / Janet Treasure: Die Bulimie besiegen – Ein Selbsthilfe-Programm
Das Buch, das aus dem Englischen stammt, ist für alle, die akzeptiert haben, wie schädlich Bulimie ist und die von ihr in kleinen Schritten, die auch Rückschläge einbeziehen, loskommen wollen. Es beginnt mit einem Bulimie-Fragebogen. Führt er zu Feststellung, ob man an Bulimie leidet, und wenn diese positiv ausfällt, kann man sich auf die Reise machen, d.h. mit Hilfe des Buches daran gehen, die Bulimie zu besiegen. Es gilt, sich Vor- und Nachteile des Kampfes gegen die Bulimie bewusst zu machen, ein immer mit sich zu führendes Ernährungstagebuch anzulegen, Problemlösungsstrategien zu entwickeln, sich über die Risiken von Diäten klar zu werden, normales Essen zu lernen, Essattacken zu vermeiden, mit dem Erbrechen aufhören zu lernen, den eigenen Körper zu mögen, vielfältige Entspannungsmöglichkeiten kennen zu lernen, die Lebensweise zu ändern, Rückfälle zu verarbeiten, sich Wunden der Kindheit – evtl. sexuellen Missbrauch – zu vergegenwärtigen, schädliche Denkmuster und selbstzerstörerische Verhaltensmuster zu überwinden und eigene Stärke zu entfalten, die sozialen Beziehungen und das eigene Arbeitsleben zu durchleuchten, und wenn man diese Punkte mithilfe des Buches abgearbeitet hat, ist man am Ende der Reise angekommen, auf S. 205, und man hat eventuelle seine Bulimie besiegt, oder aber nicht, dann soll man das Buch noch einmal von vorne durcharbeiten, aber auf keinen Fall aufgeben. Und wer dann doch lieber eine Beratungsstelle oder Klinik oder Selbsthilfegruppe aufsuchen oder weitere themenbezogene Literatur lesen will, wird im Anhang fündig. Kartoniert, 219 Seiten, ISBN 978-3-407-22823-9. Weinheim & Basel: Beltz Verlag, 7. Auflage 2009. € 15.90
Peter Lehmann

Sigrun Schmidt-Traub: Angststörungen im Alter
Nach der Darstellung neuerer Ergebnisse der gerontologischen und geriatrischen, d. h. der auf das Alter und auf Alterserkrankungen bezogenen Forschungen für Psychotherapeuten geht die Autorin auf die Besonderheiten der einzelnen Angststörungen ("unangemessenen", unkontrollierbaren und Leiden produzierenden Ängsten), vor allem die häufig auftretende "generalisierte Angststörung" (situationsunspezifische Angst), auf Panikzustände, Phobien, posttraumatische Belastungsstörung, Zwangsstörungen und auf Depressionen ein, die mit Ängsten verbunden sein können, um dann – unterlegt von Fallbeispielen – kognitive Verhaltenstherapie zu empfehlen und deren Anwendung zu beschreiben. Schmidt-Traub setzt sich mit vielen Faktoren auseinander, die den Alterungsprozess von Menschen bestimmen oder durch ihn bestimmt werden, auch der medikamentösen Behandlung alternder Menschen. Der Hinweis, dass laut einer Studie über ein Viertel der alten Menschen kontraindizierte Medikamente schlucken (die realen Zahlen liegen möglicherweise höher, von unnötigen oder unnötig weitergeführten Verordnungen abgesehen), bleibt jedoch ohne Konsequenz: Die Autorin plädiert pauschal für verbesserte Compliance, wozu Psychotherapeuten und Ärzte sich regelmäßig absprechen sollten. Was aber, wenn Psychotherapeuten Ärzten besser widersprechen sollten? Und wo sollen sie Informationen über schädigende oder gar Angstzustände produzierende Medikamente finden? Es folgen eine Vielzahl von Hinweisen an Psychotherapeuten, die besondere Situation älterer Klientinnen und Klienten in der Psychotherapie zu berücksichtigen. Zuletzt geht die Autorin auf die verschiedenen Aspekte psychotherapeutischer Verfahren und deren Umfeld ein, u.a. Konfrontation, Entspannungsverfahren, Alltagsbewältigung, Reminiszenztherapie, Schlafhygiene, Schmerztherapie, Medikamente (hier preist sie insbesondere neuere Antidepressiva kritiklos und in Übereinstimmung mit der Mainstreampsychiatrie und der Pharmalobby als "gut verträglich" an). Kartoniert, 206 Seiten, ISBN 978-3-8017-2328-6. Göttingen usw.: Hogrefe Verlag 2011. € 29.95
Peter Lehmann

Sigrun Schmidt-Traub: Panikstörung und Agoraphobie – Ein Therapiemanual
Großformatiger Therapieleitfaden mit Beschreibung der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Panikattacken und/oder Agoraphobie. Mit einer Beschreibung von Angststörungen und der Darstellung angsttheoretischer Grundlagen, aktueller Mainstream-Erkenntnisse der internationalen Panikforschung sowie einem verhaltensmedizinisch orientierten Entwicklungsmodell der Angst unter Einbeziehung aktueller neuropsychologischer Forschungsergebnisse. Neben kognitiven und konfrontativen Vorgehensweisen beschreibt die Autorin auch Techniken zur Beeinflussung der physiologischen und motorischen Ebene der Angst. Diese praxisorientierten Übungseinheiten sollen helfen, den Patienten und Patientinnen Wahlfreiheit zu lassen und sie anleiten, in Selbstorganisation ihre Ängste zu bearbeiten und Angst verfestigende Sicherheitsverhaltensvarianten zu vermeiden (wozu die Autorin tendenziell auch Psychopharmaka zählt). Ergänzt wird das Manual durch zahlreiche Arbeitsmaterialien und Informationen für Patienten und Patientinnen, die von der beiliegenden CD-ROM ausgedruckt werden können. Kartoniert, 166 Seiten, mit 1 CD-ROM: Arbeitsmaterialien (PDF-Dateien), ISBN 978-3-8017-2156-5. Göttingen: Hogrefe Verlag, 3., vollständig überarbeitete Auflage 2008. € 34.95
Peter Lehmann

Sigrun Schmidt-Traub: Generalisierte Angststörung – Ein Ratgeber für übermäßig besorgte und ängstliche Menschen
Mit diesen Worten kündigt der Verlag das Buch an: "Menschen mit generalisierter Angststörung erleben große Teile der Welt als bedrohlich und risikobehaftet. Im Alltag sehen sie häufig das Schlimmste auf sich zukommen. Sie machen sich unverhältnismäßig viele Sorgen und geraten dabei in ängstliche Erregung. Aufgrund der mit der Angst einhergehenden körperlichen Beschwerden, wie z.B. Ruhelosigkeit, Schwindel und Schlafstörungen, glauben viele, sie wären körperlich krank." Ratschlag der Autorin im Buch: Solcherart Betroffene sollten unbedingt einen Psychiater aufsuchen, sie würden besonders gut auf sogenannte SSNRI (Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) wie z.B. Venlafaxin ansprechen. Auch SSRI (sogenannte "Selektive" Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), u.a. Fluoxetin, ebenso trizyklische Antidepressiva kämen in Betracht. Sinnvoll sei eine kombinierte Behandlung: Antidepressiva und kognitive Verhaltenstherapie. Nach drei Wochen regelmäßiger Antidepressiva würde sich die Stimmung aufhellen, jetzt sei eine Verhaltenstherapie möglich. Dann könne in Absprache mit dem Psychiater das Antidepressivum schrittweise abgesetzt werden. Was aber, wenn der Psychiater nicht absetzen will (was häufiger vorkommen soll)? Was, wenn die körperlichen Wirkungen der Antidepressiva sich als Krankheiten zeigen und so die vorbestehenden Ängste zementieren? Was, wenn die Betroffenen sich bereits mit Selbsttötungsgedanken tragen und durch solche Behandlungsstrategien und die speziellen psychopharmakologischen Auswirkungen auf die Psyche in den Suizid getrieben werden? Anlässlich in zunehmender Zahl publizierter Studien zu möglichen suizidalen Wirkungen von Antidepressiva hinterlässt das Ausbleiben jeglicher Reflexion in diese Richtung seitens der ansonsten äußerst kompetenten Therapeutin einige Verwunderung. Kartoniert, 146 Seiten, ISBN 978-3-8017-2116-9. Göttingen usw.: Hogrefe Verlag 2008. € 15.95
Peter Lehmann

Frank Schmolke / Marc O. Seng: Freaks. Du bist eine von uns
Die vom Münchner Graphiker Frank Schmolke hervorragend aufgemachte Graphic Novel wird von der Schweizer Edition Moderne mit diesen Worten beworben: "Als Wendy sich von einem freakigen Stadtstreicher überzeugen lässt, ihre Psychopharmaka abzusetzen, macht sie eine unglaubliche Entdeckung: Sie hat Superkräfte! " Die über 256 Seiten gehende wüste Geschichte, deren Handlung ein gleichnamiger deutscher Netflix-Film zugrunde liegt, steht quer zu allen möglichen psychiatriepolitischen, antipsychiatriepolitischen und umweltpolitischen Korrektheiten. Als der genannte Stadtstreicher eine junge Frau (Wendy) mit den Worten "Du bist eine von uns! " auffordert, ihre Psychopharmaka wegzuschmeißen, spült sie diese runter ins Klo (umweltpolitisch ein Frevel und angesichts möglicher gefährlicher Entzugsprobleme beim abrupten Absetzen ausgesprochen verantwortungslos).
Die vorher angepasst lebende Wendy entwickelt jetzt, wo die pharmakologische Dämpfung weggefallen ist, ungeahnte Riesenkräfte, wie dies für Comic-Figuren aber auch keinerlei Problem ist. Sie kann sich gegen die allgegenwärtige Unterdrückung wehren, mutiert dabei aber zum Monster. Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle, reißt anderen Leuten mal eben den Kopf ab (was das von herkömmlichen Psychiatern, gängigen Medien und nachfolgend einem Teil der Öffentlichkeit immer wieder gerne verbreitete bösartige Stereotyp des gemeingefährlichen und unberechenbaren Irren bekräftigt). Ehemann und Kind reagieren befremdet. Aber auch die Psychiaterin, die Wendy wieder einfangen lässt, fixiert und erneut Psychopharmaka aussetzen will, kommt nicht sympathisch weg, wenn man sie so mit der Pistole rumfuchteln sieht und mitbekommt, wie sie Wendy erpressen will, ihre Psychopharmaka erneut zu schlucken, um wieder freizukommen.
Wie also auch bei Krimis, wo oft genug die Fälle dadurch aufgeklärt werden, dass die Kommissare dahinter kommen, dass die Verdächtigen ihre Psychopharmaka abgesetzt haben und deshalb zu Mördern geworden sind, ist das Thema "Absetzen von Psychopharmaka" nun bei Comics angekommen. Wer sich an den – um es mit freundlichen Worten zu sagen – Ungereimtheiten nicht stört, kann die Graphic Novel mit ihren vor Dynamik strotzenden Zeichnungen genießen. Wer auf unterschwellige Bekräftigungen abwertender Stereotype sensibel reagiert, wird besser einen Bogen um diese Graphic Novel machen.
Rezension in SeelenLaute. Französische Broschur, 256 Seiten, 19 x 26 cm, ISBN 978-3-03731-206-3. Zürich: Edition Moderne 2020. € 28.–
Peter Lehmann

Joachim Schnackenberg / Christian Burr: Stimmenhören und Recovery – Erfahrungsfokussierte Beratung in der Praxis
Das Buch handelt von den einzelnen Schritten des erfahrungsfokussierten Beratungsprozesses für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der stationären, teilstationären und ambulanten Betreuung stimmenhörender Menschen. Diese Herangehensweise soll einen völlig neuen Zugang ermöglichen zu bisher in der Psychiatrie als nicht verstehbar eingestuftem Erleben und zu einem respektvollen, effektiven und psychopharmakafreien Umgang mit psychiatrischen Ausnahmesituationen im ambulanten, Akut- und Langzeitsetting – »noch besser als zuvor«, natürlich personenzentriert und unter Berücksichtigung der Perspektive und Erfahrung der Betroffenen. Geschrieben ist das Buch meist umgangssprachlich, was angenehm zu lesen ist, allerdings sprechen die Autoren recht selbstgefällig von psychiatrisch Tätigen als »Fachpersonen«*, weisen ihnen damit von vornherein eine fachliche Kompetenz zu, was für Nichtfachpersonen, die Betroffenen, nur noch den Laienstatus übrig lässt. Die Kapitel des Buches behandeln die Bedeutung des Stimmenhörens, Hilfsmittel der erfahrungsfokussierten Beratung (das Maastrichter Interview, ein konstruktives Gespräch über die Erfahrung des Stimmenhörens; den Maastrichter Bericht, eine geordnete Zusammenfassung eines Interviews durch die »Fachperson«; das Maastrichter Konstrukt, die inhaltliche Interpretation durch die »Fachperson«). Allerdings findet alles in Absprache mit den Betroffenen statt, das Ziel soll eine gemeinsame Sichtweise sein. Weiter geht das Buch mit dem Begleitprozess der verschiedenen Phasen der erfahrungsfokussierten Beratung: der Informationssammlung, den Instrumenten der Einschätzung (Skalen, Fragebögen), dem gemeinsamen Festsetzen von Zielen des Begleitprozesses, der Haltung der »Fachperson«, dem Anbieten von Bewältigungsstrategien, der Entwicklung langfristiger Strategien der Kontrolle der Stimmen und dem Prozess der gemeinsamen Stimmenarbeit anhand von Beispielen von Begleitern sowie von Betroffenen. Obwohl deren Namen anonymisiert sind, erhalten sie in traditionell infantilisierender Weise nur Vornamen, bei »Fachpersonen« wird dagegen hier auch ein Nachname genannt. Zuletzt folgen noch die Artikel »Stimmenhören bei Kindern und Jugendlichen« sowie »Stimmen und Antipsychotika«: erfahrungsfokussierte Beratung führe oft zur Reduzierung dieser Substanzen, gelegentlich gar zum Absetzen. Die Entscheidung von Betroffenen, ihre Psychopharmaka abzusetzen, solle respektiert werden, sie sollten beim Absetzprozess unterstützt werden – eine sympathische Haltung, offenbar Folge des Symposiums »Psychopharmaka absetzen: Warum, wann und wie« von Asmus Finzen und Peter Lehmann bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. 2014 (nachzulesen in: Soziale Psychiatrie, 2/2015 – www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/pdf/absetzen-bremen.pdf). Hoffen wir, dass das Verständnis stimmenhörender Menschen und eine daraus folgende humanistisch orientierte Behandlung, wie sie Christian Burr und Joachim Schnackenberg befürworten, irgendwann nicht nur Stimmenhörern widerfährt, sondern auch Bildersehern und Gedankenhabern. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 172 Seiten, 4 Abbildungen, Geleitwort von Sandra Escher und Marius Romme, Vorwort von Gianfranco Zuaboni, ISBN 978-3-88414-656-9. Köln: Psychiatrieverlag 2017. € 25.–
Peter Lehmann

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Der Begriff »Fachperson« impliziert eine Kompetenz qua Ausbildungsabschluss und Arbeitsplatzinhabe. Schaut man die vielen obskuren Personen im psychosozialen Bereich an – Elektroschocker, rohe Pfleger, psychoedukative Psychologen, Mietmäuler der Pharmaindustrie, primitiv-biologisch orientierte Psychiater, dienstbeflissene Sozialarbeiter u.v.m. –, für die die massiv reduzierte Lebenserwartung psychiatrischer Patientinnen und Patienten mit ernsten psychiatrischen Diagnosen, die psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen, die psychiatrische Behandlung ohne informierte Zustimmung, die Verweigerung von Hilfe beim Absetzen von Psychopharmaka u.v.m. kein Thema ist, vermitteln die Verwender des Begriffs »Fachpersonen« den Eindruck, als hielten sie psychiatrisch Tätige per se für kompetent im Sinne von fähig, im Interesse der Betroffenen zu arbeiten. Mit seinem ideologischen Inhalt stellt sich der Begriff als Unwort dar. Beispielsweise bei mir als kritischem Leser erzeugt er den Eindruck, dass die Verwender des Fachpersonen-Begriffs sich durch eine oberflächliche und unkritische Haltung auszeichnen. Und dass sie eine despektierliche und herablassende Haltung gegenüber den durch die Begriffsverwendung ausgegrenzten Personen offenbaren, die eben keinen Ausbildungsabschluss und keinen ordentlichen Arbeitsplatz im psychiatrischen System haben. (Dass es auch kompetente psychosozial Tätige gibt, steht außer Frage.)

