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zuletzt aktualisiert am 27. November 2024
Ernst Pallenbach: Die stille
Sucht. Missbrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln
Ein Drittel aller Kosten in Gesundheitsbereich lassen sich direkt oder
indirekt auf Abhängigkeitserkrankungen zurückführen, so
Ernst Pallenbach, promovierter Pharmazeut und angestellter Apotheker an
Schwarzwald-Baar-Klinikum in Villingen-Schwenningen, unter Bezug auf eine
Bachelor-Arbeit von Sandra Neuhaus. Wichtig seien deshalb Möglichkeiten
der multidisziplinären Intervention und Prävention seitens medizinischem
und pharmazeutischem Personal, Lehrern, Erziehern, Beschäftigten
aus dem Personalmanagement und Angehörigen. Das ausgesprochen gut
lesbare Buch ist in drei Teile untergliedert: Einführung und Grundlagen;
Arzneimittelgruppen; Lebens- und Genussmittel und Partydrogen. In Teil
1 bespricht der Autor grundlegende Dinge, unter anderem Definitionen von
Sucht, Abhängigkeit und Missbrauch, Sucht bei Frauen, Sucht im Alter,
Sucht und Suizid. Der Begriff der Sucht sei von der WHO ersetzt worden
durch Abhängigkeit oder Missbrauch, um die mit dem Suchtbegriff einhergehenden
Stigmatisierungen der Betroffenen zu vermeiden. Dass die vereinigte Psychiaterschaft
die Existenz der Abhängigkeit vom Vorhandensein von Sucht abhängig
gemacht hat und gemäß dieser (willkürlichen) Definition
Substanzen wie Neuroleptika oder Antidepressiva trotz massivster Entzugsprobleme
auf dem Papier nicht mehr abhängig machen können (wer ist schon
süchtig nach Haloperidol, das in manchen Ländern als Foltermittel
verwendet wird?), diskutiert Pallenbach leider nicht. Klar kann man Medikamentenabhängige
nicht mehr stigmatisieren, wenn man die Medikamentenabhängigkeit
negiert. Gleichzeitig akzeptiert man damit jedoch, dass Patienten und
verschreibende Ärzte nicht vor dem Abhängigkeitsrisiko gewarnt
werden bzw. warnen, keinen Anspruch auf Rehamaßnahmen erwächst.
Im Falle von Antidepressiva und Neuroleptika ist dies fatal. Doch zurück
zum Aufbau des Buches und Teil 2, die Arzneimittelgruppen mit Abhängigkeitspotenzial.
Hier schreitet der Autor von Substanzgruppe zu Substanzgruppe voran, beschreibt
deren Wirkungsweise, Abhängigkeitspotenziale und missbräuchliche
Verwendungen: Schmerzmittel, Barbiturate, antiallergische Mittel, Psychostimulanzien,
psychiatrischen Psychopharmaka (Lithium ist nicht erwähnt), Dopingmittel,
Nasentropfen, Abführmittel, Antiparkinsonmittel, Antiepileptika,
Narkosemittel. Für Psychiatriebetroffene besonders interessant wären
Antidepressiva, Neuroleptika und Psychostimulanzien wie Methylphenidat
(Ritalin). Immerhin verweist Pallenbach auf die kontroverse Diskussion
unter Medizinern darüber, ob Antidepressiva und Neuroleptika abhängig
machen. Leider stellt er die Argumentation derer, die ein Abhängigkeitsrisiko
bejahen, nicht dar. Bei Antidepressiva komme es nur selten zur Abhängigkeit,
die teilweise heftigen Symptome nennt Pallenbach jedoch bloße Absetzreaktionen,
nicht aber Entzugssymptome. Da mittlerweile selbst Antidepressiva herstellende
Pharmafirmen das Risiko der Medikamentenabhängigkeit eingestehen,
würde der Autor sich heute vermutlich anders äußern. Dies
betrifft auch Neuroleptika: Eine Argumentation, die ein Abhängigkeitsrisiko
verneint, da es keinen Schwarzmarkt gebe für Neuroleptika, übersieht
den Grund für den nicht vorhandenen Schwarzmarkt die mit Qualen
einhergehende Eigenwirkung dieser Substanzen. Darüber hinaus sind
schon seit den 1960er-Jahren aus den Veröffentlichungen des Psychiaters
Rudolf Degkwitz äußerst quälende Entzugserscheinungen
bei diesen Substanzen bekannt, die so heftig sein können, dass die
Betroffenen nicht anders können, als sie weiterhin einzunehmen, auch
wenn der Ursprungsgrund für deren Einnahme längst nicht mehr
besteht. Unzufrieden darf man auch sein mit der Besprechung von Psychostimulanzien.
Während der Autor auf neuere Studien zu Methylphenidat verweist,
die eine erhöhte Suchtgefahr behaupten, wenn diese Substanzen nicht
rasch eingenommen würden, lässt er Studien außer Acht,
die ein erhöhtes Suchtrisiko bei Erwachsenen ausmachten, die in ihrer
Kindheit Methylphenidat schlucken mussten. In Teil 3 wendet sich Pallenbach
dann noch Lebensmitteln wie Coffein, Energydrinks, Schokolade, Alkohol,
Nikotin und illegalen Drogen zu. Abschließend lässt sich sagen,
dass das 222seitige Buch eine hervorragende Informationsquelle ist für
alle, die Informationen zu abhängig machenden Substanzen suchen
abgesehen von den sechs unbefriedigenden Seiten zu Antidepressiva / Neuroleptika
und Methylphenidat. Bei einer Überarbeitung würde das Buch meine
uneingeschränkte Zustimmung finden. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, XI + 211 Seiten, 16 Abbildungen, ISBN
9-783-3-8047-2506-5. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
2009. € 29.80 Peter Lehmann
Oskar Panizza: Mama Venus. Texte zu Religion, Sexus und Wahn
Erzählungen, Gedichte, Tagebucheintragungen und Briefe. Panizza,
1853-1921, Arzt und Literat, wegen »gotteslästerlicher Schriften«
im Gefängnis, 1905 auf Drängen der Mutter entmündigt, Anstaltsinsasse
bis an sein Lebensende. Mutter: »2 Naturen sind in ihm: ein Engel
und ein Teufel. Wenn GOtt der HErr dem letzteren auszufahren gebietet
wird Oskar ein frommer Mann sein.« Oskar: »Ich selbst
bin grinsender Zuschauer und betrachte meinen seelischen Zustand wie eine
Eiterbeule, die mir ruhig fließen soll. Die Welt braucht gelegentlich
auch Eiter. Sie soll ihn haben.« Kartoniert, 253 Seiten, Hamburg:
Luchterhand 1992. 19.80 DM Kerstin Kempker
Georg Parlow: Zart besaitet Selbstverständnis, Selbstachtung
und Selbsthilfe für hochsensible Menschen Buch über alle Arten von hoher Sensibilität, außersinnlicher
Wahrnehmung, Intuition u.v.m. für alle, die wegen einer starken
Sensibilität mit der normalen Welt schlecht zurecht kommen. Woran
ist das Phänomen der Hochsensibilität zu erkennen, welche Auswirkungen
hat sie, weshalb reagiert man so und nicht anders, wie kann man sich als
Hochsensibler in der normalen Welt wohlfühlen, sich ihr bewusst anzupassen
oder andere, geeignetere Wege gehen, ohne sich schlecht zu fühlen?
Kartoniert, 247 Seiten, 4 Abbildungen, ISBN 978-3-9501765-0-6. Linz: Festland
Verlag, 2., überarbeitete Auflage 2006. € 21.50 Peter Lehmann
Bernd Pelzer: Angstfrei glücklich leben Lebens(hilfe)-Ratgeber
für Angstbetroffene Der Autor wirbt mit nachvollziehbaren Argumenten für Ausdauertraining
und Körperübungen; Psychopharmaka würden höchstens
die Probleme vorübergehend unterdrücken, allerdings auf Kosten
von sog. Nebenwirkungen. Nach dem Absetzen kämen sie um so stärker
wieder zurück. Und oft genug wären es, was stoffliche Auslöser
betrifft, spezielle Ernährungssubstanzen und unter medizinischen
Medikamenten gerade Psychopharmaka, die Angst- und Panikattacken auslösen.
Die Erkenntnisse des Autors resultieren aus seiner Erfahrung als klinischer
Psychologe, die er mit Angstbetroffenen in seiner psychotherapeutischen
Praxis in Luxemburg gemacht hat. Er beschreibt die vielen Facetten von
Angst und Panik, deren mögliche Ursachen, erläutert körperliche
Funktionen, die von Angstanfällen betroffen sein können, um
fundiert mit ihnen umgehen zu können, ebenso einfache Übungen
für ein Anfreunden mit dem Körper. Neue Denkmuster, sportliche
Betätigung, Gelassenheit, Traumaaufarbeitung, virtuelle Konfrontation,
positive Affirmation, Entspannungsübungen u.v.m. werden ebenso leichtverständlich
dargestellt wie die Probleme, die mit allen Arten von Psychopharmaka verbunden
sein können, weshalb der Autor diese Substanzen allenfalls zur notfallmäßigen
Therapie akzeptiert. An stofflichen Beeinflussungsmaßnahmen seien
der Gruppe der synthetischen Tranquilizer, Antidepressiva, Stimmungsstabilisatoren
und Neuroleptika naturheilkundliche Substanzen wie beispielsweise Johanniskraut
(in der richtigen Dosierung) vorzuziehen, ebenso die Änderung von
Nahrungsgewohnheiten, um auf diese natürliche Weise den Serotoninwert
zu erhöhen und so das Bemühen um eine verbesserte Gefühlswelt
zu unterstützen. Gebunden, 223 Seiten, ISBN 978-3-0350-0055-9. Zürich:
Oesch Verlag 2009. € 14.95 Peter Lehmann
James W. Pennebaker: Heilung durch Schreiben
Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe In dem Buch, original 2004 in den USA erschienen, ermuntert James
Pennebaker, Professor für Psychologie an der Universität von
Texas, zum Bewältigen emotionaler Krisen und traumatischer Erlebnisse
durch expressives Schreiben. Deshalb dürfte es insbesondere für
Psychiatriebetroffene interessant sein, die traumatisierende Erfahrungen
vor der Psychiatrie und in der Psychiatrie gemacht haben und für
deren Verarbeitung sich Traumatherapeuten keinerlei Gedanken machen, auch
wenn selbst der psychiatrische Fachverband DGPPN öffentlich eingesteht,
dass psychiatrische Zwangsbehandlung traumatisierende Wirkungen haben
kann. Pennebaker stellt sein auf vier Tage à ca. 20 Minuten Schreiben
angelegtes Projekt und die bisher damit gemachten Erfahrungen vor, die
dazu gehörenden Übungen sowie alternative Schreibübungen
für Leute, die das viertägige Schreibprojekt für ungeeignet
halten oder in anderer Form weiterschreiben wollen. Tendenziell eher feindselige
und aggressiv eingestellte Menschen, die mit ihren eigenen Emotionen nicht
so gut im Kontakt stehen, würden mehr Vorteile aus dem Schreiben
ziehen als Menschen, die eh gelassen und reflektiert seien. Als Regeln
schlägt er vor, die eigenen Gefühle möglichst offen einzugestehen,
Perspektiven zu wechseln, eine eigene Stimme zu finden und das Geschriebene
vor anderen zu verbergen. Nach jedem Tag kann man das Geschriebene und
die eigene Befindlichkeit auswerten. Anschließend geht es darum,
das Geschriebene zu analysieren, Neues auszuprobieren, Krisen als Chancen
zu sehen, andere um Verzeihung für eigenes Fehlverhalten zu bitten
oder anderen zu verzeihen (wobei Letzteres schwer fallen dürfte,
wenn bei Gewalt und Missbrauch ausübenden Personen nicht die Spur
von Einsicht vorhanden ist), den eigenen Text zu überarbeiten und
evtl. eine ganze Geschichte draus zu machen. Man kann dieses Buch empfehlen
angesichts des Ansatzes der Traumabewältigung in Selbsthilfe (gerade
für Menschen, die [noch] keiner Selbsthilfegruppe angehören)
bis auf das zweiseitige Schlusskapitel "Rat und Hilfe",
in dem Pennebaker "beeindruckende Fortschritte" bei der Antidepressiva-Behandlung
von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen einfach
so dahersagt, ohne diese angeblichen Fortschritte zu belegen und ohne
mit einem einzigen Wort auf die gesundheitlichen Risiken dieser Psychopharmaka
und die Gefahr der Medikamentenabhängigkeit einzugehen. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 181 Seiten, ISBN 978-3-456-85976-7.
Bern: Hogrefe Verlag, 2., unveränderte Auflage 2019. € 19.95 Peter Lehmann
Bianka Perez: Die Schwarze Liste. Nazi-Paragraf
63 StGB weggesperrt und weggespritzt Michael Perez, die Hauptperson in dem Buch, ist anscheinend ein dickköpfiger,
gutgläubiger junger Mann, der an falsche Freunde geriet. Er fängt
an zu kiffen, gerät in Streit mit seinem Vermieter, wird von diesem
aus seiner Wohnung geklagt und um sein Hab und Gut gebracht, wirft ihm
die Glasscheibe an seiner Wohnungstür ein und tippt ihm mit dem Finger
etwas kräftiger auf die Brust, was ihm, so die Autorin des Buches,
nämlich Michael Perez' Schwester, als Faustschlag, also Körperverletzung
angelastet wird. Diesen Vorfall von 2004 nutzt der Vermieter, um Michael
Perez strafrechtlich verfolgen zu lassen. Ein Gutachter attestiert ihm
eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, unterstellt ihm eine
schwere seelische Abartigkeit vielleicht aufgrund eines frühkindlichen
Hirnschadens, so jedenfalls spekuliert der Gutachter, und so nimmt das
Drama seinen Verlauf. Seit 2007 ist der junge Mann in Rheinland-Pfalz
(u.a. Rheinhessen-Fachklinik Alzey, Klinik Nette-Gut) nun gerichtspsychiatrisch
gemäß § 63 StGB untergebracht. Da er sich gegen das ihm
widerfahrene Unrecht wehrt, auch gegen die Verabreichung von Psychopharmaka,
soll er mit Fixierung und jahrelanger folterartiger Isolationshaft gefügig
gemacht werden soll, damit er endlich die verordneten Psychopharmaka schluckt.