Doris Schneider / Gabriele Tergeist (Hg.): Spinnt die Frau? Ein Lesebuch. Zur Geschlechterfrage in der Psychiatrie
34 Frauen (und 1 Mann), von denen zwei Drittel in der Psychiatrie arbeiten, ein Drittel außerhalb therapeutisch/beratend und ganze drei in der Anstalt saßen, schreiben über den Zusammenhang von Frausein und Psychiatrie. Eine, Ilse Eichenbrenner, schreibt angenehm offen und lebensnah unprofessionell, »Warum ich nichts zum Thema ›Frauen und Psychiatrie‹ schreiben will«. Das Buch ist ein durchaus interessanter Gemischtwarenladen mit breiter Palette, die von Erika Schiebuhrs Kampfruf: »Macht euch auf, euer Leben selbst in die Hand zu nehmen... Von der Gesellschaft der ›Gesunden‹ haben wir gegenwärtig nichts zu erwarten!« über Dorothea Bucks »Hoffnung auf eine einfühlende und einsichtige Psychiatrie« bis zu Karriereratschlägen für psychiatrisch tätige Frauen reicht. »Der Boden, auf dem Frauen in der Psychiatrie als Klientinnen und als Helferinnen stehen, ist noch sehr unwirtlich«, sagt die Psychiaterin Andrea Hüttner und übersieht dabei wohl, dass sie von zwei völlig verschiedenen Ebenen spricht. Auf solche und ähnliche Zumutungen stößt die betroffene Leserin, die nicht gegen Bezahlung, sondern gegen ihren Willen in der Anstalt war oder ist, immer wieder. Trotzdem möchte ich das Buch wegen seiner Themenvielfalt und Konkurrenzlosigkeit (»Frauen in der Psychiatrie« von 1991 zieht auch schon wegen seiner lieblosen Machart und losen Blättern den kürzeren) empfehlen, zumindest solange das antipsychiatrische Standardwerk aus weiblicher Betroffenenperspektive noch nicht geschrieben ist. Beeilt Euch damit! Geb., 333 S., Bonn: Psychiatrie-Verlag 1993. DM 39.80
Kerstin Kempker

Kerstin Schneider: Maries Akte – Das Geheimnis einer Familie
Die Autorin beschäftigt die Arithmetik ihrer Familie. Marie, die Hauptperson im Buch, ist 1900 geboren, ihre Großtante Magdalena 65 Jahre zuvor, die Autorin 65 Jahre danach. Die in der sächsischen Oberlausitz nahe der tschechischen Grenze geborene Marie ist die Schwester des Großvaters der Autorin. Sie ist auf Spurensuche nach der Frau, die noch in ihrer Familiengeschichte "herumspukt", und bereist Aktenarchive wie auch die Stätten von Magdalenas und Maries Familie. Marie hatte ein schweres Leben, litt unter Hungersnot im 1. Weltkrieg und miserablen Arbeitsbedingungen danach. Der Mann, von dem sie ein Kind erwartet, verstößt sie und nimmt sich eine andere. Marie gehört einer christlichen, asketischen Sekte an, es geht bergab mit ihr. Die Autorin stellt sich mit viel Phantasie das Leben der unglücklichen Marie in allen Einzelheiten vor. Vielleicht war es so, schreibt sie gelegentlich, und äußert ihre eigene Vorstellung davon, wie es hätte gewesen sein können. Schließlich dreht Marie durch, hält sich für Jesus, wird in der Arnsdorfer psychiatrischen Anstalt untergebracht, wehrt sich gegen die zwangsweise Entkleidung, verweigert aus Protest die Nahrung, wird zwangsernährt, zwangssterilisiert, insulingeschockt, "hat eine gestörte Hirnchemie", "leidet unter Schizophrenie", "das Insulin zeigt keine Wirkung", wie die Autorin weiß. Während des Faschismus wird Marie in der Psychiatrie ermordet. Magdalena dagegen hatte Glück. 1835 in Böhmen geboren, ist sie seit ihrem 19. Lebensjahr oft krank, hat einen von offenen Wunden übersäten Körper, gilt als hysterisch, bis sie – nach eigenen Angaben – eine Marienerscheinung hat und die Wunden plötzlich verheilen. Jahrzehnte danach wird diese von der Katholischen Kirche als eine der wenigen offiziellen Marienerscheinungen anerkannt. "Eigentlich müsste der Fall aus psychiatrischer Sicht begutachtet werden", zitiert die Autorin den tschechischen Psychiater Kuzelka. Aber die katholische Kirche lasse sich ihre Mythen wohl nicht kaputt machen, grummelt sie. Wie gut, dass sie den Psychiater Hubert Heilemann, heute Ärztlicher Leiter in Arnsdorf, an ihrer Seite hat. Er erklärt ihr das psychiatrische Weltbild mit der aus dem Gleichgewicht geratenen Hirnchemie. Zur erblichen Veranlagung komme die seelische Belastung hinzu. Da die Autorin die besonders gefährliche Zeit zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr längst unbeschadet hinter sich hat, kann sie jetzt dem "Geheimnis ihrer Familie" gelassen ins Auge schauen, psychiatrischer Belehrung sei Dank. Gebunden mit Schutzumschlag, 290 Seiten, 26 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 978-3-940888-02-0. Frankfurt am Main: Weißbooks 2008. € 19.80
Peter Lehmann

Peter K. Schneider: Ich bin wir. Die multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte, Theorie und Therapie eines verkannten Leidens
Peter K. Schneider, Jahrgang 1937, hat Philosophie, Psychologie und Soziologie studiert und ist seit zehn Jahren als »Psychosentherapeut« tätig. Er hat mit »Ich bin wir. Die multiple Persönlichkeit« ein gut lesbares und für Betroffene wie Beteiligte informatives Buch geschrieben, das einerseits den derzeitigen Stand der Multiplenforschung wiedergibt, andererseits Erfahrungen des Autors als Therapeut. Die multiple Selbstaufspaltung sieht Schneider nicht als »pathologische Beeinträchtigung, sondern als alltagsweltliche Bereicherung«, als »radikalste Form ohnmächtiger Selbstverteidigung«. »Aktiv sein, behüten und mitfühlen«, das ist vielleicht die einzig mögliche Therapie, immer auch an der Grenze. Leider bezeugt der Autor nicht nur den Multiplen tiefen Respekt, sondern auch den Psychiatern, die er nur milde kritisiert, um ihnen dann doch die alleinige Kompetenz in Sachen Psychopharmaka zuzusprechen, denn »irgend etwas wird er geben müssen, schon wegen der Usancen des Hauses.« Irgend etwas wird sie schlucken müssen, schon wegen des faulen Friedens? Franz. Broschur, 158 S., Neuried: Verlag Ars Una 1994 (Edition Humanistische Psychiatrie; 3). DM 28.–
Kerstin Kempker

Silvia Schneider / Susanne Borer: Nur keine Panik! Was Kids über Angst wissen sollten
Nett gemachte Broschüre, die man mit Kindern lesen und besprechen kann, wenn diese unter Ängsten leiden und nicht mit ihnen klar kommen. Sinnvolle, rettende Ängste, ebenso überflüssige, hemmende Ängste. Spinnen, dunkle Keller, Missbrauch, Einbrecher, Verlust der Eltern, Hunde, Spritze beim Doktor – vieles ist genannt oder als Bild präsent. Über Monate anhaltende Ängste sind Angstkrankheiten, lernen wir. Was ist mit Ängsten vor Autoritäten, die die Kinder nicht loswerden können, zum Beispiel Ängste vor Eltern, die zur Gewalt neigen? Sind diese ausgespart, da jene sowieso nie ihren Kindern solche Broschüren vorlegen würden? Ist es sinnvoll, unter den helfenden Stellen auch Kinderpsychiater zu nennen – ohne jede Einschränkung, wo man doch weiß, wie leichtfertig viele von diesen Psychopharmaka für Kinder verschreiben? Wieso nennen die Autorinnen nur Schweizer Internetseiten, wo die Broschüre doch auch in Deutschland und Österreich verkauft werden soll? Es gibt noch Optimierungsmöglichkeiten für die nächste Auflage. Broschüre, 28 Seiten, mit farbigen Illustrationen, ISBN 978-3-8055-8209-4. Basel usw.: Karger Verlag, 2., aktualisierte Auflage 2007. € 5.50
Peter Lehmann

Ulrich Schneider: Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin, prangert die fortschreitende Ökonomisierung des sozialen Systems an – an der Zahl der Erwerbstätigen gemessen dem drittgrößten Wirtschaftszweig Deutschlands – und beleuchtet seine schrittweise Verschlechterung der letzten 50 Jahre. Illustriert mit eingängigen Beispielen rechnet er mit dem neoliberalen Zeitgeist ab, beharrt unter Bezugnahme auf Klassiker der sozialpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Literatur auf dem eigenen Wert des Sozialen und plädiert für ethisches soziales Handeln, fachliche Professionalität und Humanität im sozialen Bereich, wobei er den psychiatrischen Bereich leider ausspart. Im Mittelpunkt müsse immer die Menschenwürde stehen, im Kindergarten, Pflegeheim, der Schuldnerberatungsstelle, der Behindertenwerkstatt. So wie von Diplompädagogen und Sozialarbeitern, die in Sozialunternehmen oder Verbänden Leitungsverantwortung übernehmen, betriebswirtschaftliche Kenntnisse erwartet würden, müssten auch von Betriebs- und Volkswirten, die in der Wohlfahrtspflege tätig sind, Grundkenntnisse der Charakteristika ethischer Sozialarbeit erwartet werden. Ein Buch für alle, die im sozialen Bereich arbeiten und intellektuelle Rückendeckung im Kampf mit der Bürokratie benötigen. Kartoniert, 158 Seiten, ISBN 978-3-86489-079-6. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2014. € 13.99
Peter Lehmann

Bettina Schöne-Seifert / Davinia Talbot (Hg.): Enhancement – Die ethische Debatte
Antworten aller Coleur auf Fragen nach den individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Enhancement-Praktiken (biomedizinische Techniken zur "Verbesserung" als gesund geltender Menschen). Welche moralischen Probleme können sich angesichts realistisch gewordener Enhancement-Möglichkeiten ergeben? Wie problematisch ist die biomedizinische Manipulation von Körpergröße oder Hautfarbe zwecks Überwindung von Stigmatisierung und Diskriminierung? Kann das Dopingverbot im Sport als Schutz vor einem normativen Zugzwang aller Sportler auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden, zum Beispiel das Gehirndoping in der Schule? Wie unmoralisch müssen kosmetische Schönheitsoperationen begründet sein, damit die beteiligten Ärzte als Erfüllungsgehilfen abzulehnender Ideologien zu bezichtigen sind? Verhindert das Ausbleiben durch stimmungsaufhellende Psychopharmaka unterdrückter Entfremdungsgefühle sowie negative emotionale Reaktionen nicht die behauptete Förderung von Persönlichkeitsentwicklung und Authentizität? Oder wird man durch Psychopharmaka authentischer? Führt die Medikalisierung von Erziehungsaufgaben nicht zu einer Verarmung der Kindheit, zum Verlust richtigen Lernens, zur Homogenisierung der menschlichen Temperamente und zur weiteren Steigerung der Leistungsanforderungen? Besteht der Preis des Anti-Aging-Enhancement nicht in verminderter Lebensqualität? Der sorgfältig gestaltete Sammelband enthält grundlegende klassische – teils feuilletonistisch, teils wissenschaftlich verfasste – Texte der Enhancement-Debatte aus den letzten zehn Jahren, vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, insofern spielen sich die Diskussionen ausschließlich in den westlichen Kulturen ab. Eine Ausnahme stellt der deutsche Philosoph Jürgen Habermas dar, der in seinem Aufsatz "Das Gewachsene und das Gemachte" auf den prinzipiellen Unterschied zwischen erzieherischen Maßnahmen und gentechnischen Manipulationen verweist: Von den ersten können sich die Betroffenen später noch distanzieren, letztere bieten diese Option nicht mehr. Eine normative Bewertung (und Gutheißung) schließe sich aus, solange man die Perspektive der betroffenen Person nicht einnehmen kann. Für Einsteiger in die Enhancement-Diskussion ist das Buch eine wahre Fundgrube. Dabei verhindert die Vielfalt der dargestellten Positionen, dass man sich allzu leicht von logisch klingenden Begründungen vereinnahmen lässt. Kartoniert, 411 Seiten, ISBN 978-3-89785-604-2. Paderborn: mentis Verlag 2009. € 38.–
Peter Lehmann

Bettina Schöne-Seifert / Davinia Talbot / Uwe Opolka / Johann S. Ach (Hg.): Neuro-Enhancement – Ethik vor neuen Herausforderungen
Aus der Sicht eines Psychiatriebetroffenen, dem Psychiater nur mit brutaler Gewalt ihre Psychopharmaka verabreichen konnten, ist die vorliegende Problemlage auf den ersten Blick absurd: Andere nehmen psychiatrische Psychopharmaka von sich aus ein, als Lifestylemedikament, zur Verbesserung der Laune oder der geistigen Leistungsfähigkeit. Um Neuroleptika geht es allerdings nicht, die geben höchstens Dressurreiter ihren Pferden als "Dopingmittel", damit diese die antrainierten Bewegungsabläufe wiederholen, ohne von der natürlichen Bewegungslust abgelenkt zu werden. Vielmehr geht es um Antidepressiva wie den Serotoninwiederaufnahmehemmer Fluoxetin, das – aus welchen Gründen auch immer – in der Szene als nicht abhängig machende Glückspille gilt, um Methylphenidat (Ritalin), das bei Erwachsenen eine den den Amphetaminen vergleichbare aufputschende Wirkung hat, oder das Stimulanzmittel Modafinil (Vigil, Provigil), das Mediziner zur Behandlung von Narkolepsie (exzessiver Tagesmüdigkeit) verschreiben. Dem Beispiel von Medizinern, alle möglichen Medikamente "off label", also nach Gusto und jenseits der zugelassenen Indikationen einzusetzen, folgen inzwischen Normalbürger, die als gesund gelten, jedoch glauben, dass sie Psychopharmaka zwecks Hirndoping einnehmen können. Da sie dies in zunehmendem Umfang tun und sich nicht mehr auf äußere chirurgische Eingriffe wie Brustvergrößerung, Penisverlängerung, Fettabsaugen am Popo, Gesichtsliften, Schamlippen- oder Nasenkorrektur beschränken, um sich besser zu präsentieren, drängt sich die Diskussion über das sogenannte Neuro-Enhancement auf: die – vermeintliche – Steigerung ("Enhancement") des Lebensniveaus bei Normalen durch das Schlucken zentralnervös wirksamer Substanzen. Was beispielsweise rechtfertigt bei der Manipulation des Hirnstoffwechsels die prinzipiell andere Beurteilung medizinisch-synthetischer Substanzen als natürliche Mittel? "Zeigt sich nicht schon jetzt", fragt die Mitherausgeberin Bettina Schöne-Seifert, "dass die bloße Verfügbarkeit selbst dubioser Aufputscher in unseren Ellbogen-Gesellschaften ein gewaltiges Zwangspotenzial zum Mitmachen-Müssen birgt?" Der Sammelband beleuchtet ethische und soziale Aspekte, die sich aus der Anwendung von Neuro-Enhancement ergeben: neben den grundsätzlichen Möglichkeiten für Neuro-Enhancement Fragen der Authentizität und Verantwortlichkeit des Individuums, soziale Folgen mit Blick auf Gerechtigkeit und Wettbewerbsdruck, zugrunde liegendes ärztliches Aufgaben- und Rollenverständnis. Das Buch ist ein transdisziplinärer Diskurs mit Stimmen aus Philosophie, Medizin, Rechts-, Neuro- und Politikwissenschaften. Kartoniert, 367 Seiten, ISBN 978-3-89785-602-8. Paderborn: mentis Verlag 2009. € 39.80
Peter Lehmann

Judy Schreiber-Mosher: Tincture of Time – Living Through Grief to Hope
The author, Judy Schreiber-Mosher, is the widow of the well-known father of the Soteria-movement, American psychiatrist Loren Mosher. Judy asked me to write some valedictory comments for her book. In general for a cover blurb you can quickly scan through the text (even if your first language is German as in my case). This was impossible, I got caught by the manuscript and read it from the first until the last sentence – the first English book I ever read cover to cover. "Judy, this is a death sentence." With these words Loren informs his wife about the diagnosis of liver cancer received the year before he dies. It was on July 10, 2004 in Berlin, when he left our world. Knowing his diagnosis, Judy, an occupational therapist and later social worker and psychotherapist, began keeping a journal, after completing two writing courses on Writing the Personal Memory and Writing the Memoir. After the inescapable death of her spouse she participated in both a psychotherapy and a bereavement group to explore the emotional unknown and overcome the deep grief following the loss of "the love of her life." The result of these efforts is her book, which obviously helped her to survive Loren's death. She refused suppressing her grief with psychiatric drugs; not surprising given the critical view on toxic psychiatric drugs which was so important for Loren's Soteria approach. Focussing on special topics in 14 chapters, she reports and reflects in a direct way the deepest personal challenges she and Loren faced; from the first diagnosis of cancer until the end and the subsequent three years: becoming the secretary of his death, supervising his ashes, going to a bereavement group, missing her love's touches and sleeping alone, confronting his clothes, accepting his not-acceptable death, meeting a man and thinking about sexual contacts again, etc. But the book is much more than a simple report of coping with personal problems. Unadorned, with cool humour and linguistic ease the author articulates the unspeakable: hopes, thoughts and fears in the face of the fatal illness of her beloved husband – blending passion and sadness with magical moments in the joined life. The book encourages me to look into the eye of what will happen with deadly certainty sooner or-hopefully-later to me or to my beloved. How would or could I act, facing the rest of my life suddenly without my beloved wife? Or how would or could she go on to live without me? But, thanks to Tincture of Time, it will be easier to have words for the aftermath and for communicating about it, and, although inconceivable, to know love is transcendent and there is a life worth living for those who are left behind. Thanks to Judy for her courage in being so open-hearted with her personal thoughts and feelings. Along with the Soteria approach, the book is a second cornerstone to keep the memory of her husband alive. Review in the Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy, Vol. 11 (2011), No. 2, pp. 117-118. Paperback, IX+149 pages, ISBN 978-0-9824023-0-6. San Diego: Soteria Press 2010. £ 11.99
Peter Lehmann

Bruno Schrep: Jenseits der Norm – Reportagen über Grenzgänger und Außenseiter
In 17 kurzen, eindringlichen und angenehm sachlichen Porträts beschreibt der Journalist Bruno Schrep das Fremdsein in Deutschland. Gestrandete Seeleute, unkorrekte Lehrerinnen, stehlende Kinder, gemobbte Homosexuelle, arbeitslose Manager und Prostituierte, die sich auf die Wünsche Behinderter spezialisieren. So bizarr die Schicksale anmuten, so vertraut sind sie. Vorwort von Hans Leyendecker. Kartoniert, 191 Seiten, 17 schwarz-weiße Fotos, ISBN 3-7776-1320-7. Stuttgart: Hirzel Verlag 2004. € 18.–
Kerstin Kempker

Sonja Schröter: Psychiatrie in Waldheim/Sachsen (1716 – 1946), Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland
Ich fand das Buch recht langweilig. Die Autorin, eine Psychiaterin aus der ehemaligen DDR, lässt jede kritische Distanz zum Thema Psychiatrie vermissen. Die Fakten psychiatrischer Greueltaten zählt sie brav auf, trennt fein zwischen (kritikwürdigem) Psychiatriemissbrauch und (tiptop) Psychiatriegebrauch und kommt folgerichtig zum Schluss, der psychiatrische Massenmord während der Nazizeit sei eher ein Betriebsunfall der deutschen Psychiatrie als eine logische Konsequenz des von den Nazis gewährten und den Altvorderen der Psychiatrie herbeigesehnten rechtsfreien Raums zur uneingeschränkten therapeutischen Betätigung. Kart., 250 S., 13 Abb., Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag 1994. DM 44.–
Peter Lehmann

Michael Schulz / Gianfranco Zuaboni (Hg.): Die Hoffnung trägt – Psychisch erkrankte Menschen und ihre Recoverygeschichten
Das Buch enthält 25 mehr oder weniger vollendete individuelle Recoverygeschichten von Autorinnen und Autoren, die zum großen Teil mit den Grenzen, die sie erlebt oder die sie gelernt haben, ein sie zufriedenstellendes Leben führen und gleichsam Betroffenen Hoffnung machen, dass auch ihre Lage sich zum Besseren wenden kann. Die Geschichten entsprechen der Mainstream-Definition von Recovery und sind Ergebnis der Anstöße gutwilliger Psychiater oder Therapeuten. Auch wenn die Betroffenen gelegentlich psychiatrische Gewalt erfahren haben, haben sie – teils durch Psychoedukation, teils durch Ex-In-Fortbildung – gelernt, ihre psychischen Probleme als behandlungsbedürftige Krankheiten zu akzeptieren und dass die gewaltsame Behandlung nur zu ihrem Besten war. Eine grundlegende Kritik an den typischen Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie ist somit nicht von den Autorinnen und Autoren zu erwarten. Dennoch zeigen die Geschichten, wie wichtig die Botschaften psychiatrisch Tätiger in ihrem Kontakt mit den Behandelten sind: Während die einen psychiatrisch Tätigen mit ihrem stupiden Signal der multifaktoriell inkl. genetisch bedingten Geisteskrankheit und der häufigen Aufforderung, lebenslänglich Psychopharmaka zu schlucken, die Betroffenen in ein Tal der Hoffnungslosigkeit stoßen, gibt es die anderen, die Anstöße geben, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen und helfen, Wege aus dem persönlichen und/oder psychiatrischen Schlamassel zu finden. Welche Faktoren für Letzteres wichtig waren, steht am Ende jeder einzelnen Recoverygeschichte: sich selbst annehmen, Unterstützung durch Partner und Freunde, Therapie, Psychopharmaka oder schrittweises Reduzieren, ehrenamtliche Arbeit, sicherer und bezahlter Arbeitsplatz oder Delegieren von Arbeit, Annahme von angebotener Unterstützung, Tiere, Schreiben, Engagement im Selbsthilfebereich, psychiatrische Klinik, Kreativität, Spiritualität, Glaube an sich selbst, Sport, Gespräche, Natur und Stille, Naturheilkunde, Töpfern, Hausarzt, Musik, Bücher, Reisen, Yoga, Ex-In-Ausbildung, Ja- bzw. Nein-sagen können – und vor allem Menschen, die an einen glauben. "Ich meine, das könnte man auch einfacher haben", schreibt Sibylle Prins in ihrem lesenswerten Vorwort. Wieso die Patientinnen und Patienten erst demoralisieren, um sie dann zu unterstützen, dass sie sich mühsam wieder aufrichten können? Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, 192 Seiten, 25 farbige ganzseitige Portraits der Autorinnen und Autoren, ISBN 978-3-86739-090-3. Köln: BALANCE Buch + Medien Verlag 2014. € 24.95
Peter Lehmann

Wolfgang Schulz: Die Auffassung der Emotionen im Huang Di Nei Jing und ihre Brechung in der Affektlogik Luc Ciompis
Martin Wollschläger

Lisa Schulze Steinmann / Joachim Heimler / Hans Cordshagen / Josef Claassen (Hg.): Die Zukunft sozialpsychiatrischer Heime
"Augen zu vor allen nichtpsychiatrischen Alternativen", scheint das Motto dieses braven, engagierten Buches zu sein, dem man zugute halten muss, dass es in der Trennung der "Hilfen" vom Wohnbereich einen wesentlichen Beitrag zum Einleiten überfälliger Reformen im Heimbereich sieht. "Augen zu" heißt es zum Beispiel, wenn es um die Ursachen geht, weshalb Menschen nach der Psychiatrie in Heime verschubt werden, weshalb sie in psychiatrischen Anstalten keine Hilfe zur Lösung der Probleme bekommen, die zur Psychiatrisierung geführt haben. Brav im vorgegebenen gemeindepsychiatrischen Rahmen verhaftet, schließen die AutorInnen geschlossen die Augen vor der strukturell ausbleibenden Hilfe in psychiatrisch-medizinischen Einrichtungen. Engagiert sind die AutorInnen innerhalb ihrer Verhältnisse, und doch, anstelle die "Kundenzufriedenheit" zum Ausgangspunkt ihres Handels zu machen, speisen sie sich selbst mit dem Spruch des Gutmenschen Dörner "Niemand geht freiwillig ins Heim" ab, sprechen mit diesem – aus seinem psychiatrischen Mund – zynisch klingenden Spruch den Betroffenen einen Subjektstandpunkt mit der Berechtigung zur Formulierung eigener "Verbraucher"-Interessen ab und belassen so die Betroffenen als Patienten-Objekte sozialpsychiatrischen Handelns. Daran ändert auch der letzte Artikel des Buches nichts, geschrieben von Klaus Laupichler, dem einzigen psychiatriebetroffenen Autoren, der sich bedankt für die Hilfe, die er während seiner Heim-"Karriere" erhielt und weshalb er nun mit weniger Psychopharmaka ("immer in Absprache mit dem Arzt!") extramural lebt. Menschen, die mal einen Schritt ohne Psychiater oder gegen ihn unternehmen, kommen in der Welt der Sozialpsychiatrie nicht vor, dafür viele viele HeimbewohnerInnen, denen geholfen werden muss – sozialpsychiatrisch. Dass das Buch dennoch das einzige Buch ist, in dem Vorschläge zur Verbesserung der aktuellen Situation von HeimbewohnerInnen genannt werden, ist die traurige Krönung eines besonders traurigen psychiatrischen Kapitels. Kartoniert, 254 Seiten, ISBN 3-88414-339-5. Bonn: Psychiatrieverlag 2003. € 19.90
Peter Lehmann

Brigitte Schwaiger: Fallen lassen
"Mit ihrem Roman "Wie kommt das Salz ins Meer" war die Autorin vor 30 Jahren in aller Munde. Ebenso lange ist sie in psychiatrischer Behandlung. Präzise und schonungslos gegen sich und alle beschreibt sie das Leben in der Psychiatrie (Wien, Baumgartner Höhe, bis 2005) und in der Krankheit (sie nennt es Borderline, Stimmenhören, Depression). Wer "den Suizid intus" hat, hat nichts zu verlieren und keinen Grund mehr zu Rücksicht oder Vorsicht. Wer erfahren will, wie schwer es sich lebt zwischen "Ich bin eine öffentliche Person" und "Ich verdiene es nicht zu atmen", entweder psychiatrisch gedemütigt und zusammengepfercht mit anderen, Feinsinnigen und Grobianen, missglückten Suiziden und Gewalttätigen, oder aber allein mit der Angst und Erinnerung in der eigenen Wohnung, sollte dies Buch lesen. Ein verzweifelter und gleichzeitig hellwacher Text." Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzumschlag, 115 Seiten, ISBN 978-3-7076-0082-7. Wien: Czernin Verlag 2006. € 19.80
Kerstin Kempker

Rolf Schwendter: Einführung in die Soziale Therapie
Der Verlagswerbetext beschreibt das Buch Schwendters: »In seinem Buch wird Soziale Therapie aufgefasst als Reflexion auf die Gleichzeitigkeit gesellschaftlicher und psychischer Ursachen bestehender Leidenserfahrungen und mit einem Ensemble möglicher Interventionen zur Behebung oder doch Minderung derselben verbunden.« Bei genauem Lesen stellt sich die »Reflexion« als eine etwas orientierungslose Verhackstückung aller möglichen sozialen Themen dar. Sehr unangenehm angetan war ich von der schubladenmentalitätartigen Verarbeitung der Erfahrungsberichte in "Statt Psychiatrie": Schwendter zählt schlicht ab, wie häufig die gerade mal 17 Autorinnen und Autoren eines speziellen Kapitels bestimmte Handlungsweisen in Krisen erwähnen – ob man so der Kernaussage der Autorinnen und Autoren gerecht wird, die sich gegen jede Verallgemeinerung und Kategorisierung ihrer individuellen Lebenserfahrungen und Konfliktverarbeitung wenden? Kartoniert, 303 Seiten, Tübingen: DGVT-Verlag 2000. € 19.80
Peter Lehmann

Eva Schwenk: Fehldiagnose Rechtsstaat. Die ungezählten Psychiatrieopfer
Das Buch dokumentiert psychiatrische Vergehen und Behördenwillkür gegen psychiatrisch Behandelte im Umfeld der engagierten Autorin. Sie wirft der Psychiatrie vor, unwissenschaftlich zu diagnostizieren und folgerichtig schlecht oder falsch zu behandeln. "Die richtige Diagnose ist die Voraussetzung dafür, dass die Patienten wieder Vertrauen fassen. Erst dann werden sie imstande sein, sich ihrem Mitmenschen wieder mitzuteilen." Durch die 'in der Regel nicht einmal indizierte' Dauermedikamentierung würden Patienten quasi bei lebendigem Leib begraben. Psychopharmaka würden, da falsch indiziert, erhebliche Schäden bei den einzelnen Menschen anrichten. Schade, ein kritisches Lektorat, das es bei Book on Demand, einem Selbstverlag von Autoren, natururgemäß nicht geben kann, hätte die Autorin, eine Diplompsychologin, vermutlich auf den Irrweg hingewiesen, auf den sie in ihrem lobenswerten Engagement die Leser mit ihrem Hohelied auf die 'richtige psychiatrische Diagnose' und das 'richtig indizierte Psychopharmakon' schicken kann. Als würden die Schäden der Psychopharmaka abhängig sein von den Diagnosen, unter denen sie verabreicht werden. Eine Auseinandersetzung mit dem psychiatrischen Diagnosesystem, das in aller Regel den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen verstellt, hätte die Qualität des Buches gestärkt. Kartoniert, 221 Seiten, ISBN 3-8334-1526-6. Norderstedt: Book on Demand 2004. € 13.40
Peter Lehmann

Dietmar Sedlaczek / Thomas Lutz / Ulrike Puvogel / Ingrid Tomkowiak (Hg.): "minderwertig" und "asozial" – Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Aussenseiter
Informatives und gut recherchiertes Buch über die Verfolgung als asozial etikettierter Bettler, Arbeitsloser, Obdachloser, Prostituierter, Homosexueller, Sinti und Roma und sozial unangepasster Jugendlicher während der Nazizeit. Die Beiträge beinhalten eine kulturhistorische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Begriffs der "deutschen Arbeit" und der Eugenik und Rassenhygiene als Wegbereiter der Verfolgung. Eigene Kapitel sind der Haft von Jugendlichen im Jugend-KZ Moringen (Haftgrund "Gemeinschaftsfremder"), der (auf gemeinsame sozialpsychiatrisch-nazistische Theorien basierende) Verfolgung der Jenischen in der Schweiz durch das "Hilfswerk für die Kinder der Landstraße" von 1926 bis 1973 sowie dem nicht minder traurig stimmenden Kapitel der "Wiedergutmachung" in Deutschland gewidmet. Wer sich für das Schicksal von Betroffenen aus deren eigenen Sicht interessiert, sollte evtl. die Bücher der Jenischen Mariella Mehr (u.a. "Steinzeit", "Kinder der Landstrasse") lesen, die allerdings im vorliegenden Buch nicht erwähnt werden – evtl. weil keine Betroffenen unter den Autoren sind? Gebunden, 197 Seiten, ISBN 3-0340-0716-7. Zürich: Chronos Verlag 2005. € 24.80
Peter Lehmann

Ute Karen Seggelke: Wir haben viel erlebt! Jahrhundertfrauen erzählen aus ihrem Leben
Ein sehr schön gestalteter Bild- und Textband, in dem zwanzig Frauen über achtzig aus ihrem Leben erzählen. Beeindruckend ist, welche Kraft und Schönheit diese Frauen – ob Schauspielerin, Äbtissin, Gärtnerin, Zirkusartistin oder Psychoanalytikerin – ausstrahlen. Sei es die Summe aus Wachheit, Schalk und Herzlichkeit bei Dorothea Buck, Lucia Westerguard, die mit über neunzig Jahren hofft, bald ein bisschen kräftiger zu sein, um wieder auf der Straße Saxophon zu spielen, oder Swetlana Geier, Übersetzerin, in ihrer Küche, die sagt, wenn sie nicht mehr da ist, tut ihr das Haus leid, "denn es ist ja so viel mehr als nur ein Gehäuse". Eine spannende Vergegenwärtigung des letzten Jahrhunderts in Lebensgeschichten und Bildern. Auffällig häufig haben diese Frauen schon früh Städte und Länder gewechselt, sind kreativ tätig, betonen die Bedeutung von Familie und von Natur und würden – alles in allem – es noch einmal so machen. Man kriegt Lust, alt zu werden. Gebunden mit Schutzumschlag, 183 Seiten, über 200 Abbildungen in Farbe und Duotone, ISBN 978-3-901409-23-3. München: Elisabeth Sandmann Verlag 2007. € 24.80
Kerstin Kempker