Dies ist sicher kein Einzellfall. Einzigartig ist allerdings das Engagement,
mit der sich Bianka Perez für ihren wehrlosen Bruder einsetzt und
das himmelschreiende Unrecht mit Faksimiles von Behandlungsberichten,
Gerichtsentscheiden, Gutachten und Strafanzeigen belegt, und bemerkenswert
ist der Mut des Verlegers, ein Buch mit Nennung aller Klarnamen und Abdruck
all der Dokumente zu wagen. Französische Broschur, 315 Seiten, 155
Faksimiles, 13 Abbildungen, ISBN 978-3-981-42570-3. Hamburg: underDog
Verlag Olaf Junge 2017. € 17.90 Peter Lehmann
Franz Petermann / Sandra Winkel: Selbstverletzendes Verhalten
Die Neubearbeitung des Buches bietet einen Überblick über die
Entstehung, Aufrechterhaltung, Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten
selbstverletzenden Verhaltens aus Mainstreamsicht, unter Betonung der
"besonders bedeutsamen Rolle" der Neurobiologie. Erfahrungen
von Betroffenen wie z.B. der international bekannten Louise Pembroke aus
Großbritannien sind wie selbstverständlich ausgeblendet. Die
völlig unkritisch wiedergegebene Überlegung, sich selbst verletzenden
Jugendlichen sog. atypische Neuroleptika wegen deren angeblich geringeren
unerwünschten Wirkungen zu verabreichen und neuroleptikabedingte
Fettleibigkeit bei jungen Frauen nicht etwa aus Gründen damit verbundener
Herz-Kreislauf-Gefährdungen, sondern wegen evtl. mangelnder Compliance
einzuschränken, führt wie auch das Ignorieren von neuroleptikabedingten
Defizit-Syndromen, Hypercholesterinämien (erhöhter Cholesteringehalt
im Blut), für tardive Psychosen und Dyskinesien verantwortliche irreversiblen
Rezeptorenveränderungen und erhöhter Apoptose (Sichabstoßen
von Zellen aus dem Gewebe, d. h. Zelltod) zum Ergebnis, das Buch als äußerst
problematisch einzuschätzen. Liest man gar von der Empfehlung, Neuroleptika
mit SRI zu kombinieren und ruft sich die erhöhte Sterblichkeit vor
allem bei Verabreichung von Neuroleptika in Kombination mit anderen Medikamenten
in Erinnerung, überkommt einen gar das glatte Grausen. Kartoniert,
250 Seiten, ISBN 978-3-8017-2201-2. Göttingen usw.: Hogrefe Verlag,
2., überarb. u. erw. Aufl. 2009. € 26.95 Peter Lehmann
Detlef Petry: Die Wanderung. Eine trialogische Biografie
Der Autor hat sich vermutlich angestrengt, etwas Neues, Gutes, Reformorientiertes
zu schreiben, seinen Patienten als Mitmensch zu sehen. Als antipsychiatrischer
Verleger, der ich im Rahmen meiner Arbeit Psychiatriebetroffenen als Autoren
gegenüberstehe, die sich selbst über die eigene Person äußern,
und angesichts des katastrophal unkritisch dargestellten Endes der Petryschen
trialogischen Beziehung tue ich mich (gelinde gesagt) schwer mit dem Ansatz
einer trialogischen Biografie. Petrys Ansatz bedeutet: Psychiatriebetroffene
brauchen nicht mehr selbst zu schreiben, im Rahmen des Trialogs erledigen
ihre behandelnden Psychiater dies nun für sie. Psychiater Petry,
der seit einem Vierteljahrhundert im niederländischen Maastricht
lebt und sich im Buch fortwährend als Bewunderer Klaus Dörners
outet, erzählt nicht nur die Lebensgeschichte seines stimmenhörenden
Patienten Bert Boers und dessen Großfamilie, sondern bezieht sich
mit seiner eigenen Lebensgeschichte incl. Stammbaum und Hochzeitsfoto
mit ein. Ein Beispiel von S. 183, wie es sich liest, wenn zwei persönliche
Lebensgeschichten nebeneinander auf gleiche Augenhöhe gestellt werden:
"Bert hat schwer gelitten in der Psychiatrie und ich habe schwer
gelitten an der Psychiatrie. Dadurch hat sich zwischen uns ein starkes
Band der Solidarität gebildet." Ein kleiner Unterschied besteht
jedoch, auch wenn der Autor ihn nicht problematisiert: Detlef Petry verabreicht
Neuroleptika, Bert Boers erhält sie. Boers stirbt im Alter von nur
46 Jahren. Hierzu bringt sich Petry wieder mit ein: "Am 23. Januar
des Jahres 1996 passierte etwas Schreckliches früh am Morgen
gegen 6 Uhr wurde ich zu Hause angerufen, und man teilte mir mit, dass
Bert vor zwei Stunden tot in seinem Zimmer gefunden worden sei. Man hatte
den Lärm gehört, als er auf den Boden stürzte. Als vorläufige
Todesursache wurde Herzinfarkt genannt. Ich dachte gleich an die vielen
Medikamente, die Bert über die Jahre hatte einnehmen müssen."
(S. 175) Wer nun meint, Petry werde von diesem nicht ganz unwesentlichen
Gedanken noch einmal heimgesucht, hat sich leider getäuscht, sein
Interesse an der definitiven Todesursache ist nach Verfassen der zitierten
fünfzehn Worte erloschen, von der Reflexion einer eigenen Verantwortung
ganz zu schweigen. Dies ist ganz die Dörnersche Schule bedeutungsschwanger
klingende Worte, nichts dahinter, wenn es um Psychopharmakaverabreichung
und in diesem Fall gar tödliche Folgen geht. "Detlef Petry ist
Psychiater und ein mutiger Mensch", schreibt der Paranus-Verlag
auf dem Buchumschlag, der Patient werde Mit-Mensch, der Psychiater demaskiert,
steige vom hohen Ross des Spezialisten herab, spreche die Familie von
Schuld frei und werde zum Freund des Patienten, gar zum Lebensassistenten.
"Trialog geglückt Patient tot", kann man da nur
sagen. Die einen mögen Petry bewundern angesichts des totbehandelten
Patienten löst bei mir die neue Maske, die des Gutmenschen, nur noch
Grausen aus. Kartoniert, 192 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN 3-926200-55-3.
Paranus Verlag Neumünster 2003. € 18. Peter Lehmann
Reneau Z. Peurifoy: Frei von Angst
ein Leben lang. Hilfe zur Selbsthilfe "Laufe vor einem Gespenst fort, und es wird dich verfolgen. Gehe auf
es zu, und es wird verschwinden." Diese irische Sprichwort steht als Motto
des therapeutischen Ansatzes von Reneau Peurifoy. Er plädiert dafür,
die häufig sozialisationsbedingten Botschaften hinter der Angst zu
erkennen und sich nicht mit einfacher Symptomkontrolle zufrieden zu geben,
da ansonsten keine langfristige Genesung möglich ist und somit der
Verbleib im "Zeittunnel" programmiert ist: Mal verhält
sich bei Konflikten in der Gegenwart so, wie man sich in der Vergangenheit
und mit ihren traumatischen Misshandlungssituationen verhielt. Um die
grundsätzliche Bewältigung dieser jetzt nicht mehr angemessenen
Konfliktmuster und der darin begründeten Angst- und Panikattacken
geht es also schwerpunktmäßig in diesem Buch. Es versteht sich
als Arbeitsbuch mit praktischen Übungen, durchzuführen alleine,
mit privaten MitstreiterInnen, in der Selbsthilfegruppe oder mit PsychotherapeutInnen.
Also geht es um Gespräche, Entspannungsübungen, positive innere
Dialoge, Grenzen-setzen in Beziehungen und vieles Vernünftige mehr
(was in der psychiatrischen Praxis und der dort vorherrschenden stoffwechselfixierten
Ideologie naturgemäß keinen Platz findet). Ein Buch frei von
modischem neurobiologischen Blabla. Kartoniert, 232 Seiten, 10 schwarz-weiße
Abbildungen, ISBN 978-3-456-84408-4. Bern: Huber Verlag 2007. €
19.95 Peter Lehmann
Gudrun Piechotta (Hg.): Das Vergessen erleben Lebensgeschichten
von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung Ob wir, die (Mit-)Menschen lernen können, mit unserer eigenen
Angst vor einer Demenz konstruktiv umzugehen, und durch Antizipation Verständnis
für die Demenzbetroffenen zu entwickeln, fragt Gudrun Piechotta,
Professorin für Pflegewissenschaft im Studiengang Gesundheits- und
Pflegemanagement der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin. Versuchen
kann man es ja: Zehn (leicht) kommentierte Lebensgeschichten helfen zu
verstehen, wie sich Demenz ankündigt, wie sie verläuft und was
auf uns selbst und die uns Nahestehenden zukommen kann. Alt wollen die
meisten werden, damit kommt auch das Problem der nachlassenden Hirnleistung
auf uns zu. Unsere Eltern, sofern im entsprechenden Alter, entwickeln
evtl. gerade eine Demenz und nerven uns mit ihrer Vergesslichkeit und
ihrer Aggressivität. Das Buch mit den Geschichten von Menschen, die
bei der Demenz angekommen sind, hilft, das Problem zu verstehen und Schmerzen
und Wut zu lindern. Mit hilfreichen (auf Deutschland begrenzten) Adressen
von Beratungsstellen für Menschen mit Gedächtnisstörungen
sowie mit Adressen von Gedächtnisambulanzen in Deutschland, Österreich
und der Schweiz. Kartoniert, 242 Seiten, ISBN 978-3-938304-70-9. Frankfurt
am Main: Mabuse-Verlag 2008. € 19.80 Peter Lehmann
Robert Pirsig: Lila
17 Jahre nach seinem brillanten halbautobiographischen Roman »Zen
oder die Kunst ein Motorrad zu warten«, in dem es um die Wiederherstellung
der persönlichen Identität der Hauptfigur ging, die durch Elektroschocks
nahezu vollständig ausgelöscht worden war, ist jetzt das zweite
Buch Pirsigs erschienen. Im Mittelpunkt von »Lila« steht laut
Verlagsankündigung wiederum Phaidros, das Alter ego Pirsigs in »Zen«.
Im Urlaub werde ich die Muße haben, mich in das neue Buch zu vertiefen.