Laura Seidel: Gewalt an alten Menschen – Entstehungsfaktoren für Gewalt an pflegebedürftigen alten Menschen und Lösungsansätze. Handeln statt Misshandeln (HSM)
Informatives Buch über die diversen Formen der Gewalt an alten Menschen (direkte Gewalt, körperliche Gewalt, psychische Gewalt, finanzielle Ausbeutung, Einschränkung des freien Willens, Vernachlässigung, Gewalt am Pflegepersonal, Gewalt am pflegenden Angehörigen, strukturelle Gewalt, kulturelle Gewalt), rechtliche Grundlagen der stationären Altenpflege, Ausbildung des Personals sowie Wege aus der Gewalt. Kartoniert, 116 Seiten, ISBN 978-3-938304-94-5. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008. € 12.–
Peter Lehmann

Holger Senzel: »Arschtritt« – Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben
Nach vier Therapien im Lauf von zehn Jahren wegen Depressionen, einem Zusammenbruch, einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik mag der Autor, ein Reporter, nicht weiter in sich gehen, das Kind in sich betrauern und Ähnliches, was ihm in der Therapie geraten worden sei. Statt dessen will er sich nun – nach seiner Meinung konträr zu Ratschlägen in therapeutischen Kreisen – um die Erledigung alltäglicher Aufgaben kümmern, quasi das Haus bauen, in dem sich die Seele dann drin wohlfühlen kann. Dazu macht er einen Vertrag mit sich selbst: Vier Wochen lang in aller Entschiedenheit unter anderem auf Tabak und Alkohol verzichten, sich gesund ernähren, Sport treiben, auf Fernsehen, Frustkäufe und Restaurantbesuche verzichten, persönliche Briefe schreiben, Kulturangebote wahrnehmen, die Haushaltliste abarbeiten, Freunde einladen, gute Bücher lesen, abnehmen – und bei einem Verstoß stur wieder von vorne anfangen. Knapp 50 ist er, als er nach 88 Tagen diverser vergeblicher Anläufe seinen Vertrag endlich erfüllt hat. Jetzt hat er seine innere Ausgeglichenheit gefunden, kann Durchhänger und Rückfälle wegstecken und hat eine Frau, mit der er glücklich ist. Sich selbst einen Arschtritt versetzen, " einfach mal vier Wochen sich selbst besiegen – und stark sein", so lautet sein Motto. Ganz einfach war es nicht, wie aus dem feuilletonistisch geschriebenen – und gelegentlich wie in Zeitungsartikeln mit blickfangenden Zitaten illustrierten – Buch hervorgeht, aber bei ihm hat diese Methode letztlich funktioniert. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzeinschlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-517-08653-8. München: Südwest-Verlag 2011. € 16.99
Peter Lehmann

Charles A. Shamoian (Hg.): Psychopharmacological Treatment Complications in the Elderly
Aussagekräftige Artikel von Mitgliedern der institutionellen Psychiatrie über die besondere Gefährdung älterer Menschen durch Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquilizer und Cholinergika. Beispiel: »Neuroleptic malignant syndrome in the elderly« von Gerard Addonizio, einem Psychiater des Cornell University Medical College in New York City. Angesichts der bekanntgewordenen Todeszahlen infolge des Malignen Neuroleptischen Syndroms (laut David Hill bis 1992 weltweit mindestens 190.000) ist für alle, die an der Neuroleptika-Verabreichung an alte Menschen beteiligt sind und sie eventuell stoppen können, die Kenntnis dieser tückischen ›Neben‹-Wirkung von besonderer Bedeutung. Denn oft genug sind deren Symptome kaum von normalen altersbedingten Beschwerden zu unterscheiden. Die anderen Artikel: »Adverse cognitive effects of tricyclic antidepressants in the treatment of geriatric depression: fact or fiction?« »Cardiac risks of antidepressants in the elderly«. »Neurological side effects of psychotropic medications in the elderly«. »Problems associated with long-term benzodiazepine use in the elderly«. »Efficacy and side effects of cholinergic drugs used in the treatment of Alzheimer's disease«. Clinical Practice Nr. 23, geb., 140 S., Washington: American Psychiatric Press 1992. Bestelladresse: Eurospan-Group, Am. Psych. Press, 3 Henrietta Street, Covent Garden, London WC2E 8LU, England. GPD 20.50
Peter Lehmann

Stanley Siegel / Ed Lowe: Der Patient, der seinen Therapeuten heilte. Einblicke in die Psychotherapie
12 novellenartig vom Journalisten Lowe aufbereitete Fallgeschichten aus der Praxis des Familientherapeuten Siegel, der – so seine Worte – in seiner Privatpraxis in New York versucht, Achtung des Patienten und Gleichberechtigung zu praktizieren. Siegel, der sich gezielt von psychiatrischen Krankheitsmodellen absetzt: »Werfe ich nachträglich einen Blick auf meine Interventionen, so muss ich feststellen, dass ich die Neigung habe, ein gegebenes Muster zu zerstören, um eine gewissen Verwirrung zu erzeugen, wodurch dann die Akteure aufgefordert sind, noch mehr Phantasie aufzubringen als bisher.« Er sieht sich als Priester, Magier oder Schamane und ist sich sicher, dass er seinen KlientInnen helfen konnte. Hoffen wir, dass sie tatsächlich aus der von Siegel geschaffenen Verwirrung wieder herausgefunden haben. Aus dem Amerikanischen, geb., 195 S., München: Buchreihe Irisiana beim Hugendubel Verlag 1995. DM 28.–
Peter Lehmann

Wolfgang Siegel: Tut mein Therapeut mir gut? Das Begleitbuch für die Psychotherapie
Das Buch soll helfen, Psychotherapie optimal zu nutzen, heiß es in der Ankündigung. Ohne jedoch irgendwann eine klare Haltung zu beziehen, wägt der Autor die Pros und Contras aller möglicher Faktoren von Psychotherapie ab. Dabei bleibt er allerdings derart schwammig, dass eine eigene Orientierung kaum möglich wird, im Gegenteil, alle Fragen bleiben offen, immer soll der orientierungslose Leser dann "seinen" Therapeuten nach dessen Meinung und Urteil fragen. Mit einem kritischen Blick auf Psychotherapie ist durchaus denkbar, dass diese Verunsicherung beabsichtigt ist. Das Urteil des (vermeintlichen) Fachmannes, dann im eigenen Kopf, führt zwar zu einer klaren Haltung. Aber es ist die des Profis, das Ergebnis bloßer Beeinflussung des Menschen in abhängiger therapeutischer Position. Im Anhang nennt der Autor Anlaufstellen, allerdings keine Beschwerdestellen für Psychotherapieschäden, wie sie derzeit überall im Aufbau sind, sondern Ärztekammern sowie das sogenannte "Kompetenznetz Depression". Dieses schreibt auf der von Siegel empfohlenen Website: "Bei Patienten mit schweren Depressionen, bei denen zahlreiche medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungsversuche fehlgeschlagen sind, ist die Elektrokrampftherapie (EKT) das erfolgreichste Verfahren. Ein kurzer elektrischer Stromstoß löst eine künstlichen epileptischen Krampfanfall aus. Die Behandlung wird unter Kurznarkose durchgeführt, so dass sie den Patienten in der Regel nicht belastet. Zudem werden muskelentspannende Medikamente gegeben, um stärkere Muskelkrämpfe während des epileptischen Anfalls zu vermeiden. Den eigentlichen elektrischen Stimulationsvorgang und den Krampfanfall, der 20 bis 30 Sekunden dauert, bemerkt der Patient nicht. Der Patient erhält, verteilt über etwa drei Wochen, neun bis zwölf Anwendungen. Bei der Mehrzahl der therapieresistenten Patienten kann die EKT depressive Phasen durchbrechen, die zum Teil schon seit Monaten oder Jahren andauern. Viele von ihnen erleben das Abklingen ihrer Depression nach der EKT wie das Erwachen aus einem langen Alptraum..." Entweder hat Siegel schlecht recherchiert, wenn er solcherart vorsätzliche und fortgesetzte Körperverletzung übersieht, oder er steht hinter dieser Empfehlung. Da der Autor in der Psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses arbeitet, ist allerdings letzteres anzunehmen. Doch egal ob fahrlässig oder vorsätzlich, beidesmal kann die Lektüre des Buches dazu führen, dass dem Alptraum einer psychiatrisch gewollten Hirnschädigung mittels Stromschlägen geholfen wird, Wirklichkeit zu werden. Geb., 238 S., Stuttgart & Zürich: Kreuz Verlag 2003. € 19.90
Peter Lehmann

Aruna Meike Siewert: Natürliche Psychopharmaka – Ganzheitliche Medizin für die Seele
Heilpraktiker (ob Mann oder Frau) ist nicht gleich Heilpraktiker, das wird an diesem Buch deutlich. Manche grenzen sich von tendenziell toxischen Psychopharmaka ab, wie sie in der Psychiatrie (und der Allgemeinmedizin) verwendet werden, manche ordnen sich bereitwillig der psychiatrischen Ideologie und ihrer Verordnungspraxis unter. Zu letzteren zählt offenbar die Autorin. Als erstes in ihrem Buch benennt sie eine Reihe von psychischen Problemen (Störungen), wie sie im psychiatrischen Diagnoseklassifikationssystem "ICD 10" gelistet sind. Ausgerechnet dieses Buch empfiehlt sie als einziges Psychiatriebuch, das weiterhelfe. Entsprechend sieht sie die Ursachen psychischer Probleme in einem Ineinandergreifen von Umweltfaktoren und Veränderungen im Neurotransmittersystem. Dann listet sie erst mal synthetische Psychopharmaka auf; für viele Menschen mit schweren psychischen Störungen seien sie ein Segen, auch bei mittelschweren Störungen seien sie sinnvoll. Hinweise auf die erhebliche Frühsterblichkeit bei Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, an der Neuroleptika nicht unbeteiligt sind, fehlen. Neuere, sog. atypische Neuroleptika, seien zudem wesentlich besser verträglich als die herkömmlichen. Unerwünschte Wirkungen könnten in zunehmendem Maße umgangen werden, da diese Substanzen gezielter wirken würden. Worin deren gezieltere Wirkung besteht, vergaß die Autorin leider zu erwähnen. Dass Neuroleptika nicht abhängig machen, ist eine weitere typische mainstreamkonforme (Fehl-) Information der Autorin. Auch Antidepressiva würden "normalerweise" nicht abhängig machen, unerwünschte Wirkungen würden meist im Laufe der Behandlung abklingen. So steht es auch in den Werbung für Antidepressiva. Dem Kapitel über synthetische Psychopharmaka folgt eine Darstellung psychotherapeutischer Verfahren, und endlich, Seite 33, beginnt sie mit der Auflistung von Heilpflanzen wie Baldrian, Echtes Eisenkraut, Engelwurz, Ginkgo, Hafer, Hopfen u.v.m. jeweils mit Infos zur Herkunft, den verwendeten Pflanzenteilen, dem Haupteinsatzgebiet, der Wirkung auf Psyche und Körper, unerwünschten Wirkungen, Kontraindikationen und Darreichungsformen. Es folgen exotische Pflanzen, Bachblüten, Heilreisen, und zuletzt benennt die Autorin psychische Symptome und mögliche naturheilkundliche Herangehensweisen zu ihrer Linderung und Überwindung. Unter dem Stichwort "Depressive Verstimmung" lese ich, man solle zum Arzt, wenn der Zustand über zwei Wochen anhalte, dabei fällt mir die kürzlich erfolgte Änderung in der Diagnosefibel "DSM-5" ein (durch Einfluss der Pharmaindustrie wurde die Frist einer akzeptablen Trauer bzw. Depression beispielsweise nach einem Todesfall auf zwei Wochen reduziert, dann wird die Trauer zur absatzträchtigen Störung bzw. Krankheit), und ich sehe mich jetzt endgültig außerstande, das Buch von Frau Siewert wenigstens mit Einschränkungen zu empfehlen. Wer weniger abträgliche Informationen zum Thema sucht, findet sie zum Beispiel in "Alternative Heilmittel für die Seele" von Günter Harnisch (Schlütersche Verlagsgesellschaft). Rezension im BPE-Rundbrief. Klappenbroschur, 127 Seiten, ca. 55 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-8338-4562-8. München: Gräfe & Unzer Verlag 2015. € 12.99
Peter Lehmann

Fritz Simon: Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Zur Selbstorganisation der Verrücktheit
Der Autor ist Psychiater, Psychoanalytiker und einer der Gründer des Heidelberger Instituts für systemische Forschung, Therapie und Beratung. Mit einer psychiatriekritischen Haltung bringt er, so der Klappentext des Buches, »... eine erste umfassende Ordnung in das sich stürmisch entwickelnde Feld der systemischen Theorie und Therapie.« Kapitelüberschriften, die für sich selbst sprechen: Das Modell der Selbstorganisation; Die Rolle des Beobachters; Menschliche Kommunikation; Verrücktes Denken; Unterschiede, die Unterschiede machen; Verrückte Kommunikation; Die Funktion der Gefühle; Verrücktes Fühlen; Der Prozess der Individuation; Familiäre Wirklichkeiten; Chaos und Ordnung – Ein formales Modell der Entwicklung von Normalität und Verrücktheit; Wenn das Weltbild nicht zur Welt passt – Erkenntnistheoretische Irrtümer und Fallen. Kart., 295 S., 31 Abb., 4., korr. Aufl., Heidelberg: Carl Auer Verlag 1993. DM 39.80
Peter Lehmann

Rainer Sobota: Leitfaden Persönliches Budget
Das Buch ist herausgegeben vom BdB (Bundesverband der Berufsbetreuer/-innen) e.V., führt – aus der Sicht von Betreuern – in die Leitideen und Grundlagen des Persönlichen Budgets ein, thematisiert Antragshemmnisse und methodische Handlungsempfehlungen und liefert Vorlagen und Materialien für die Umsetzung der Budgetassistenz. Ein sinnvolles Buch für alle, die das Persönliche Budget wirksam nutzen wollen. Kartoniert, 94 Seiten, ISBN 978-3-86739-079-8. Köln: BALANCE Buch + Medien Verlag 2012. € 19.95
Peter Lehmann

Linda Solanki: Verdammter Paul
Dem Schweizer Zytglogge-Verlag gilt das Buch als "süffiger Coming-of-Age-Roman". Früher sagte man Entwicklungsroman zu einer fiktiven Geschichte, die die Entwicklung des Menschen von der Kindheit hin zum Erwachsensein zum Inhalt hat. Linda Solanki, Kolumnistin der Gratiszeitung Blick am Abend, beschreibt das Leben des 20jährigen Sebastian. Paul McCartney singt immer wieder die Zeile "Hey Jude, don't make it bad" aus dem Beatles-Songs "Hey Jude" in Sebastians Kopf. Vermutlich stellt sie sich Stimmenhören so vor. Sebastians Leben ist bestimmt durch Drogen, Verfolgungsängste, Halluzinationen, Ablehnung psychiatrischer Behandlung, Obdachlosigkeit, Suppenküche, unkontrollierte Ausbrüche u.v.m. Gleichzeitig erzählt die Autorin rückblickend Sebastians Kindheit und Jugend: sensibles Gemüt, fehlender Vater, lieblose Mutter, Mobbing- und Gewalterfahrung in der Schule, Energydrinks und erste Anzeichen einer beginnenden "Schizophrenie" die stärker wird, als Sebastians Großvater stirbt. In einem späteren Interview sagt sie, einer ihrer Verwandten sei Arzt, ein anderer Psychiater, beide hätten ihr Manuskript gegengelesen, "damit die Fakten stimmen". Es handelt sich also um einen Roman, der der herrschenden psychiatrischen Weltsicht folgt. Die Sprache klingt teilweise recht klischeehaft und hölzern (Beispiele: "Ich konsumiere das erworbene Suchtmittel noch auf der Tanzfläche." / "Eines Tages entschied ich, meine Dynamik wiederzuholen."). Ich wundere mich, dass ein Verlagslektor solche Formulierungen durchgehen lässt. Gebunden mit Schutzeinschlag, 202 Seiten, ISBN 978-3-7296-0927-3. Basel: Zytglogge Verlag 2016. € 32.–
Peter Lehmann