Wem Pirsig unbekannt ist, empfehle ich als Einstieg sein erstes Buch,
längst als preiswerte Taschenbuchausgabe im Handel. Ist nach dessen
Lektüre Lust auf mehr Pirsig gekommen: Vielleicht ist bis dann eine
bezahlbare Ausgabe auch von »Lila« erschienen. Gebunden, 449
Seiten, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1991. DM 39.80 Peter Lehmann
Gabriele Pitschel-Walz: Lebensfreude zurückgewinnen. Ratgeber
für Menschen mit Depressionen und deren Angehörige
Was kann man von einem Ratgeber zu Thema Depression und Hilfe zu deren
Überwindung erwarten, wenn er ein Geleitwort von des Elektroschockers
Joseph Bäuml enthält? Richtig leider: man bekommt die
Befürwortung von Elektroschocks und die Verharmlosung deren Folgeschäden,
ebenso eine Anpreisung von Psychopharmaka an allererster Stelle (Antidepressiva,
Neuroleptika, Tranquilizer usw.), wobei Risiken in wenig verantwortungsvoller
Weise mit wenigen Worten abgetan und Langzeitschäden insbesondere
Rezeptorenveränderungen überhaupt nicht erwähnt
werden. Als Mittel gegen "Nebenwirkungen" wie Mundtrockenheit
(Begeitsymptom beispielsweise des neuroleptikabedingten Parkinsonoids)
empfiehlt die Autorin Bonbonlutschen. Psychopharmakabedingte Chronifizierungen
von Depressionen werden nicht thematisiert. Abhängigkeit von Antidepressiva
und Neuroleptika werden trotz international bekannt gewordener Entzugsprobleme
abgestritten. Abhängigkeit von Sedativa und Tranquilizern trete nur
bei längerer Einnahme auf. Von gleicher "Güte" sind
das Wiederkäuen altbekannter Gentheorien über die Ursachen von
Depressionen, das vollständige Ausklammern psychopharmakabedingter
Depressionen und gesellschaftlicher sowie geschlechtsrollenbedingter Faktoren.
Die Auflistung verschiedener psychotherapeutischer und sonstiger Verfahren
und Tipps zur Alltagsbewältigung können die genannten gravierenden
Mängel nicht im Ansatz wettmachen. Selbsthilfegruppen tauchen nur
als Wort auf, Internetadressen sind teilweise veraltet. Fazit: kein empfehlenswertes
Buch. Wer in Institutionen dieses Buch ausliegen sieht oder empfohlen
bekommt, dürfte wissen, woran er oder sie ist. Kartoniert, XII +
132 Seiten, 12 Tabellen, ISBN 3-437-56440-4. München / Jena: Urban
& Fischer 2003. € 19.95 Peter Lehmann
Nicole Plinz: Yoga bei Erschöpfung, Burnout und Depression
Die in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios
Klinik in Hamburg-Harburg arbeitende Yogalehrerin Plinz hat dort Yoga
in die Behandlung von Depressionen eingeführt, als Maßnahme,
die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ergänzt. Wenn jemand
unter Depression leidet, sei eine ärztliche oder psychotherapeutische
Behandlung nötig, schreibt sie eingangs in ihrem Buch. Doch man muss
sich daran nicht halten, wenn man depressiv ist und Yoga machen will,
um seine Stimmungslage zu verbessern. Man kann das Buch auch lesen, wenn
man nicht zum Psychiater gehen mag, und diverse Yogaübungen trotzdem
machen. Im ersten Teil des Buches erläutert die Autorin ihr Verständnis
von Depressionen als klassifizierbare Krankheit, Stresskrisen und Erschöpfungszuständen
und die Auswirkung von Yoga auf diese Probleme im allgemeinen und beschreibt
anschließend einzelne Übungen gegen psychische Problemfelder.
Im zweiten Teil stellt sie eine Vielzahl unterschiedlicher Übungen
dar, illustriert mit farbigen Abbildungen. Achtung: Yoga sei kein Trick,
sondern werde als Weg verstanden, Körper, Geist und Psyche achtsam
wieder in Balance zu bringen. Emotionen und Gedanken werden bei Yogaübungen
wahrgenommen und ermöglichen so eine Auseinandersetzung mit ihnen.
Schade, dass die Autorin trotz neuropsychologischer Beratung beim Verfassen
des Buches nicht auf die Frage eingegangen ist, wie sich die Beeinträchtigung
des Nervensystems durch synthetische neurotoxische Substanzen mit den
Energieströmen verträgt, die Yoga freisetzen soll oder die bei
Yogaübungen auf Körper, Geist und Psyche einwirken. Eine Überlegung
wäre dieses Zusammentreffen entgegengesetzter Energien sicher wert,
auch wenn sie nur für diejenigen interessant sein dürfte, die
psychiatrische Psychopharmaka zu sich nehmen. Kartoniert, 189 Seiten,
208 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-86739-048-4. Bonn: BALANCE Buch +
Medien Verlag 2009. € 17.95 Peter Lehmann
Edward M. Podvoll: Verlockung des Wahnsinns. Therapeutische Wege aus
entrückten Welten
Podvoll ist ein amerikanischer Psychiater, der von drei sehr genauen Selbstbeschreibungen
ausgehend eine Psychosetheorie entwickelt (dem Adligen John Thomas Perceval
aus dem 19. Jh., verrückt, Zwangsjacke, Aufdeckung in 2 Büchern,
antipsychiatrisch aktiv; John Custance, geb. 1900, Banker, Geheimdienst,
»manisch-depressiv«, Anstalten, Schocks, Bücher, Kämpfer
für Patientenschutz; Donald Crowhurst, 1932-1969, Ingenieur, der
als Ein-Mann-Segler die Welt umrunden wollte, dabei größenwahnsinnig
wurde und starb, minutiös Logbuch schrieb). Psychose ist für
ihn »die natürliche Folge der besonderen Lebensumstände
eines Menschen«, die bestimmte Stadien durchläuft (»Teufelskreis
des Verrückt-Werdens«, »Spirale des Größenwahns«)
und einer »natürlichen Heilung« zugänglich ist: »Letzten
Endes hängt die Heilung eines Psychotikers davon ab, welche Bereitschaft
und Fähigkeit er besitzt, sich auf die detaillierte Erkundung seines
eigenen Geisteszustandes einzulassen, und zwar aus eigenem Antrieb und
ganz auf sich allein gestellt.« Es geht Podvoll aber nicht um die
aus esoterischen Kreisen bekannte Trennung der »spirituellen Krisen«
von den psychiatrischen, sondern er ruft auf zur Selbsthilfe. Ob man seinen
Theorien und Ratschlägen nun folgt oder nicht, Grundlage und Herzstück
des Buches sind die Selbstbeobachtungen (s.o.) und die praktischen Konsequenzen
im zweiten Teil: das Windhorse-Projekt (intensiv betreute WGs mit einer/m
vorher Psychiatrisierten. Die WGs beruhten auf Respekt, Alltagshilfen,
Psychopharmakareduzierung) und in der Folge das »Haus der Freundschaft«
(fünf LangzeitinsassInnen, zwei HausgenossInnen, dreißig zum
Großteil ehrenamtliche HelferInnen). Schlüsselwort für
beide Projekte ist die »Basisbetreuung«: Für drei Stunden
täglich steht den einzelnen »Betreuten« jemand zur Verfügung,
um genau das zu tun, was diese gerade brauchen. Das kann alles sein, ein
Spaziergang, zusammen aufräumen, ins Kino gehen, reden, schweigen.
Es klingt so einfach, erfordert aber, wie Podvoll ausführlich beschreibt:
»Präsent sein«, »den andern einlassen«, »gewähren
lassen«, »mitnehmen«, »wahrnehmen«, die »Entdeckung
der Freundschaft«. Die Beschreibungen der sechs Jahre Windhorse und
des einen Jahres »Haus der Freundschaft« haben mir besonders
gefallen und mich auch großzügig gemacht gegenüber dem
üblichen Vokabular, das Podvoll sorglos benutzt. Er spricht von Geisteskranken,
die der Pflege bedürfen, er lobt Eugen Bleuler und zitiert stolz
dessen Sohn Manfred. Aber er schreibt auch: »Jeder kann endgültig
den Verstand verlieren, wenn er nicht sehr gut für ihn sorgt.«
Ein nutzbares Buch, respektvoll, bodenständig und buddhistisch angehaucht.
Geb., 429 S., München: Hugendubel Verlag 1994. DM 48, Kerstin Kempker
Helmut Pollähne: Lockerungen im Maßregelvollzug
Rechtswissenschaftlicher Bericht über erleichternde Auswirkungen
einer reformierten § 63 StGb-Praxis (am Beispiel der Anwendung des
nordrhein-westfälischen Maßregelvollzuggesetzes im Zentrum
für Forensische Psychiatrie Lippstadt/Eickelborn), mit vielen Literaturhinweisen
und empirischen Daten. Pollähne ist zwar insgesamt wenig psychiatriekritisch,
aber er liefert handfeste Daten für Betroffene des § 63, z.B.