Andrew Solomon: Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression
Meine bevorzugte Methode, ein Buch zum Thema Depression einzuschätzen, ist der Blick darauf, was der Autor zum Elektroschock sagt. O-Ton Solomon: "... die Elektrokrampftherapie schient jedoch in fünfundsiebzig bis neunzig Prozent der Fälle Maßgebliches zu bewirken. Etwas die Hälfte derer, bei denen sie eine Besserung herbeiführt, fühlen sich auch noch ein Jahr später gut, während andere die Behandlung wiederholt oder sogar regelmäßig benötigen. Der Eingriff wirkt rasch. Vielen Patienten geht es schon nach wenigen Tagen deutlich besser: ein großer Vorteil gegenüber dem langwierigen Verfahren der Medikation. Besonders gut eignen sich Elektrokrampftherapien für akut selbstmordgefährdete Patienten – die sich häufig selbst verletzen, also dringend schneller Hilfe bedürfen..." Wenn sich Solomon dafür entscheidet, dass es besser sei, depressiven Menschen Stromschläge durchs Gehirn zu jagen, vorsätzliche epileptische Anfälle auszulösen und unspezifische Hirnverletzungen herbeizuführen, dann sinkt bei mir die Lust, auch nur einen Satz weiterzulesen, und ich entscheide mich, das Buch umgehend dahin zu befördern, wohin es gehört: in die Ramschkiste. Geb., 576 S., ISBN 3-10-070402-9. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2001. € 24.90
Peter Lehmann

Sozialhilfe SGB XII / Grundsicherung für Arbeitssuchende SGB II. Textausgabe mit Inhaltsverzeichnis
Mit dem Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch, das zum 1. Januar 2005 in Kraft treten wird, wird das Sozialhilferecht reformiert und zugleich in das Sozialgesetzbuch als dessen Zwölftes Buch eingeordnet. Parallel zum neuen SGB XII wird das künftige SGB II in Kraft treten. Dieses wird die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfeempfänger zum so genannten Arbeitslosengeld II zusammenführen. Wie eine Sprecherin des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit am 12. April .2004 in Berlin bestätigte, werden am 1. Januar 2005 einen rund 500.000 der knapp 2,2 Millionen BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe am jegliche Arbeitslosenunterstützung verlieren. Die Zahl entspreche den Berechnungen der Arbeitsgruppe "Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe" der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen, erläuterte die Sprecherin. Die Kommission hatte die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe vorbereitet. Danach werde bei etwa 23% der Betroffenen das Haushaltseinkommen wegen des Einkommens weiterer Familienangehöriger über der Sozialhilfegrenze liegen. Damit entfalle der Anspruch auf das Arbeitslosengeld II. Nach einem dem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung entfällt in Ostdeutschland sogar für 31% der Langzeitarbeitslosen der Anspruch auf das Arbeitslosengeld II. Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird mit Beginn 2005 an Langzeitarbeitslose das Arbeitslosengeld II ausgezahlt. Dieses liegt auf Höhe der Sozialhilfe. Die Textausgabe mit Inhaltsverzeichnis nach Paragraphen- und Seitenangaben enthält die aktuellen Vorschriftentexte des SGB XII und des SGB II (Stand 1. Januar 2004) als schnelle Orientierung für Sozialämter, Jugendämter, Job-Center in Gemeinden, Städten und Landkreisen. Übersichtlich, nicht ganz preiswert, aber nötig für alle, die sich vorab informieren wollen, was im Einzelnen auf sie zukommt. Kartoniert, 88 Seiten, ISBN 3-415-03305-8. Stuttgart: Boorberg Verlag 2004. € 8.–
Peter Lehmann

Helmut F. Späte / Klaus-Rüdiger Otto: Irre irren nicht
Helmut Späte, bis 1984 Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Bernburg und dann bis 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat gemeinsam mit seinem Kollegen Klaus-Rüdiger Otto, ab 1975 Chefarzt der Psychiatrischen Klinik im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Bernburg und seit 1981 niedergelassener Nervenarzt in Potsdam, ein Buch über die Geschichte der DDR-Psychiatrie inklusive Dokumentation von Reformbestrebungen verfasst. Das Buch enthält außerdem Auszüge aus Psychiatrieakten und Beschwerdebriefe und -aktionen Psychiatriebetroffener hinsichtlich menschenverachtender Zustände in den psychiatrischen Kliniken. Der Verlag Ille & Riemer bewirbt das Buch, es sei »eine kritische Liebeserklärung an die Psychiatrie und die von ihr Betroffenen«. Zum Glück ist von dieser Liebeserklärung an eine Psychiatrie voller Menschenrechtsverletzungen im Buch nichts zu spüren. Welchen Teufel den Verlag geritten haben mag, derart gedankenlos für das Buch zu werben, ist nicht nachvollziehbar. Sei's drum, das Buch enthält viele Dokumente darüber, wie – parallel zur Psychiatrie-Enquete in der BRD und in Kenntnis kritischer Schriften, beispielsweise »Asyle« von Irving Goffman oder »Irrenhäuser – Kranke klagen an« von Frank Fischer – Psychiater in der DDR versucht haben, das Psychiatriesystem zu reformieren. Dies zeigen die wiedergegebenen »Rodewischer Thesen« (1963), die »Neun Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« (1974) und die »Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« (1976) . Dass die Ausgangsbedingungen für Psychiatrie-Reformen in einem stalinistischen System der DDR ungleich schlechter waren als die im kapitalistischen System der BRD, versteht sich von selbst. Diese für das Verständnis der DDR-Psychiatrie und nach der Wiedervereinigung weiterhin wirksamen Reformbestrebungen nehmen ungefähr die Hälfte des Buches ein. In der anderen Hälfte finden wir jede Menge Dokumente resistenter Psychiatriebetroffener, die sich in Briefen an die Obrigkeit, den Staatsrat, Walter Ulbricht, die behandelnden Psychiater beschwerten und die Eingang in die Psychiatrie-Akten fanden, beispielsweise: »Und dann geschah mit mir etwas Grausiges. Ich bekam Elektroschocks (ich glaube 6 mal). Die Bewusstlosigkeit oder das Einschlafen war nicht schlimm, man merkte nichts. Aber das Aufwachen. Man fand sich selbst nicht mehr zusammen. Die Gedanken gehorchten nicht. Außerdem hatte ich als junges Mädel mal Menschen gesehen, die geschockt waren. Herr Dr. Späte, man schleppte mich jedes Mal wie zur Schlachtbank. Ich kann das nicht vergessen.« Eine Betroffene schrieb Herrn Späte: »Hoffe sehr, dass es Ihnen gesundheitlich gut geht. Das kann ich auch von mir sagen, es geht mir blendend ohne Medikamente. Muss Ihnen gestehen, dass ich keine einnehme. Ich bekomme von denen Verhaltensstörungen und ich bin dann so weltfremd. Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mich entlassen haben.« Wie den vielen zitierten Aussagen und den Berichten zu entnehmen ist, wurden in der DDR die Betroffenen wurden in vergleichbarer Weise zusammengespritzt, geschockt, gedemütigt, und sie wehrten sich im Rahmen der DDR-spezifischen Möglichkeiten. Den beiden Autoren ist zu verdanken, dass das heute gelegentlich aufscheinende Bild der obrigkeitshörigen oder angepassten Patientinnen und Patienten in der ehemaligen DDR nachhaltig zurecht gerückt wird. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 204 Seiten, ISBN 978-3-936308-08-2. Leipzig / Weißenfels: Verlag Ille & Riemer, 4. Auflage 2013 (Originalausgabe 2010). € 19.95
Peter Lehmann

Brigitte Speck: Zappelphilipp – Hyperaktive Kinder richtig ernähren
Ein schön aufgemachtes Kochbuch mit Fotos, die Appetit machen, und Vollwert-Gerichten, die nicht nur Kindern schmecken: Brotaufstriche, Vegetarisches, Hauptgerichte mit Fleisch oder Fisch, Desserts und Gebäck. In einer kurzen Einführung wird eine Umstellung der Ernährung – Verzicht auf Zucker, Milch etc., Einführung von Dinkel, Nüssen etc. – erläutert, knapp, übersichtlich und undogmatisch. Ein 2-Wochen-Menüplan lädt dazu ein, mit dem praktischen Teil zu beginnen. Gebunden, 96 Seiten, 84 farbige Fotos, ISBN 3-935407-13-0. Weil der Stadt: NaturaViva Verlags GmbH 2003. € 17.90
Kerstin Kempker

Kai Spiegelhalder / Jutta Backhaus / Dieter Riemann: Schlafstörungen
Da Schlafstörungen schon so manchen in den Wahnsinn oder die Psychiaterpraxis getrieben haben, sind Bücher zur Linderung und zum Verständnis von Schlafstörungen für Psychiatriebetroffene extrem wichtig. Das vorliegende, für Profis geschriebene Buch beschreibt die vielen unterschiedlichen Formen und Ursachen von Schlafstörungen, wozu auch "Neben"-Wirkungen diverser Psychopharmakagruppen zählen. Aus unerfindlichen Gründen werden Neuroleptika als Verursacher von Schlafstörungen nicht erwähnt, obwohl diese laut "Rote Liste" bei vielen Vertretern dieser Substanzgruppe auftreten können. Es folgen Erläuterungen zur Physiologie des Schlafes, dann wendet sich die Autorengruppe den Behandlungsmöglichkeiten zu, sowohl synthetischen als auch naturheilkundlichen Psychopharmaka. Dabei wird vor einer sich möglicherweise entwickelnden Abhängigkeit von Benzodiazepinen gewarnt, eine mögliche Abhängigkeit von Antidepressiva allerdings in Abrede gestellt. Nichtsdestotrotz favorisiert die Autorengruppe kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden (Stimuluskontrolle, Schlafrestriktion, Gedankenstopp, Schlafhygiene usw.) sowie progressive Muskelentspannung und weitere Entspannungstechniken. Im anschließenden Vergleich weist die Autorengruppe nach, dass therapeutischer Verfahren langfristig wirksamer sind als das Einwerfen von Pillen. Eine Anleitung zur progressiven Muskelentspannung, der Pittsburgher Schlafqualitätsindex, womit man seine Schlafqualität ermitteln kann, samt Auswertungsbogen sowie eine Vorlage für ein Abend- und Morgenprotokoll schließen das Buch ab. Kartoniert, VI + 82 Seiten mit 2 Einsteckkarten (Checkliste und Kurzscreening Insomnie), ISBN 978-3-8017-2345-3. Göttingen: Hogrefe Verlag, 2., überarbeitete Auflage 2011. € 19.95
Peter Lehmann

Adelheid Margarete Staufenberg: Zur Psychoanalyse der ADHS – Manual und Katamnese
Dieses Fachbuch, eine Dissertation am Fachbereich I Humanwissenschaften der Uni Kassel bei den Gutachtern Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl, richtet sich an Kinderpsychotherapeuten, die Ritalin einigermaßen skeptisch gegenüberstehen, und beleuchtet die Schwierigkeiten, Notwendigkeiten und Möglichkeiten analytischer Kinderpsychotherapie in der Tradition der Freudschen Psychoanalyse bei der Behandlung von Kindern mit ADHS-Diagnose. Die Autorin geht ausgesprochen differenziert auf die Problematik der ADHS-Diagnose ein, diskutiert sowohl die Frage des kulturellen Hintergrunds wie auch das Spezifikum des gemutmaßten Krankheitswerts. Anschließend beschäftigt sie sich, illustriert anhand von Fallvignietten, mit psychoanalytischen Konzepten der ADHS-Problematik und kommt über das Manual der psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung von Kindern zu einem speziellen Fall, einem Jungen namens Alex, der im Verlauf von drei Jahren 210 Stunden Psychotherapie genoss und dessen motorischen Probleme nun beispielhaft psychoanalytisch gedeutet werden. Es geht unter anderem um die "ins Leere laufende Suche nach dem Vater und nach der Männlichkeit", die durch ein Übermaß an Bewegung kompensatorisch selbst befriedigt werde. Über die Treffsicherheit solcher Deutungen kann man sich wohl streiten, unzweifelhaft ist aber sicher die Tatsache, dass 210 Therapiestunden Zuwendung von Seiten einer engagierten Therapeutin über drei Jahre zweifelsohne bessere Ergebnis bringt als drei Jahre Verabreichung von Ritalin. Die abschließende Katamnesestudie weist die Wirksamkeit analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie bei ADHS nach und schließt einen Vergleich mit verhaltenstherapeutisch und ritalinbehandelter Kinder ein, um zum Schluss zu kommen, dass eine psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung von Kindern mit der Diagnose ADHS durchaus indiziert sein kann. Wie eingangs gesagt, es ist ein Fachbuch für Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Die Handvoll fremdsprachige Zitate sind nicht übersetzt, Englischkenntnisse werden offenbar vorausgesetzt. Jenseits dieses kleinen Mankos enthält das Buch eine wertvolle Fülle sorgfältig ausgearbeiteten Materials, um sich für die Diskussion mit Mainstreamtherapeuten, Kinderärzten und Kinderpsychiatern zu wappnen, wenn es um die Diskussion gehen sollte, ob ADHS-Kindern und Jugendlichen tendenziell eher Ritalin oder eher therapeutische Zuwendung verabreicht werden oder im Lauf der Therapie vielleicht bereits verordnetes Ritalin wieder abgesetzt werden soll. Kartoniert, 317 Seiten, ISBN 978-3-86099-696-6. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag 2011. € 29.90
Peter Lehmann

Elisabeth Stechl / Elisabeth Steinhagen-Thiessen / Catarina Knüvener: Demenz – mit dem Vergessen leben. Ein Ratgeber für Betroffene
Vielseitiger Ratgeber für Menschen mit Demenz im Frühstadium und für Angehörige mit Informationen über Demenz, die Probleme der Betroffenen und Angehörigen, illustriert an einer Vielzahl von Selbstaussagen. Mit (auf Deutschland begrenzten) Adressen von Beratungsstellen für Menschen mit Gedächtnisstörungen sowie von Gedächtnisambulanzen. 2008 rezensierte ich die erste Auflage und schrieb: "Störend ist einzig die einseitige Information über Psychopharmaka, wonach viele Menschen mit Unruhe und Depressionen die Einnahme psychiatrischer Medikamente 'als Erleichterung erleben'. Kein Wort zur katastrophal um sich greifenden psychopharmakologischen Ruhigstellung in Alteneinrichtungen, zu gefährlichen Arzneimittelreaktionen bei alten Menschen, zum psychopharmakologisch erhöhten Risiko von Altersverwirrtheit bei mangelnder Flüssigkeitszufuhr, zu altersbedingt veränderter Aufnahme und Verarbeitung psychopharmakologischer Substanzen im Körper, zu herabgesetzter Magen-Darm-Beweglichkeit, vermindertem Blutfluss, verminderter Magensäureproduktion, verminderter Rezeptordichte und herabgesetztem Dopamingehalt im Gehirn mit massiven Auswirkungen hinsichtlich einer drastisch erhöhten psychopharmakogenen Sterblichkeit. Es ist zu hoffen, dass der Mabuse-Verlag darauf dringt, dass diese eklatante Schwachstelle in einer nachfolgenden Auflage behoben wird." Ein Blick in die jetzt vorliegende 3. Auflage zeigt, dass der Appell vergeblich war. Informationen über die drastisch erhöhte Sterblichkeit besonders bei psychiatrischen Patientinnen und Patienten, die "Nebenwirkungs"-belastete Psychopharmaka meist in Kombinationen erhalten, wurden von den Autorinnen ignoriert. Völlig kritiklos preisen sie weiterhin Neuroleptika und Antidepressiva als hilfreich an. Kein Wort einer Warnung. Vorschlag: Der Ignoranz der Autorinnen angemessen begegnen, ihr Buch ignorieren. Kartoniert, 130 Seiten, ISBN 978-3-86321-299-5. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage 2015. € 19.95
Peter Lehmann

Benjamin Stein: Die Leinwand
Benjamin Steins Roman, in dem es um die Veränderlichkeit des Erinnerns geht, kann man wahlweise von hinten als auch von vorne lesen. In der Mitte treffen sich die Handlungsstränge der beiden Ich-Erzähler. Der eine ist der jüdisch-orthodoxe Psychoanalytiker Amnon Zichroni, der Minsky, einen angeblichen Überlebenden eines NS-Vernichtungslagers, dazu ermutigt, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Der andere ist der gleichfalls orthodox lebende Journalist Jan Wechsler, der Minskys Erinnerungen als gefälscht entlarvt. Egal wo man anfängt, die jeweils andere Darstellung wird eine völlig neue Sicht auf die Dinge werfen, Wahrheit erweist sich als bloße Frage des Standpunkts. Der Roman spielt vor dem Hintergrund des tatsächlich in den 1990er-Jahren stattgefundenen Skandals um Binjamin Wilkomirskis gefälschte KZ-Erinnerungen (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Binjamin_Wilkomirski). Im Kern geht es um die Unsicherheit von Identität und Erinnerung. Gelegentlich bricht des Autors Sinn für Unheimliches und Bizarres hinter der Fassade der Normalität durch, was den Roman zusätzlich lesenswert macht. Spannend, ungewöhnlich, lesenswert, und mit Ausführungen wie dieser über die herrschenden Wissenschaftlichen hier auch ausgesprochen kritisch: "So kurz ihr Bandmaß auch sein mag, sie vermessen alles. Es wird kategorisiert, sortiert, bewertet und in Tabellen gepresst. Und das scheint vernünftig und sehr sinnvoll und ganz im Sinne des Erkenntnisgewinns. Nur halten sie leider ihre ausschnitthaften Vermessungen für eine Kartographisierung des Universums und bestehen darauf, ihre Theorien als verbürgte Wahrheit zu betrachten, solange nicht eine neue Theorie daherkommt, der es gelingt, sich zur nächsten verbürgten Wahrheit aufzuschwingen." Denkt man hier nicht zuallererst an die Mainstreampsychiatrie mit ihren ständig neuen Nachweisen für die Ursachen von "Geisteskrankheiten", die sie in diesem Teil des Gehirns oder jener Gensequenz gefunden zu haben wähnt? Gebunden mit Schutzumschlag, 416 Seiten, ISBN 978-3-406-59841-8. München: C. H. Beck Verlag, 3. Auflage 2010. € 19.95
Peter Lehmann

Vera Stein: Diagnose "unzurechnungsfähig"
Rezension im BPE-Rundbrief . Rezension in Soziale Psychiatrie, 30. Jg. (2006), Nr. 3, S. 56-57

Vera Stein: Abwesenheitswelten. Meine Wege durch die Psychiatrie
Vera Stein (Pseudonym) ver-lebte 4 Jahre ihrer Jugend auf Geschlossenen Abteilungen. Trotz verheerender Neuroleptika-Auswirkungen (u.a. Sprachverlust) und ständigem Kampf zwischen Flucht, Zwang und Verzweiflung beobachtet sie ihre Umgebung ungeheuer scharf und oft liebevoll. Spannender, detailreicher und erschreckender Bericht aus dem Innern der Psychiatrie der 1970er-Jahre. 194 Seiten, 8 Abbildungen, Tübingen: Attempto Verlag 1993. DM 29.80. Sehr empfehlenswert!
Kerstin Kempker

Holger Steinberg: Kraepelin in Leipzig. Die Begegnung von Psychiatrie und Psychologie
Weshalb man den in der Verlagsvorschau angekündigten Untertitel »Beginn einer Sternstunde der Psychiatrie und Psychologie« verwarf, wird nicht erwähnt. Schade, hatte doch Emil Kraepelin, der laut Steinberg »zu den bedeutendsten historischen Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Psychiatrie« zählt, 1918 in seinem richtungsweisenden Aufsatz »100 Jahre Psychiatrie« den Gipfel der Psychiatrie förmlich herbeigeschrieben: »Ein unumschränkter Herrscher, der geleitet von unserem heutigen Wissen, rücksichtslos in die Lebensgewohnheiten der Menschen einzugreifen vermöchte, würde im Laufe weniger Jahrzehnte bestimmt eine entsprechende Abnahme des Irreseins erreichen können.« Sein Wunsch nach rücksichtslosem Vorgehen und »Abnahme des Irreseins« ging schon 15 Jahre später in Erfüllung. Das zu erleben war dem Psychiater nicht mehr vergönnt. Er starb 1926, also kann sich der Autor – so meint er wohl – um die Konsequenzen der Kraepelianischen Visionen herummogeln. Laut Steinberg wird Kraepelin »allgemein als Begründer der modernen klinischen Psychiatrie betrachtet«. Steinberg zeichnet nach, wie dieser ein von seinen Kollegen freudig nachgeahmtes System diagnostischer Schubladen entwickelte. Um diese Schreibtischarbeit ungestört vollziehen zu können, verabreichte Kraepelin »seinen Patienten« vorzugsweise Schlafmittel und steckte sie ins Bett (»Alle frisch Erkrankten gehören zunächst und unter Umständen für längere Zeit ins Bett«) oder in abgedeckte Badewannen, durchaus über mehrere Tage. Hierzu hätte der Rezensent gerne wenigstens die Spur einer kritischen Bemerkung gelesen. Doch dass Kraepelin die Behandelten unendlich gequält haben könnte, kommt dem Autor offenbar nicht in den Sinn – handelt es sich bei den Behandelten doch lediglich um »Fälle«, so die Begrifflichkeit des Psychiatrieverlagsbuches. Menschen kommen in dem Buch aber auch vor: Kraepelins Lehrer, Kollegen, Schüler. Viel erfährt man über Kraepelins Drang, als Psychiater Karriere zu machen, und darüber, welche Briefe er diesem und jenem Kollegen geschrieben hat. Der Archivar Steinberg hat sie aus Archiven ausgegraben und zitiert daraus. Darin, dass dies interessant sein soll, kann ich dem Autor leider nicht folgen. Wo laut neuem Untertitel »die Psychologie« denn nun »der Psychiatrie« begegnet ist, hat Steinberg vergessen zu erwähnen. Oder meint er die »Genialität« des Emil Kraepelin, welcher das Unbegreifliche – die Psyche verrückter, andersartiger Menschen – mit einem Verzeichnis von Fachbegriffen bewältigt habe? Ein Autor, der dies als Leistung anpreist, hat nicht begriffen, welches Leiden auf Seiten von Psychiatriebetroffenen geschaffen und verstärkt wird, wenn sie in Krisen diagnostiziert und ruhiggestellt werden statt Verständnis oder zumindest Beistand zu erhalten. So kann das Urteil des Rezensenten zu Steinbergs seelenlosem und inhaltlich seichtem Buch nur lauten: mangelhaft. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, ISBN 3-88414-300-X, 381 S., Bonn: Psychiatrieverlag 2001. DM 49.80
Peter Lehmann

Inge Stephan: Die Gründerinnen der Psychoanalyse. Eine Entmythologisierung Sigmund Freuds in zwölf Frauenportraits
Die Autorin, Professorin am Literaturwissenschaftlichen Institut der Uni Hamburg, gruppiert zwölf Opfer oder Gefolgsfrauen um ›Meister‹ Freud: Martha Bernays, Bertha Pappenheim, Emma Beckstein, Sabina Spielrein, Hermine Hug-Hellmuth, Lou Andreas-Salomé, Marie Bonaparte, Hilda Doolittle, Helene Deutsch, Karen Horney, Melanie Klein, Anna Freud. Ob der Anspruch der Entmythologisierung damit eingelöst ist? Geb., 334 S., 60 Abb., Stuttgart: Kreuz Verlag 1992. DM 39.80
Peter Lehmann

Thomas Stompe / Hans Schanda (Hg.): Schizophrenie und Gewalt
Schizophrenie sei die psychische Erkrankung, die in der Bevölkerung am häufigsten mit dem Thema Gewalt assoziiert werde, schreibt der Herausgeber Thomas Stompe von der medizinischen Universitätsklinik Wien. Allerdings sei die Tatsache weniger präsent, dass Mitglieder dieser Personengruppe häufiger Opfer der Aggression Dritter werden. (Der Tatsache gegenüber, dass der eigene psychiatrische Berufsstand Gewalt gegen Menschen mit der Diagnose "Schizophrenie" verübt, sind die Autoren blind.) Es gehe darum, die kleine Hochrisikogruppe zu erkennen und "einer angemessenen Behandlung zuzuführen", so Stompe. Diesem Thema sind die diversen Buchbeiträge gewidmet. Gewidmet ist das Buch auch dem Mitherausgeber Hans Schanda aus Wien zu dessen Abschied aus dem Berufsleben. Im längsten Kapitel des Buches darf dieser noch einmal so richtig vom Leder ziehen und die Richter des deutschen Bundesgerichtshofs als ahnungslose medizinische Laien und Anhänger überkommener antipsychiatrischer Vorurteile beschimpfen, da sie in ihrem Urteil von 2011 die Zwangsverabreichung von Neuroleptika an forensisch Untergebrachte erschwert hätten. Im gleichen Tonfall versucht Schanda, den UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Juan Méndez, ins Lächerliche zu ziehen, da sich dieser gegen jegliche psychiatrische Zwangsbehandlung ausgesprochen hatte. – Der forensische Psychiater Norbert Nedopil aus München und Kolleginnen berichten in ihrem Beitrag, die Diagnose Schizophrenie stelle zwar einen Risikofaktor für Gewalthandlungen dar, allerdings sei das Risiko derart diagnostizierter Straftäter, nach der Entlassung aus der Forensik eine erneute Gewalttat zu verüben, durch konsequente Betreuung (vermutlich meint er überwachte Verabreichung von Neuroleptika auf Dauer) deutlich niedriger als bei sog. nichtschizophrenen Patienten. Diese Maßnahme möchte das Autorenteam gerne als Modell für alle Menschen mit der Diagnose Schizophrenie ansehen, die aus der Klinik entlassen werden. – Andere Kapitel handeln von "Schizophrenie und Suizid", "Das Verschwinden der Kranken aus den Behandlungskontexten", "Prädiktoren für Gewaltdelikte bei Schizophrenie" und " Tatmerkmale der Tötungsdelikte von Patienten mit Schizophrenie", doch irgendwie ist mir inzwischen das Interesse am Buch abhanden gekommen. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 184 Seiten, 38 Tabellen und Abbildungen, ISBN 978-3-95466-375-0. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2018. € 39.95
Peter Lehmann

Tina Stöckle: Die Irren-Offensive – Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieüberlebenden
Wege entstehen beim Gehen. Bei Tina Stöckles Buch handelt es sich um einen Klassiker der Recovery und Empowerment Bewegung. Unter dem ironisch-kritischen Namen Irren-Offensive hatte sich 1980 in Berlin eine Gruppe von Psychiatriebetroffenen zusammengeschlossen, die sich vor allem durch ihre radikale Ablehnung der Anstaltspsychiatrie auszeichnete: Selbsthilfe und Selbstverständigung gingen hier Hand in Hand mit dem Willen, sich politisch vernehmbar zu machen. Das musste auch bedeuten, die eigenen Ängste, die Scham vor weiterer Stigmatisierung zu überwinden und mit eigener Stimme in der Öffentlichkeit aufzutreten, um die Misshandlungen der Anstaltspsychiatrie anzuklagen und Abhilfe einzufordern. Wer auf so radikale Weise gegen massive gesellschaftlichen Widerstände einen neuen Weg bahnen will, braucht nicht nur irre viel Power, sondern muss sich auch innere Räume erschließen. Räume, in denen die eigene, nicht kontaminierte Sprache, ein eigenes Selbstbewusstsein sich entwickeln können. Die Untersuchung von Tina Stöckle – die sich selbst seit 1980 intensiv am Aufbau der Irrenoffensive beteiligt hat – arbeitet mit viel Sensibilität an dieser Selbst-Artikulation, die nicht nur ein Prozess nach Innen ist, sondern notwendig immer auch Abwehr von Fremdzuschreibung und Verobjektivierung durch psychiatrische oder andere gesellschaftliche Institutionen. Der Autorin gelingt es, die Probleme beim Aufbau der Irren-Offensive sehr genau zu beschreiben und zu analysieren. Der schwierigen Frage, wie die Prozesse innerhalb der Initiative darzustellen wären, ohne das diese Beschreibung selbst zu einer verobjektivierenden Kraft würde und den "Professionellen" unfreiwillig neues Material lieferte, dieser Frage begegnet sie, indem sie ihre Aussagen und Forschungsergebnisse ganz bewusst innerhalb der Initiative diskutiert und die Ergebnisse dieser Diskussion in die Arbeit selbst einfließen lässt. Damit hat Tina Stöckle in ihrer Pilot-Arbeit Grundlagen der nutzerkontrollierten Forschung geschaffen, die noch heute Gültigkeit beanspruchen können. Dieses Buch ist ein Lehrbuch zur Solidarität und Empowerment, jenseits jeder modischen Vereinnahmung, und meine große Empfehlung. Kartoniert, VIII + 300 Seiten, 36 Abbildungen, Faksimiles, ISBN 978-3-925931-33-8. Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Neuausgabe 2005 (erweiterter Nachdruck der Originalausgabe). € 23.90
Benjamin Sage

Philomena Strasser: Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder
Die österreichische Psychologin und Therapeutin Philomena Strasser widmet sich in ihrem Buch »Kinder legen Zeugnis ab – Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder« einem ebenso wichtigen wie vernachlässigten Thema. Wie erleben und verarbeiten Kinder die Gewalt ihrer Väter gegen ihre Mütter? Die Autorin, die zehn Jahre im Frauenhaus gearbeitet hat, befragte Kinder, Jugendliche und ihre Mütter, die in österreichischen autonomen Frauenhäusern Zuflucht gefunden hatten. Eingebettet in eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen familiärer Gewalt untersucht sie die vielschichtige Bedeutung der ZeugInnenschaft von Gewalt für die Kinder. Philomena Strasser ist es gelungen, eine äußerst fundierte feministische Forschungsarbeit in einer Sprache zu verfassen, die durch Klarheit und Wärme beeindruckt. Sie gibt den Kindern, ihren Aussagen und Bildern den Raum, den sie in ihrem Leben wie in der Literatur nie hatten. Kartoniert, 310 Seiten, 11 farbige und 31 Schwarz-Weiß-Zeichnungen, ISBN 3-7065-1453-2. Innsbruck / Wien / München: Studien-Verlag 2001. € 29.90
Kerstin Kempker

Gerhard Strate: Der Fall Mollath – Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie
Alles über den "Fall Gustl Mollath" und die bezeichnenden Praktiken von Psychiatrie und Justiz, mit Esprit, Akribie, Witz und Engagement verfasst von Gustl Mollaths Verteidiger von 2012 bis 2014, der im Wiederaufnahmeverfahren am Landgericht Regensburg für Mollaths Freispruch sorgte. Präzise und in klaren Worten zeigt der berühmte Strafverteidiger auf, wie Mollath mit konstruierten Beweisen psychiatrisiert wurde, welche Schande das Unterbringungsurteil ("Justizmord") des Landgerichts Nürnberg-Fürth 2006 für den Rechtsstaat darstellt – auch und besonders für die forensische Psychiatrie, die, so Strates Worte, "mit einer omnipotenten Weltsicht jede Regung des Andersseins als 'Auffälligkeit' registriert und zu jeder Einflüsterung von Krankheitsbildern in die Ohren vorurteilsstarker Richter bereit ist." Eingeflossen in Strates brillante justizhistorische Dokumentation sind Reflexionen über das deutsche Justizsystem, seine Verfassungsbrüche, seine Rechtsbeugungen und ihre Gehilfen, insbesondere die psychiatrischen "Sachverständigen". Das Buch ist ein Glücksfall: Ein Fachmann, der alle Fakten und Beteiligten kennt, nennt diese beim Namen und zeigt anhand der Aktenlage mit jeweils kurzen Verweisen auf die Rechtslage detailliert und nachvollziehbar die Lügen der Beteiligten auf, ihre Rechtsbeugungen und Betrügereien, ihre sprachlichen Tricksereien mit sich wissenschaftlich gebenden Diagnosen, ihre Omnipotenzfantasien und ihren "Pathologisierungswahn". Und wie angesichts der geplanten Zwangsbehandlung wegen angeblicher Einwilligungsunfähigkeit das humane Vorgehen eines einzigen vernünftig gebliebenen Gutachters, des bayerischen Psychiaters Johann Simmerl, den Grundstein für Mollaths letztendliche Rettung legte. Ein absolut empfehlenswertes Buch. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzeinschlag, 271 Seiten, 1 farbige Abbildung, ISBN 978-3-280-05559-5. München: Verlag Orell Füssli 2015. € 19.95
Peter Lehmann