über die fehlende Fundiertheit psychiatrischer Prognostik. Kart.,
366 S., Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 1994. Unverbindliche Preisempfehlung
DM 89, Peter Lehmann
Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte "Wer wurde als wahnsinnig bezeichnet? Was wurde als Ursache ihres
Zustandes verstanden? Und was wurde getan, um sie zu heilen oder unter
Kontrolle zu halten?" Diesen Fragen geht der englische Medizinhistoriker
in seiner 2002 im Original erschienenen Kulturgeschichte des Wahnsinns
nach und durchstreift dabei leichtfüßig, angenehm sachlich
und mit offenem Blick zweieinhalb Jahrtausende. Es wird deutlich, wie
im Laufe der Zeit der Blick auf den Wahnsinn immer enger wurde, von übernatürlicher
Besessenheit zum Gendefekt, vom Exorzismus zur Pille, Milliardenumsätzen
der Pharmaindustrie, dem "Schwanz, der mit dem Hund wedelt". Ein intelligentes,
gut lesbares und erhellendes Buch, illustriert mit Stichen, Zeichnungen
und Fotografien. Gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 28 Abbildungen,
ISBN 3-908777-06-2. Zürich: Dörlemann Verlag 2005. € 18.90 Kerstin Kempker
Markus Preiter: Die Logik des Verrücktseins Einblicke
in die geheimen Räume unserer Psyche
Im Mittelpunkt des modernen Menschenbilds des Autors, den Psychiaters
Dr. med. Markus Preiter, steht das Gehirn, das als Illusionsprojektor
arbeitet und uns ein "Ich" vorspielt, die Welt um uns herum,
die es bei gesunder Funktionsweise realitätsnah erfindet, ebenso
und unsere eigene Existenz. Seinen Ansatz versteht er als psycho-sozio-philosophische
Grundlagenforschung, die notwendigerweise dem gesellschaftlichen Mainstream
voraus sei. Es sei wichtig, psychopathologische Phänomene als Chiffren
des Strukturaufbaus der menschlichen Seele zu verstehen, wozu Kenntnisse
über den Strukturaufbau des Labyrinths der Seele notwendig sei. Diese
Kenntnisse möchte er liefern, indem er ähnlich dm Periodensystem
in der Chemie mit einem übergreifenden Erklärungsmodell
die verschiedenen Interpretationshorizonte der Psychiatrie auf ein gemeinsames
Verständnisfundament stellen und damit in Bezug zueinander setzen
und den Leser in die Lage bringen will zu sehen, was jenseits des Einzelfalls
hinter den sogenannten psychopathologischen Phänomenen generell steht.
Gebunden mit Schutzumschlag, 351 Seiten, ISBN 978-3-466-30886-6. München:
Kösel Verlag 2010. € 19.95 Peter Lehmann
Alfred Pritz / Elisabeth Vykoukal / Katharina Reboly / Nassim Agdari-Moghadam
(Hg.): Das Messie-Syndrom Phänomen, Diagnostik, Therapie und
Kulturgeschichte des pathologischen Sammelns Das Buch zeigt die verschiedenen Ansätze zum Messie-Syndrom auf
und fasst sie zu einem Ganzen zusammen. Wir finden Berichte über
psychotherapeutische Hilfen und Selbsthilfeansätze für Menschen,
die unter einem Sammel-"Wahn" (Namensvorschlag im Buch: "Organisations-Defizit-Störung
[ODS]") leiden und sich nicht von ihrem Müll trennen mögen.
Und es enthält Selbstzeugnisse, Fragebögen, Kontaktadressen
und den Messie-House-Index (Vermessung der Wohnung inkl. Gerümpel).
Der Versuch einer eigenen Diagnostik wird entwickelt, ebenso finden sich
allerlei therapeutische, vor allem psychoanalytische Überlegungen,
schließlich ist Alfred Pritz Leiter der Forschungsgruppe "Messie-Syndrom"
und Rektor der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Dargestellt
wird die Messie-Bewegung in Österreich und in der Schweiz; aus Deutschland
gibt es im Anhang immerhin eine Adresse. Zudem werden kulturgesellschaftliche
Überlegungen angestellt, beispielsweise fragt man sich, ob das Messie-Syndrom
mit der modernen Wegwerfgesellschaft zu tun haben könnte. Ziel des
Buches ist es, dem Messie-Phänomen näher zu kommen, um es besser
zu verstehen und Konsequenzen für die effiziente psychotherapeutische
Arbeit ableiten zu können. Für alle, die sich weiter mit dem
Thema weiter ob therapeutisch, selbsthilfemäßig oder
theoretisch beschäftigen wollen, liefert das Buch eine Vielzahl
von Anregungen. Kartoniert, X + 324 Seiten, 4 schwarz-weiße und
16 farbige Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-211-76519-7. Wien: Springer
Verlag 2008. € 39.95 Peter Lehmann
Psychotherapie im Dialog. Schwerpunktheft: Angststörungen
Alles über alle Arten von Angststörungen und deren Therapien
aus der Sicht von Professionellen. Auf Erfahrungen und Beiträge von
Betroffenen wurde leider offenbar keinen Wert gelegt. Aber wer sich ausschließlich
für die Sicht mainstreamorientierter Profis interessiert, kann sich
hier über den aktuellen Stand deren Wissens informieren. Auch enthalten:
Besprechungen von Selbsthilfe-Ratgeberbüchern; wobei auch bei den
Buchbesprechungen Bücher von Betroffenen wie selbstverständlich
ausgegrenzt sind. Einen eingeschränkten Überblick bietet der
Artikel zu Selbsthilferatgebern dennoch. Ebenfalls enthalten als Artikel
ist ein großer Überblick über alle möglichen themenspezifischen
Websites; schade, dass die Autorin dieses Beitrags keine Angaben darüber
macht, hinter welchen Websites kommerzielle Interessen und gar Pharmafirmen
stehen. Zeitschrift im Thieme Verlag Stuttgart. Heft 4/2005. 120 Seiten,
ISSN 1438-7026. € 29.90 Peter Lehmann
William Pullen: Run for your Life. Achtsamkeit und Bewegung für
ein glückliches und gesundes Leben
Laut Klappentext hat der britische Psychologe William Pullen das Laufen
revolutioniert. Joggte man früher aus Fitnessgründen und um
sich wohl zu fühlen, praktiziert man jetzt die Methode des Dynamischen
Laufens: Man läuft nicht nur einfach, sondern kombiniert das Laufen
mit Achtsamkeitsübungen. Bevor man loslegt, findet das Grounding
statt. Man sammelt sich, macht den Body-Scan, dann den Umgebungs-Scan,
dann den Gefühl-Scan, dann die Achtsamkeitsmeditation, dann denkt
man sich ein Mantra aus. Dann erst läuft man los. Dann kommt der
Flow, die Hormone strömen, das kann man mit der Lauf-App. messen.
Macht man alles achtsam, stellt sich der Prozess ein, und hinterer sind
viele Probleme gelöst und der Weg in ein glückliches und gesundes
Leben ist frei. So einfach geht das? Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 256 Seiten, ISBN 978-3-608-11023-4.
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2018. € 14.95 Peter Lehmann
Michaela Ralser: Das Subjekt der
Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie Kulturen der
Krankheit um 1900
Habilitationsschrift an der Universität Innsbruck über die Verankerungen
des Geltungsmodus Normalität in Psychiatrie, Schule, Fürsorge
und Justiz im 19. Jahrhundert und dessen Durchsetzung als heutiges Unterscheidungsmittel
in der Gesellschaft. Die Autorin analysiert Bedingung und Wirkung der
Transformationen im Archipel "Normalität" speziell in der
psychiatrischen "Wissenschaft" zwischen 1875 und 1914, um die
Dynamiken und Prozesse deutlich zu machen, die den Strukturwandel des
Subjekts als psychisches einleiten und vollziehen. Wie expandieren die
Zonen der Normalität, wie werden ihre Grenzen flexibel? Den großen
Nervenkrankheiten den Hysterien, Neurasthenien, traumatischen Neurosen
und sozialen Pathologien kommt dabei strategische Bedeutung zu.
Sie erreichen in kurzer Zeit eine Publizität, die es rechtfertigt,
sie als erste mediale Krankheiten zu bezeichnen. Ihre Modelle bilden das
Inventar noch heute gültiger Diagnosesysteme. Quellenbasis der Arbeit
sind sorgfältig recherchierte publizierte psychiatrische "Fall"-Geschichten
sowie "Kranken"-Akten der Innsbrucker Universitätsanstalt
von 1891 bis 1918 mitsamt den darin enthaltenen "Ego-Dokumenten"
die von Michaela Ralser neu interpretiert werden. Mit ihren Analysen weist
die feministisch orientierte Autorin nach, wie Medizin und Psychiatrie
zur dominierenden Sozialalisationsagentur wurde. Abgeschlossen wird das
Buch mit 44 Seiten Quellenangaben und Literaturhinweisen. Kartoniert,
354 Seiten, ISBN 978-3-7705-4980-1. München: Fink Verlag 2010. €
39.90 Peter Lehmann
Rolf Rameder: Der verlorene Sohn
Eigentlich will er ja morgen aus dem Fenster springen, der in Wien lebende
Autor, Jahrgang 1948, da er sein Leben aus Angst vor sich selbst und angewidert
von der Gesellschaft und ihren psychiatrisch Tätigen nicht mehr aushält.
Aber vorher schreibt er noch an Adolf Holl, Priester und Verfasser des
Buches "Jesus in schlechter Gesellschaft". Dies tut er seit
20 Jahren, um wie Scheherezade in den Geschichten von Tausendundeiner
Nacht seinen Tod noch etwas aufzuschieben, und monatlich einmal
treffen sich die beiden zum Teetrinken. Aus all den Schreiben entstand
ein Manuskript, beginnend mit dem Brief vom 16. September 2007 und einem
angekündigten Sprung aus dem Fenster. Und weiterhin schreibt Rameder
an Holl, im Buch letztmalig am 18. Januar des Folgejahres. Dann lebt und
leidet und weint er immer noch, und er tut das bis heute. Inbrünstig,
brüsk, schamlos wahrhaftig und direkt bringt er verschiedene Leidenserfahrungen
in selbstmitleidlosen Szenen zu Wort. Ein "Stück Scheiße" sei
er, Abfall, Auswurf, Dreck, ein Niemand, ohne Rechte, Würde und Wert,
nichts als das nackte Leben, mit dem man machen könne, was man wolle,
er lebe in einem 20-Quadratmeter-Loch und verbringe seine Zeit im Bett
mit Schwulenpornos, Büchern und Fernsehen. Keiner seiner Erfahrungsbereiche,
ob in Gefängnis, Psychiatrie, Psychotherapie, Politik und Journalismus,
wird verschont, wenn Rameder sich durch das Geröll seiner Erinnerungen
gräbt, die ihn fortgesetzt überrollen und in der sich die Gemeinheiten
der normalen psychosozialen Gemeinschaft herrlich widerspiegeln. Dapotum,
das er in der Psychiatrie und danach ambulant erhalten habe, habe ihn
die Zeit in der Totenstarre verbringen lassen. "Was ist die Psychiatrie
anderes als die Fortsetzung der Familie an einem anderen Ort, mit anderem
Personal und in anderen Kulissen?" fragt er, der so gerne erträgliche
und großzügige Eltern gehabt hätte, die ihn gelehrt hätten,
eine Frau zu lieben und ein Mann zu werden. Doch die Psychiatrie schütze
nichts so sehr wie schuldig gewordene Eltern; das einzige, das sie mit
höchster Sorgfalt behandle, seien Psychopharmaka. Psychiater seien
dumm, primitiv und ungehobelt. Und gelegentlich trete zu allem Überfluss
einer auf, lege ein strohdummes und abseitiges Buch über Kunst und
Schizophrenie vor und sei ja doch nur ein kleiner Angestellter von Ciba-Geigy
oder Hoffmann-La Roche. "Ich habe mir oft gedacht," schreibt Rameder,
"dass die Nazis, und ich meine damit die echten der 30er-Jahre, vor Neid
erblasst wären, hätten sie sehen können, dass die Hinaustötung
von nutzlosem Menschenleben aus allen Bindungen mühelos und gewinnbringend
gelingt. Und all das von biederen, halbblöden Linken und Ikea-Sozialisten
inszeniert, auf den Weg gebracht, mit großem Aufwand an Trara und
Reklame durchgesetzt." Hut ab vor Theodor Itten und seinem Mut, dieses
durch und durch böse und schmutzaufwirbelnde Buch des Rolf Rameder
zu verlegen. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 157 Seiten, ISBN 978-3-9522485-8-4.
St. Gallen: itten books 2010. € 18. Peter Lehmann
Monica Ramirez Basco: Manie und Depression Selbsthilfe bei
bipolaren Störungen
Psychiatriekonformes Arbeitsbuch mit Strategien zur Kontrolle von Symptomen,
zur Verhinderung von Rückfällen und zur Problemlösung
basierend auf der Überzeugung, dass Psychopharmaka unbedingt notwendig
sind, auf einem durchgängig biomedizinischem Krankheitsverständnis
und mit Anleitungen zu Interventionen und Aktionen durch die Betroffenen
selbst ("Selbsthilfe"). Aus dem Englischen. Paperback, 355 Seiten,
ISBN 978-3-86739-019-4. Bonn: BALANCE Buch + Medien Verlag 2007. €
17.90 Peter Lehmann
Luise Reddemann / Arne Hofmann / Ursula Gast (Hg.): Psychotherapie
der dissoziativen Störungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis
störungsspezifisch und schulenübergreifend
Informative, allerdings kritische Publikationen (wie z.B. Wildwasser Bielefeld
e.V. [Hg.]: Der aufgestörte Blick. Multiple Persönlichkeiten,
Frauenbewegung und Gewalt) aus dem Blickfeld ausblendende Zusammenfassung
des aktuellen Wissens über Krankheitsmodelle, Diagnostik, psychotherapeutische
Behandlung und Verlauf dissoziativer Störungen zur psychotherapeutischen
Fort- und Weiterbildung. Mit einer Liste von Beratungsstellen und Therapeuten.
Kartoniert, XII + 219 Seiten, 4 Abbildungen, 9 Tabellen, ISBN 3-13-130511-8.
Stuttgart & New York: Thieme Verlag 2004. € 39.95 Peter Lehmann
Susanne Regener: Visuelle Gewalt
Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts
Das Buch enthält eine akademische Auseinandersetzung mit psychiatrischen
Fotografien als normierende Körperpolitik: Psychiater wollen Fremdes
definieren, pathologisieren und katalogisieren. Die Autorin, Professorin
für Kultur- und Medienwissenschaftlerin an der Universität Siegen,
analysiert dieses psychiatrische Ordnungsverfahren, das im Namen von wissenschaftlicher
Vernunft auf Körper und Seelen zielt, Menschen aber lediglich typisiert
und ausgrenzt. Die 135 Abbildungen, beginnend mit der Anfangszeit der
Photographie, ergänzt um gezeichnete Abbildungen aus der Zeit davor,
hinterlassen einen schönen Eindruck von der Perversion des diagnostischen
Blicks, der mit Diagnosen und entsprechenden Photographien Augenblickszustände
der psychischen Befindlichkeit aus dem historischen Zusammenhang herauslösen
und zum objektiven biologischen Krankheitssymptom umdeuten will. Schade,
dass die Autorin von einem kurzen Absatz über moderne bildgebende
Verfahren mit demselben Anspruch auf Sichtbarmachung und Erklärung
außerordentlicher seelischer Zustände und Erfahrungen
beim psychiatrischen Zeitalter der Lobotomie Anfang der 1950er-Jahre Halt
gemacht hat und in psychiatrischer Fachliteratur publizierte Fotografien
aus dem Zeitalter der Psychopharmakologie ebenso ausblendet wie Fotografien
Elektrogeschockter. Auf Literaturquellen Psychiatriebetroffener verzichtet
die Autorin ebenfalls, diese Spezies belässt sie in ihrem Objektstatus.
Nichtsdestotrotz, wer sich kritisch mit der Geschichte und Funktion psychiatrischer
Fotografien beschäftigen will, findet in Susanne Regeners Buch ausreichend
Material für einen guten Einstieg ins Thema. Kartoniert, 253 Seiten,
135 Abbildungen, ISBN 978-3-89942-420-1. Bielefeld: transcript Verlag
2010. € 27.80 Peter Lehmann
Claudia A. Reinecke: Mit ADHS und Freude durch
den Schulalltag
ADHS sei angeboren, schreibt die Autorin ohne weiteren Beleg, und empfiehlt
als Methode zur Stressreduzierung eine Vielzahl verhaltenspädagogischer
Maßnahmen. Seit zwei Jahrzehnten als Psychologin in der Lehrer-
und Ärztefortbildung tätig und selbst Mutter von fünf Kindern,
argumentiert sie für eine wertschätzende Behandlung problematischer
Kinder und für eine lösungsorientierte Kommunikation, die effektives
und freudvolles Lernen erleichtere. Die Autorin zeigt anhand ausgewählter
Beispiele, wie man Probleme in Ziele umwandelt, aus der Fehlersuche ein
Entdecken kleiner Erfolgen macht. Ausblick auf Entwicklung und liebevolle
Begegnung sollen helfen, das Ruder in gelingendes Miteinander zu lenken.