Susan Swedo / Henrietta Leonard: Alles nur psychisch? Die körperlichen Ursachen falsch diagnostizierter Beschwerden
Ein auf den ersten Blick interessantes Buch: Die Autorinnen, zwei US-Psychiaterinnen, beschreiben ausführlich psychische und zentralnervöse Veränderungen, die Folgen aller möglicher organischer Erkrankungen sein und leicht mit »psychischen Krankheiten« verwechselt werden können. Letztlich bleibt dies aber eher ein diagnostisches Problem für die Psychiater; für die Betroffenen gibt es häufig – wie gehabt – Psychopharmaka aller Art, nicht etwa naturheilpraktische Mittel, sondern Tranquilizer, Lithium, Neuroleptika und Antidepressiva, entsprechend dem Zeitgeist vorzugsweise Fluoxetin, bekannt unter den Handelsnamen Prozac und Fluctin. Auch Medikamente und Psychopharmaka als Verursacher von psychischen Problemen sind benannt; entsprechend der psychiatrischen Ideologie, wonach Antidepressiva und Neuroleptika vor allem heilen, klafft hier jedoch ein großes Loch der Desinformation. Depressionen beispielsweise als Auswirkungen von Neuroleptika – sie treten selbst nach psychiatrischen Aussagen immerhin in 2/3 aller Behandlungsfälle auf – werden ebenso unterschlagen wie paradoxe Wirkungen von Tranquilizern und Antidepressiva. Ein Buch, das zu folgenreichen Fehleinschätzungen konkreter Probleme führen kann. Geb., 344 S., Frankfurt/Main: Campus Verlag 1998. DM 48.–
Peter Lehmann

Thomas S. Szasz: Geisteskrankheit – ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens
Der Carl Auer Verlag hat die 1960 im amerikanischen Original erschienene Grundsatzkritik "The Myth of Mental Illness" des Psychiaters Thomas Szasz (1920-2012) an der moralischen und wissenschaftlichen Grundlage der Psychiatrie in neuer Übersetzung wiederaufgelegt. Szasz wendet sich in überzeugender Weise gegen den Glauben seiner Kollegen, dass das, was sie psychische Krankheiten nennen, diagnostizierbare gesundheitliche Störungen des Gehirns seien. Dass diese Behauptung auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiere, sei eine bloße Lüge, ein Irrtum oder ein naiver Rückgriff auf die somatische Prämisse der längst diskreditierten Theorie der Körpersäfte. Wegen einer nicht existierenden Krankheit nehme man vielen Menschen Freiheit und Eigenverantwortung, was eine schwere Verletzung grundlegender Menschenrechte sei. "Geisteskrankheiten" seien nicht medizinisch einzuordnen, sondern als begründete Verhaltensweisen in einem konkreten sozialen System anzusehen, somit höchstens moralische Probleme. Der Neuausgabe seines Buches hat Thomas Szasz ein Vorwort "Fünfzig Jahre nach The Myth of Mental Illness" vorangestellt, in dem er sich der Rezeption seines Buches widmet und in einem Unterkapitel einmal mehr dagegen verwehrt, als Antipsychiater bezeichnet zu werden. Dies ärgert ihn, er fühlt sich diffamiert, denn seine Sichtweise entspringe dem gesundem Menschenverstand, Antipsychiatrie dagegen sei nur eine neue Spielart der Psychiatrie mit neuen Zwangsmitteln. Antipsychiater seien dieselben Betrüger wie Psychiater, und ihm sei kein Antipsychiater bekannt, der das Prinzip, niemals Gewalt anzuwenden, beherzigen würde. Dass sich "die Antipsychiatrie" seit den 1960er-Jahren von einer eher akademisch orientierten Disziplin zu einer neuen, im wesentlichen von Psychiatriebetroffenen getragenen Bewegung entwickelte, in deren Mittelpunkt die Forderung nach nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten Alternativen zur Psychiatrie steht und nach Verzicht auf toxische Substanzen, dass es weltweit noch mehr psychiatriekritische Psychiater gibt als die beiden von ihm erwähnten (und verachteten) David Cooper und Ronald Laing, ist Thomas Szasz leider entgangen – kein Wunder, hat er sich die letzten Jahrzehnte weniger in nichtpsychiatrischen Alternativprojekten engagiert als vielmehr in seiner Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte, einer Untergruppe der Scientologen-Sekte. Aber trotz seiner obskuren Freunde, trotz seiner typisch amerikanischen Nabelschau und trotz seiner nicht minder typisch akademischen Ignoranz gegenüber nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten nichtpsychiatrischen Alternativen bleibt die Bedeutung seines Buches als zeitgeschichtliches Dokument erhalten. Das Buch ist – gerade auch angesichts der sich zunehmend ausbreitenden Neuromythologie – nach wie vor lesenswert, und daran ändert auch der exorbitante Preis nichts. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 331 Seiten, ISBN 978-3-89670-835-9. Heidelberg: Carl Auer Verlag 2013. € 44.–
Peter Lehmann

Thomas S. Szasz: Grausames Mitleid. Über die Aussonderung unerwünschter Menschen
Rezension siehe Infobutton
Kerstin Kempker

Szondi-Institut (Hg.): Sexualität, Macht, Geld. Ethische Fragen in der Psychotherapie
Das Szondi-Institut, Lehr- und Forschungsinstitut für Schicksalspsychologie und Allgemeine Tiefenpsychologie in Zürich, hat im November 1994 eine Tagung zum Missbrauch in Psychotherapien durchgeführt, die Referate finden sich in diesem Sammelband. Sie kreisen um die Themen: Ethische Verantwortung, Verführung, sexueller, finanzieller und Machtmissbrauch, Standesregeln und rechtliche Konsequenzen. Angenehm fand ich beim Lesen, dass die AutorInnen nicht nur Schicksals- und andere AnalytikerInnen sind, sondern auch Juristin, Seelsorger, Ärztin, Mitglied der Ethik-Standeskommission, Verhaltenstherapeuten, Mitarbeiterin des Nottelefons. Die KlientInnensicht fehlt allerdings wieder mal. Immerhin, es wird offen gesprochen, nicht nur über sexuellen Missbrauch, sondern auch über den sicher viel häufigeren Missbrauch der Macht. Regina Kesztler berät bei der Ärztegesellschaft Frauen nach ärztlichen Übergriffen. Sie beschreibt den ganz gewöhnlichen Missbrauch, so den narzisstischen: »Ein selbstunsicherer Therapeut wird nach Möglichkeit eine bestimmte Auswahl von Klienten treffen. Er wird fügsame, eher Ich-schwache Patienten vorziehen, welche ihm das Gefühl von Stärke und Überlegenheit vermitteln.« Oder: »Wohin gehört beispielsweise der Psychoanalytiker, welcher die Deutungen wie eine Waffe benutzt? Und wo wäre jene Körpertherapeutin zuzuordnen, welche eine junge Frau mit einer schweren Inzestproblematik mit dem Satz nötigte, weiterhin in die Therapie zu kommen: ›Das kennst du doch, wenn es schwierig wird, läufst du davon.‹« Es ist auch vom Geld die Rede, vom Rahmenvertrag, von der auf ihre Art missbrauchenden Analytikerin, von der Notwendigkeit einheitlicher Standesregeln und von rechtlichen Konsequenzen. Bezugsrahmen ist bei allem die Schweiz. Als bunter Einstieg in ein brisantes Thema eine lohnende Lektüre. Kart., 117 S., Schriftenreihe aus dem Szondi-Institut, 1995, Heft 3. DM 20.–
Kerstin Kempker

Richard Taylor: Alzheimer und Ich – »Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf«
Das Buch ist eine vehemente und mit viel Humor vorgetragene scharfsinnige Auseinandersetzung des Autoren mit seiner beginnenden Demenz und gleichzeitig eine zornige Abrechnung mit der bevormundenden und entwürdigenden Reaktion seiner Umwelt. Der Autor ist US-amerikanischer Psychologieprofessor, Kommunikationswissenschaftler, praktisch-klinischer und Organisationspsychologe, zuletzt Hochschullehrer, verheiratet, Vater und Großvater. Wie viele andere, wird ihm die Diagnose "beginnende Demenz" gestellt, basierend auf Alzheimer-Erkrankung. Zu diesem Zeitpunkt ist er 58 Jahre alt. Mit der Diagnose wird nichts mehr im Leben so sein wie zuvor. Auf für ihn beginnt ein neuer, angstbesetzter Lebensabschnitt, am Ende wartet die Dunkelheit. Doch so weit ist es noch lange nicht. Schreiben wird ihm die wichtigste Stütze, um die Veränderungen an sich selber zu beobachten und zu kontrollieren. Dabei wird der Prozess seiner Persönlichkeitsveränderungen und der unterschiedlichen Verluste überaus deutlich. Ausführlich referiert er über Symptome, Unsicherheiten bei der Diagnose, Ursachen, Wirkungen und Möglichkeiten bei der Behandlung und Begleitung. Taylor schreibt, kommuniziert und gewährt tiefe Einblicke in seine eigenen Erfahrungen, woraus sich viele Vorschläge für den Umgang mit Alzheimerbetroffenen ergeben, auch wenn sich die jeweilige Situation durchaus individuell unterschiedlich darstellen mag. Als grundsätzlich sinnvolles Verhalten erweist sich: zuhören, begleiten, vertrauen, den Menschen sehen und nicht den Symptomträger, sich Zeit nehmen, direkt und klar kommunizieren. Kartoniert, 261 Seiten, ISBN 978-3-456-84862-4. Bern: Hans Huber Verlag, 2., durchgesehene und ergänzte Auflage 2010. € 22.95
Peter Lehmann

Frauke Teegen: Wenn die Seele vereist – Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden
Die Autorin zeigt anschaulich und kompetent, was Menschen Schreckliches widerfährt, wie sie durch Unfälle, Katastrophen, Geiselnahme oder Vergewaltigung um Leib und Leben fürchten müssen, wie ihre Seele schwere Verletzungen – ein Trauma – erleidet. Albträume, Erinnerungsattacken, Konzentrationsstörungen, Depressionen sind häufig die Folgen. Wie entstehen traumatische Erfahrungen, wie erkennt man sie, was meint man für körperliche und neurobiologische Änderungen erkennen zu können, welche Wege können zur Linderung und Heilung führen? Anhand von eindrucksvollen Fallbeispielen – auch Prominenter wie Monika Seles oder Viktor Frankl – zeigt die Autorin, die an der Universität Hamburg Psychologie lehrt, wie selbst schwere Schicksalsschläge gut bewältigt werden können. Weshalb sie traumatische Erfahrungen durch psychiatrische Gewalt systematisch ausklammert, wo doch psychiatrische Maßnahmen, Antidepressiva incl., durchaus Thema ihres Buches sind, und bekanntermaßen insbesondere viele psychiatrisierte Frauen in der Psychiatrie traumatisierende Gewalt erfahren, die sie auf vergleichbare Weise (gewaltsames Entkleiden, gewaltsames Niederwerfen ins Bett, gewaltsame Manipulationen am Körper) in ihrer Kindheit und Jugend bei Missbrauchserfahrungen kennen lernen mussten, sagt die Autorin leider nicht. Vielleicht muss man darauf warten, dass ein Promi nachhaltig in die Mühlen der Zwangspsychiatrie gerät und ähnlich drastisch wie weiland Klaus Kinski berichtet. Neben vielen sinnvollen Maßnahmen empfiehlt die Autorin Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als unterstützend für die psychologische Traumatherapie: sie seien dafür zugelassen, wirksam und würden nur bei Jugendlichen das Suizidrisiko erhöhen. Dass diesen Substanzen – aufgrund ihrer gelegentlichen paradoxen Wirkung – auch bei Erwachsenen ein erhöhtes Suizidrisikos in sich tragen, ist leider ebenso wenig Thema im Buch wie das Risiko der Entwicklung einer Abhängigkeit von diesen synthetischen Antidepressiva. Mit drei Seiten Internet-Ressourcen. Gebunden, 318 Seiten, 5 Abbildungen, ISBN 978-3-7831-3041-6. Stuttgart: Kreuz Verlag 2008. € 19.95
Peter Lehmann

Margaret Thaler Singer / Janja Lalich: Sekten – Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können
Informationen über politische, spirituelle, okkultische, psychotherapeutische und sonstige Sekten – leider hauptsächlich nur US-amerikanische. Differenzierte Aussagen über Techniken der Anwerbung, der Beeinflussung und Persönlichkeitsveränderung, den Umgang mit Betroffenen und den Ausstieg sowie mögliche Entzugserscheinungen und therapeutische Hilfsmöglichkeiten. Mit vielen Adressen deutschsprachiger Sektenberatungsstellen. Kart., 407 S., Heidelberg: Carl Auer Verlag 1997. DM 58.–
Peter Lehmann

Peet Thesing: Feministische Psychiatriekritik
Peet Thesing – wer das ist, geht aus dem Buch nicht hervor – hat ein Buch über Psychiatrie aus feministisch-antipsychiatrischer Sicht geschrieben, so die eigene Standortbestimmung. Die Autorin verortet sich im Lager derer, die den Krankheitsbegriff in Frage stellen, ein Recht auf Wahnsinn postulieren sowie eine politische Analyse der Gesellschaft fordern. Neu ist das alles nicht. Es ist die alte Position der akademischen Antipsychiatrie und tut sich schwer, Erkenntnisse und Entwicklungen der humanistischen, betroffenenorientierten Antipsychiatrie zur Kenntnis zu nehmen und sich daran zu orientieren. Feministische Psychiatriekritik gibt es schon lange, eine herausragende Vertreterin ist die kanadische Sozialwissenschaftlerin Bonnie Burstow, die schon vor 30 Jahren gemeinsam mit dem Psychiatriebetroffenen Don Weitz das Buch »Shrink Resistance. The Struggle Against Psychiatry in Canada« herausgegeben und 1992 mit »Radical Feminist Therapy: Working in the Context of Violence« das erste feministische Buch über Psychotherapie mit eindeutiger antipsychiatrischer Ausrichtung geschrieben hat. Die Zusammenfassung erschien 1993 unter dem Titel »Ethischer Kodex feministischer Therapie« in »Statt Psychiatrie« im Antipsychiatrieverlag. Eine weitere, von Peet Thesing ebenso ignorierte Publikation ist »Frauen gegen Gewalt in Gesellschaft und Psychiatrie – Eine feministische Analyse psychiatriebetroffener Frauen«. Diese Philippika von sieben Frauen aus Kanada und den USA gegen die männlich dominierte Psychiatrie und Psychotherapie stammt aus dem Jahr 1983, auch in »Statt Psychiatrie« in deutscher Übersetzung publiziert. Wird die Autorin an der eigenen Forderung gemessen, Psychiatriebetroffenen zuzuhören (und vermutlich auch deren Aussagen ernst zu nehmen), stellt sich die Frage, wieso diese beiden von grundsätzlicher Bedeutung bestimmten Publikationen ignoriert wurden. Vielem in Peet Thesings Buch lässt sich zustimmen, beispielsweise der Kritik an der patriarchalisch ausgerichteten psychiatrischen Diagnostik und der Kritik an psychiatrischer Zwangsbehandlung. Doch, wie gesagt, hier wiederholt die Autorin nur, was andernorts schon 1000 mal gesagt ist. Elektroschocks, eine brutale psychiatrischen Maßnahme, die sich weltweit bevorzugt gegen Frauen richtet, kommt im Buch nur einmal als Wort ohne inhaltliche Aussage vor, die Kritik an Psychopharmaka konzentriert sich auf deren ruhigstellende Wirkung; abhängigkeits- und chronifizierungsfördernde Wirkungen sind ebenso wenig Thema wie die um zwei bis drei Jahrzehnte reduzierte Lebenserwartung von Menschen mit ernsten psychiatrischen Diagnosen. Dabei werden drei Viertel aller Psychopharmaka an Frauen verschrieben. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 82 S., ISBN 978-3-89771-2. Münster: Unrast-Verlag 2017. € 7.80
Peter Lehmann

Konrad Thome: Nährstoffe zum Über-Leben und ihre Bedeutung für Körper, Seele und Geist. Gesunde Ernährung für jeden – Das Bauchhirn als 2. Intelligenz – Orthomolekulare Medizin für psychisch Kranke und bei ADHS
"Nährstoffe sind sicherlich nicht alles, aber ein wichtiger Baustein im Überleben." Wer diesen Satz aus dem Vorwort des Heilpraktikers Konrad Thome beherzigt (und sein soziales Umfeld nicht außen vor lässt), für den ist das ausgesprochen informative Buch eine Fundgrube hinsichtlich verschiedenster Möglichkeiten, sein Leben auch über den Weg einer veränderten Ernährungsweise zu verändern, unter anderem mittels der sogenannten orthomolekularen Medizin, womit Mikronährstoffe wie Vitamine, Spurenelemente, Enzyme und dergleichen gemeint sind. Thome führt ein in die Fragen des Ernährungstyps, der beispielsweise bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten eine wichtige Rolle spielt, um anschließend die Grundprinzipien einer gesunden Ernährung und einzelne besonders gesunde Nahrungsmittel sowie die Wirkungsweise des "Bauchhirns" zu erläutern. Dies ist ein Nervengeflecht im Darm, das nicht nur für das Immunsystem, sondern auch die Psyche von Bedeutung ist. Im zweiten Teil des Buches geht Thome auf die Anwendung der orthomolekularen Medizin bei als psychisch krank oder aufmerksamkeitsgestört geltenden Menschen ein. Entsprechend der Tradition der orthomolekularen Medizin verwendet Thome den Krankheitsbegriff, er beruft sich auf das biochemische Psychosenverständnis Carl Pfeiffers, der die orthomolekulare Medizin wesentlich geprägt hat. Allerdings – und das macht Thomes Buch besonders wertvoll – entwickelt er seine alternativen Behandlungsvorschläge mit klarem Blick auf die Gefahren und Risiken psychiatrischer Psychopharmaka mit ihren speziellen Be- und Überlastungen der Entgiftungsorgane. Pflanzenheilkunde, Homöopathie, biochemische Maßnahmen nach Dr. Schüßler, Bachblütentherapie und natürlich orthomolekulare Medizin sind konsequenterweise Thomes Alternativen zu neurotoxischen psychiatrischen Psychopharmaka. Erfahrungsberichte und Adressen, wo man die empfohlenen Substanzen beziehen kann, schließen das Buch ab. Und nicht vergessen: Eingangs steht Thomes Anschrift incl. Festnetztelefonnummer für den Fall, dass man weitere Fragen an ihn hat. Kartoniert, 150 Seiten, 4 Abbildungen, 23 Tabellen, ISBN 978-3-921271-44-5. Kelkheim: Optimal-Verlag 2006. € 14.80
Peter Lehmann

Katharina Tillmann: Geht es dir zu gut? Bipolare Störungen und meine persönliche Lösungsstrategie
Die unter einem Pseudonym schreibende Autorin will mit ihrem Buch Vorurteile gegen "Psychisch Kranke" abbauen. Sie beschreibt ihre Vorstellungen von ihrer Krankheit, wie sie diese erlebt hat, welche unangenehmen Wirkungen Psychopharmaka bei ihr hatten, dass sie aber doch die Kooperation mit ihren behandelnden Ärzten gewählt hat, dass sie ein Phasenprophylaktikum zur Vorbeugung nimmt, dass es ihr wichtig ist, Frühwarnzeichen zu erkennen, um dann für ausreichenden Schlaf, Entspannung und Abstand von stressenden Situationen zu sorgen. So weit so gut, könnte man sagen. Dass sie aber ungebrochen von sich auf andere schließt, denen sie ebenfalls zur Einnahme von Psychopharmaka rät, und dass sie zuallerletzt auch noch Familienaufstellungen anpreist, in denen – unabhängig von ihren möglichen Verfehlungen – die Vorfahren auch noch geehrt werden müssen (was sehr nach Hellingerscher "Gehirnwäsche") klingt), ist allerdings weniger schön. "Es ist Zeit, einen Schritt weiter zu gehen. Mich einzulassen auf das Leben, mich zu öffnen", schreibt die Autorin am Ende. Dafür ist ihr alles Gute zu wünschen. Kartoniert, 48 Seiten, ISBN 978-3-902458-03-2. Selbstverlag 2008. Bestelladresse: katharina.tillmann[at]gmx.net. € 6.50
Peter Lehmann

Achim Tischer: Brauchen wir ein Mahnmal? Zur Erinnerung an die Psychiatrie im Nationalsozialismus in Bremen.
Beiträge von Dorothea Buck, Marie Luise Büssenschütt, Gerda Engelbracht, Hans Haack, Rainer Habel, Helmut Hafner, Helmut Haselbeck, Marikke Heinz-Hoek, Annelie Keil, Peter Kruckenberg, Via Lewandowsky, Raoul Marek, Frieder Schnock, Renata Stih, Yuji Taeoka, Timm Ulrichs, Katerina Vatsella und Christine Wischer. Das Buch dokumentiert eine seit über zehn Jahren in Bremen – und weit über die Stadtgrenzen hinaus reichende – öffentlich geführte Diskussion. Die Beiträge reflektieren aus der Perspektive von Betroffenen, von Kultur- und Gesundheitswissenschaft, Politik, Bildender Kunst sowie Psychiatrie den heutigen Umgang mit dem Massenmord der Psychiater unter den Freiräumen des Nationalsozialismus und die Frage nach den ehtischen Grenzen in der Medizin – damals wie heute. Mit dem Artikel »Die Tragödie der ›Euthanasie‹« von Dorothea Buck. Gebunden, 41 teilweise farbige Abbildungen, 141 Seiten, Bremen / Rostock: Edition Temmen 2000. DM 19.90
Peter Lehmann

Igor Tominschek / Günter Schiepek: Zwangsstörungen – Ein systemisch-integratives Behandlungskonzept
Buch über Therapiekonzepte zur Behandlung von Zwangsstörungen, welches verhaltenstherapeutische Interventionen mit systemischen Modellen und Techniken verbindet und psychologische und neurobiologische Erklärungsansätze zu verbinden versucht. Anhand von Fall-Beispielen wird der Stellenwert sozialer Beziehungen und der individuellen Biografie der Betroffenen für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Zwangsstörungen beleuchtet. Das Buch stellt zudem das Windacher Behandlungsmodell vor. Verhaltenstherapeutische und systemische Interventionen ermöglichen in diesem Modell sowohl eine Symptomreduktion als auch die Bearbeitung der Hintergründe der Problematik bei Patient und Angehörigen. Zahlreiche klinische Beispiele zeigen in den Augen der Autoren, wie systemische Techniken, z.B. bildliche Darstellung der Familiengeschichte mit jeweiligen Problemen der einzelnen Familienmitglieder ("Genogramme"), idiographische Systemmodellierung, Skulpturen, zusammen mit verhaltenstherapeutischen Techniken zu Synergieeffekten führen können. "Abschließend wird ein Ausblick auf die Möglichkeiten des computerbasierten Real-Time Monitorings von Therapieverläufen und dessen Stellenwert im Rahmen eines synergetischen Prozessmanagements gegeben." Dieser Schluss lässt einen leicht schaudern, ebenso wie der hier und da empfohlene Einsatz von Antidepressiva und Neuroleptika, möchte man doch eigentlich in der Psychotherapie eher mit Menschen zu tun haben als mit technologischen Herangehensweisen, Chemie und Computern. Kartoniert, VIII+164 Seiten, ISBN 978-3-8017-1888-6. Göttingen: Hogrefe Verlag 2007. € 24.95
Peter Lehmann

Dieter Trautmann: Endlich ohne Antidepressiva – Wie und wann du sie absetzt. Was du stattdessen tun kannst
Der Psychiater und Psychotherapeut Trautmann hat ein Buch über Maßnahmen gegen Depressionen geschrieben. Viel Platz nehmen die Seiten über Depressionen, psychotherapeutische und sonstige Maßnahmen ein (z.B. den inneren Schweinehund überwinden, Denkmuster verändern, Johanniskraut). Auch darüber, wer Antidepressiva "wirklich" braucht und was in seinen psychiatrischen Augen sinnvolle Dosierungen sind. Seine Meinung basiert auf einer über 30-jährigen Tätigkeit als Psychiater, seit 2006 in eigener Praxis, dort hantiert er mit Antidepressiva. Auch das Neuroleptikum Quetiapin (Handelsnamen Seroquel) empfiehlt er – als von vielen auch in höheren Dosierungen gut vertragenes Medikament, in der Regel recht problemlos abzusetzen, so der Autor. Hier könnte man das Buch gleich in die Ecke werfen, öffentlich gemachte Berichte über Entzugsprobleme bei Quetiapin ignoriert der Mann offenbar. Antidepressiva können schädlich sein, so Trautmann im vorderen Buchteil, wo er Vertrauen aufbauen will, durchgängig duzt er seine Leserschaft.
Es sei bequemer, Psychopharmaka zu schlucken, anstelle sich aktiv mit der eigenen Lebenssituation auseinanderzusetzen. All das ist nicht neu. Schon der Schweizer Psychotherapeut Josef Giger-Bütler hat sich in seinen vier im Beltz-Verlag erschienenen empfehlenswerten Büchern mit depressiven Reaktionsmustern, Wegen aus der ständigen Überforderung und der Anleitung zur Selbsthilfe beschäftigt. Ohne gleichzeitig Antidepressiva anzupreisen beschreibt er, wie der Ausstieg aus der Depression ohne diese Substanzen gelingt, und benennt die Schritte, anhand derer depressive Menschen wieder zu sich selbst finden und die Depression hinter sich lassen können.
Zurück zum Psychiater Trautmann: Schädlich können Antidepressiva seiner Meinung nach sein, wenn die "Nebenwirkungen" ganz im Vordergrund stünden. Offenbar passiert ihm dies selten, denn insbesondere die neuen Antidepressiva hätten bei den meisten Patienten relativ wenig unerwünschte Wirkungen. Sexualstörungen? Panikattacken? Suizidalität? Übelkeit? Blutdruckstörungen? Gibt es nicht in Trautmanns Seiten über Antidepressiva-Wirkungen. Man werfe besser einen Blick in die "Aufklärungsbögen Antidepressiva" einiger rheinland-pfälzischer Kliniken (siehe www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/pdf/aufklaerung-ad.pdf, dann weiß man sofort, was Trautmann alles unter den Tisch kehrt.
Ganz am Buchende, Seiten 161-168, kommt er zum Absetzen. Dabei drängt sich der Eindruck auf, dass er seit seiner Approbation keine Fachliteratur zu Toleranzbildung, Wirkungsverlust, Behandlungsresistenz und Supersensivitätsstörungen gelesen hat, die das Absetzen so schwer machen können. Behandlungsresistenz ist bei ihm bloße Wirkungslosigkeit von Antidepressiva, nicht aber die Gewöhnung des Körpers an ihre Wirkung. Dass diese Psychopharmaka körperlich abhängig machen können, bestreitet er vehement – ganz im Duktus der Pharmaindustrie. Wenn Probleme beim Absetzen auftauchen, sind dies einzig die ursprünglichen Probleme, die mit Antidepressiva unterdrückt waren und jetzt wieder zum Vorschein kommen. Oder man war zu schnell vorgegangen. Das war's. Lange anhaltende oder verzögert auftretende Entzugsprobleme? Maßnahmen gegen Entzugsprobleme – außer dem bekannten Vorschlag, zur vorherigen Stufe zurückzukehren und dann etwas langsamer zu reduzieren? Anhaltende Supersensivitätsstörungen im Nervensystem? Alles Fehlanzeige.
Zum Schluss noch etwas Freundliches zum Buch: Es enthält keinen Vorschlag, sich elektroschocken zu lassen. Immerhin. Man freut sich schon über kleine Dinge. Rezension im Newsletter Seelische Gesundheit. Kartoniert, 184 Seiten, 6 Abbildungen, ISBN 3-8426-4238-6. Hannover: Humboldt Verlag 2022. € 19.99
Peter Lehmann

Werner Tschan: Missbrauchtes Vertrauen – Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen und Folgen
Übersichtlich, nüchtern und knapp, aber keineswegs oberflächlich oder unparteiisch, führt der Autor – Schweizer Psychiater und Psychotherapeut – durch historische, juristische, psychologische und traumatologische Aspekte von "PSM", sexuellem Missbrauch in professionellen Abhängigkeitsverhältnissen. Ob im Krankenhaus, der Kirche, dem Militär, in der Therapie, dem Kinderheim oder dem Sportverein, im weiten Feld zwischen Belästigung und Vergewaltigung, wo die Grenzen gerne verwischt werden, helfen Klarheit und Differenzierung. Aus der Perspektive der Opfer schreibt der Autor und widmet sich dabei ebenso eingehend den Tätern, denn "Täterbehandlung ist Opferschutz". Kartoniert, XXII + 336 Seiten, 19 Abbildungen, ISBN 3-8055-7804-0. Basel usw.: Karger Verlag, 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2005. € 58.50
Kerstin Kempker

Christioph Türcke: Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft
Christoph Türcke zeigt als ein hervorragender Kenner des Nietzscheanischen Gesamtwerkes dessen Zwiespalt von Vernunft und Wahnsinn zugleich als sein identisches Streben. Das kann nach Nietzsche nur ein gewaltiger Kraftakt des Denkens gegen seine notwendige Krankheit, gegen seine sinnliche Herkunft sein. Die Vernunft müßte über ihren eigenen Schatten springen, um ihre Wahrheit im Wahnsinn zu erlangen, würde sie wirklich vollzogen. So aber bedeutet sie ihm die Beschränkung des Vermögens, als Mensch wahr zu sein, und zugleich die Unmöglichkeit des Menschen, vernünftig zu sein. Indem der Mensch "Gott abgeschafft" hat, hat er zugleich seine unendliche Widersinnigkeit bloßgelegt, die nur der Tolle, der Irre auf dem Marktplatz zu formulieren vermag, der dort am hellichten Tag mit einer Laterne umherläuft und ausruft: "Ich suche Gott! Ich suche Gott!" Die Gottessuche am Schauplatz des Alltags verschreckt das nüchterne Treiben in der Ernüchterung seines plakativen Atheismus: "Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?" Nietzsches Traum vom Übermenschen, der ewig geträumt sein muss wie ein Zwang zum Überleben des Menschlichen, ist die versuchte Menschwerdung Gottes in der Vernunft, die zugleich nur darin bestehen kann, dass viele Schwache die Stärke des Übermenschlichen nähren, wie sie auch seine Bedrohung darstellen. Denn nur das Schwache hat die Kenntnis der Lebenskräfte, die das Starke, einer Drohne gleich, in sich aufsaugt und für das Geistige und Schöne vertut. Das Nietzscheanische Dilemma ist das des bürgerlichen Individuums, das von seinen Besitztümern seine Enteignung zu fürchten hat. Der Wille zur Macht, zu dem es sich entschließt, ist zugleich seine Ohnmacht, seine morbide Antinomie, die Widersinnigkeit seiner Ästhetik, welche die Dichter und Denker von rechts bis links so fasziniert hat (z.B. Levi Strauss, Horkheimer, Foucault, Thomas Mann). Die solchermaßen verbliebene Radikalität des Bürgerlichen, welche sich auch im Zusammenbruch der bürgerlichen Werte äußert, verharrt jedoch nicht im Menschen als Schicksal – Faschisten finden in ihrem Staat allemal die Mittel, dem Willen zur Macht zu seiner vernichtenden Wirklichkeit zu verhelfen. So ist denn Nietzsche in der Tat der letzte Philosoph des Bürgertums, jener, der seine Identität auch wirklich und letztendlich zu formulieren versuchte und dem Fürchterlichsten diente, dem er zu widersprechen suchte: Dem "menschlich allzu Menschlichen" im Heilsversprechen des Vernichtungswillens, der dem Übermenschen inne wohnt. Kartoniert, 176 Seiten, Lüneburg: Zu Klampen Verlag, 3. Auflage 2003. € 14.–
Wolfram Pfreundschuh


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