Die Anwendung prozess- und embodimentfokussierter Psychologie reduziere
den Stress und stärke den Selbstwert bei allen Beteiligten, auch
bei den betroffenen Lehrern. Kinder mit Ritalin und entsprechend sich
selbst, wie das so manch ein Lehrer resigniert tut, mit Alkohol zuzudröhnen,
wäre sicher einfacher. Ein Buch gegen den Zeitgeist. Kartoniert,
118 Seiten, 13 Abbildungen, Kleinformat (9,2 x 14,4 cm), ISBN 978-3-8497-0026-3.
Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2015. € 9.95 Peter Lehmann
Mark A. Reinecke: Das kleine Anti-Angst-Buch. Die Notfallapotheke
für Angstsituationen
Aus dem Amerikanischen übersetztes kleines, kompaktes Buch eines
Psychiaters und Verhaltensforschers mit 20 Lektionen und Übungen,
basierend auf kognitiver Verhaltenstherapie und affektiver Neurowissenschaft,
um die Gedanken so zu filtern, dass das eigene Denken, Fühlen und
Verhalten in positiver Weise verändert wird. Jede der Übungen
ist klar gegliedert in eine kurze Beschreibung, den enthaltenen Kerngedanken,
mögliche Einwände sowie Vorschläge, was man selbst tun
kann. Der Untertitel "Notfallapotheke für Angstsituationen"
des Patmos Verlags ist dagegen dumm und irreführend: Psychopharmaka
jeglicher Art kommen in dem Buch absolut nicht vor. Statt dessen beinhaltet
es obwohl von einem Psychiater geschrieben ein Plädoyer
für eigenes Aktivwerden in Gelassenheit anstelle von panischem Pillenschlucken.
Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 115 Seiten, ISBN 978-3-8436-0216-7.
Ostfildern: Patmos Verlag 2012. € 12.99 Peter Lehmann
Brigitte Reiskopf: Unchained
psychosis Leben im Ausnahmezustand
Recht unorthodox geschrieben und eher unübersichtlich zu lesen, empfiehlt
sich das im Herbst von Brigitte Reiskopf im Leipziger Engelsdorfer Verlag
vorgelegte autobiographische Werk zum "Leben im Ausnahmezustand".
Denn umso tiefer geht die Lektüre zum individuellen Betroffenen-Erleben
der Autorin, die wahrlich Prägnantes, Intensives seit ihrer Kindheit
erlebt hat und durchleben musste. Die Schilderungen berichten vom Ausgeliefertsein:
von ungesundem familiärem Kontext, sexuellem Missbrauch bis zu unseligen
Psychiatrie-Behandlungen mit medikamentösen Gefährdungen, heruntergespielt
durch eine verantwortungsarme Ärztin, was körperliche Schäden,
Lebensgefahr und "Alltagsuntauglichkeit" bewirkte, anstatt zu
helfen. Ritalin, Zyprexa, Benzodiazepine... das bekannte potente pharmakologische
Waffenregister war aufgeboten worden.
Erfreulich gelang eine selbstbefreiende Odyssee, per Selbstreflexion und
Selbstfindung, in der Liebe mit einem neuen Partner, durch künstlerisch-literarischen
Bezug und Aufarbeitung über natürliche Wege, so gut dies dann
eben geht. Das Surreale wurde paradoxerweise zum Halt. Die Kapitelinhalte
sind sehr persönlich und konkret, gerade auch in der Beschreibung
von Psychose-Wahrnehmungen: authentisch harte Kost, aber ohne Selbstüberschätzung,
ohne Schwarz-Malerei oder gar sprachlichen Hasstiraden gegenüber
(ehemaligen) Widersachern einem Phänomen, dem psychiatrieerfahrene
AutorInnen allzu oft erliegen. Gerade dieser Akzent macht das mit Lyrik
und einer figurativen Illustration durch die Künstlerin Dana Einhorn
auflockernd ergänzte Buch attraktiv und besonders.
Brigitte Reiskopf (Anfang 40, lebt in Niederösterreich) meint in
ihrem Statement als Resümee: "Es gibt Dinge, die sind "real"
skurril. Es gibt Dinge, die sind im "Surrealen" skurril. Und
es gibt Dinge, die sind im "Irrealen" skurril. Sofern Irreales
überhaupt Substanz haben kann. Bestand hat es keinen. Wesentlich
ist, wie wir zu Erlebtem stehen, wie wir es bewerten; des Weiteren, dass
wir positiv bleiben und uns besinnen auf das, was uns Kraft gibt. Sei
es die Natur. Sei es die Kunst. Alles, was uns verhilft zu Menschlichkeit
und Freiheit."
Broschur, 148 S., illustriert, ISBN 978-3-96145-970-4. Leipzig: Engelsdorfer
Verlag 2020. € 15, Gangolf Peitz
John Rengen / Olaf Nollmeyer: Rubio spuckt's aus. A Story from a Pharma-Insider
"Rubio spuckt's aus" ist, als Fiktion notdürftig verpackt, die Geschichte
von Rubio, einem schwedischen Pharmamanager, der mit skrupellosen Bestechungen
von Ärzten, Gutachtern und Regierungsvertretern rasant Karriere machte
und noch rasanter gefeuert wurde. Wer an Details der globalen, schmutzigen
und effektiven Pharmageschäfte interessiert ist (und über die
vielen Druck- und Rechtschreibfehler hinwegliest), wird glaubwürdig
und flott lesbar bedient, angereichert mit aktuellen Presseberichten und
Websites. Dass Rubio, dessen Geschichte nahezu identisch mit der des Autors
scheint, just in dem Moment, wo er gefeuert ist, Reue und Empörung
erfassen, hinterlässt einen kleinen Nachgeschmack. Rezension
im BPE-Rundbrief. Paperback, 125 Seiten, ISBN 978-3-89626-605-7. Berlin:
trafo verlag 2006. € 12.80 Kerstin Kempker
Anita Riecher-Rössler (Hg.): Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft
und Stillzeit
Bisher gab es drei nennenswerte Bücher zum Thema Psychiatrie, psychische
"Krankheit" und Schwangerschaft: " Wochenbettdepression"
von Katharina Dalton und Wendy Holton, "'Ich bin ganz und richtig'
Therapeutische Begleitung durch Psychose und Mutterschaft"
von Lilla Sachse sowie "Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft
und Stillzeit" von Anke Rohde & Christof Schaefer (siehe unten).
Jetzt ist noch ein drittes erschienen: "Psychische Erkrankungen in
Schwangerschaft und Stillzeit" herausgegeben von Anita Riecher-Rössler.
Auch dieses Buch beschäftigt sich mit Fragen, die für psychiatriebetroffene
Frauen existenziell sind: Was ist zu beachten, wenn bei oder nach psychischen
"Erkrankungen" eine Schwangerschaft geplant wird? Was, wenn
die Schwangerschaft ungeplant eintritt? Wie sieht eine optimale Betreuung
für Mutter und Kind während Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit
aus? Welche Psychopharmaka dürfen eingesetzt werden? Welche nichtpsychopharmakologischen
Wege der Unterstützung gibt es? Frau Riecher-Rössler ist Chefärztin
der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel. Damit ist im Grunde
seine inhaltliche Ausrichtung vorgezeichnet: Es geht um die Sichtweise
der Mainstream-Psychiatrie. Im ersten Teil des Buches werden "Krankheitsbilder"
in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt vorgestellt, also Depressionen
in der Zeit nach der Geburt, Psychosen, Angstzustände während
der Schwangerschaft, Drogenabhängigkeit und auch die Rolle der männlichen
Partner. Der zweite Teil befasst sich mit Behandlungsaspekten vor, während
und nach der Geburt natürlich auch und vor allem Psychopharmaka
und Elektroschocks, aber auch mit therapeutischen Aspekten, und der dritte
Teil handelt von Prävention und Beratungsangeboten. Von den psychotherapeutischen
Vorschlägen und der Lichttherapie abgesehen, bekräftigt das
Buch die Lehrmeinung, dass die Nichtgabe von Psychopharmaka deren Risiken
überwiegt. Frauen, die vor, während oder nach der Schwangerschaft
in psychiatrische Hände gelangen, welche sich an diesem Buch orientieren,
müssen sich darauf einstellen, dass ihnen Psychopharmaka oder gar
Elektroschocks als risikoarm und effektiv angeboten werden. Natürlich
werden in dem Buch auch Psychopharmakarisiken angesprochen: Fruchttod
zu Beginn der Schwangerschaft, Fehlbildungen des Fötus speziell in
der 5.-12. Woche (speziell bei Phasenprophylaktika), Wachstums- und Entwicklungsstörungen,
toxische Wirkungen oder Entzugssyndrome nach der Entbindung beim Neugeborenen,
eine mögliche langfristige Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung
sowie Probleme des Übertritts von Psychopharmaka über die Muttermilch
beim Stillen oder der Folgen des Abstillens. Der dritte Teil handelt von
Prävention; wie kann übermäßigem Säuglingsschreien
vorgebeugt werden, welche Strategien gibt es zur Betreuung schreiender
Säuglinge u.v.m. Insgesamt wird aus der Lektüre des Buches noch
einmal das Ausmaß der besonderen Problemsituationen deutlich, in
die Frauen mit psychischen Problemen durch eine Schwangerschaft kommen
können; einfache Rezepte gibt es kaum. Eine sorgfältige Abwägung
der Vor- und Nachteile der typischen psychiatrischen Behandlungsmittel
ist auf Grundlage dieses Buches allerdings nicht möglich. Behandlungsbedingte
Risiken werden kleingeredet, oder man versucht, sie durch nicht minder
toxische Strategien zu umschiffen Beispiel: Ersetzung von Antiepileptika,
die als Phasenprophylaktika gegeben werden, durch sog. atypische Neuroleptika
oder Umstellung auf Lithium, da diese Substanz nur eine "fragliches
minimales kardiales Fehlbildungsrisiko" aufweise. Mit " fraglich"
und "minimal" meint die Autorin an dieser Stelle vermutlich
das nachgewiesene sechs mal häufiger auftretende Risiko von Schäden
an Herzgefäßen und die 150 mal häufiger auftretende Ebstein-Anomalie,
einen Herzklappenfehler) bei Babys, deren Mütter während der
Schwangerschaft Lithium erhielten. Betroffenen Frauen und ihren Partnern
ist deshalb dringend geraten, eine zweite und dritte und vor allem
vorurteilsfreie Meinung einzuholen, die den tatsächlichen
Gesundheitsrisiken von Mutter und Baby das Gewicht einräumt, das
dem Anspruch auf medizinische Sorgfalt und auf körperliche Unversehrtheit
und optimale Betreuung von Mutter und Baby in einer besonders sensiblen
und gefährdeten Lebenssituation gerecht wird. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, X + 152 Seiten, 14 Abbildungen, 30 Tabellen,
ISBN 978-3-8055-9562-9. Basel: Karger Verlag 2012. € 55.
Hier die drei anderen genannten Bücher: Dalton,
Katharina / Wendy Holton: Wochenbettdepression. Erkennen Behandeln
Vorbeugen Rohde, Anke / Christof Schaefer: Psychopharmakotherapie
in Schwangerschaft und Stillzeit. Arzneisicherheit Beratung
Entscheidungsfindung Sachse, Lilla: "Ich bin ganz und
richtig" Therapeutische Begleitung durch Psychose und Mutterschaft Peter Lehmann
Peter Riedesser / Axel Verderber: »Maschinengewehre hinter der
Front« Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie Umfassende und kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der deutschen
Militärpsychiatrie von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik
und den Faschismus bis zur heutigen Bundeswehr. Unter der Annahme, Militärpsychiatrie
könne keine neutrale Wissenschaft sein, setzen sich die Autoren mit
dem "Missbrauch" der Psychiatrie auseinander. Nie sei es um
Heilung gegangen, immer nur um Disziplinierung, und die Folgen seien gewalttätige
und schmerzhafte »Therapie«verfahren gewesen. Weshalb die Autoren
auf die Frage verzichten, wo der prinzipielle Unterschied der Militärpsychiatrie
zur "neutralen" Psychiatrie liegt mit ihren ebenfalls konfliktunterdrückenden
Verabreichungen kaum weniger schmerzhafter Anwendungen (Neuroleptika,
Elektroschocks, Insulinschocks) oft unter Gewaltanwendung oder -androhung,
bleibt ihr Geheimnis. Wegen seiner Faktenfülle ist das Buch dennoch
wichtig und lesenswert. Mit einem Kapitel zur Militärpsychiatrie
nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Bundeswehr und einem Vorwort der
Autoren zur Neuauflage 2004. Kartoniert, 248 Seiten, 3 Abbildungen, ISBN
3-935964-52-8. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag, 2. Auflage 2004. €
24. Peter Lehmann
Uwe Ritzer / Olaf Przybilla: Die Affäre Mollath Der Mann,
der zu viel wusste Der 1956 in Nürnberg geborene Gustl Mollath ist bekannt geworden,
weil sich die Medien seiner annahmen, als es unübersehbar wurde,
dass er sieben Jahre offenbar als Opfer eines Scheidungskriegs und typisch
schludriger psychiatrischer Gutachten in der Gerichtspsychiatrie einsaß.
Mit einem solchen Schicksal ist er nicht alleine; was seinen Fall so besonders
macht, zeigt das äußerst sorgfältig recherchierte Buch
von Uwe Ritzer und Olaf Przybilla, beides Journalisten bei der Süddeutschen
Zeitung, anschaulich auf. Das Buch ist in neun Kapitel aufgeteilt.
Es beginnt mit Mollaths Werdegang, Ehe, Scheidung und Psychiatrisierung,
als er die Verwicklung seiner Ehefrau in illegale Geldgeschäfte der
Hypovereinsbank anprangert. Im nächsten Kapitel wird, quasi im Vorgriff,
das Gutachten des Psychiaters Hans Simmerl von 2007 beschrieben, das bei
Mollath keinerlei psychotische Symptome feststellt, lediglich querulatorische
Züge und eine rechthaberische Grundhaltung. Trotzdem (oder deshalb)
bleibt Mollath noch weitere fünf Jahre in der Gerichtspsychiatrie.
Kapitel 3 geht zur ursprünglichen Gerichtsverhandlung von 2006 zurück,
als Mollath wegen angeblicher Gemeingefährlichkeit (Körperverletzung,
Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung im Affekt) von einem offenbar
voreingenommenen Richter in einem dilletantischen Verfahren, begleitet
von richterlichem Gebrüll, in die Forensik versenkt wurde. Dem Folgekapitel
liegt das Verhalten der Justizbehörde zugrunde, die es nicht für
nötig hielt, die Beweise anzuschauen, mit denen Mollath illegale
Geldgeschäfte belegte, die ihm als Hirngespinst ausgelegt worden
waren. Kapitel 5 beschreibt mafiaähnliche Zustände in der bayerischen
Politik und Justiz und deren Herumgeeiere (SPD inklusive), als der Justiz-
und Psychiatrieskandal immer offensichtlicher wird. Außerdem dokumentieren
die Autoren das Verhalten der Hypovereinsbank, der die Geldschiebereien
anscheinend bekannt waren und die dennoch, so die Aussage der Autoren,
von sich aus absolut nichts zur Entlastung von Mollath beitrug. Zum Schluss
durchleuchten die Autoren die schwachsinnigen psychiatrischen Gutachten
über Mollath, die jede seiner Äußerungen, und sei es sein
Wunsch nach Kernseife, zum Symptom seiner angeblichen Geisteskrankheit
uminterpretierten. Und dann die wundersame Freilassung Mollaths. Ein durch
und durch atypischer Fall: nicht wegen der skandalösen Umstände,
unter denen er in die Gerichtspsychiatrie verbracht wurde, sondern wegen
des öffentlichen Interesses, das er und seine Unterstützer herstellen
konnten, und der Sorgfalt, mit der die Autoren das Material zu einer krimiähnlichen
Lektüre aufbereitet haben. Empfohlen als schön böses Weihnachtsgeschenk
für alle, die noch an Wissenschaftlichkeit und Ethik der Psychiatrie
glauben. Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzumschlag, 238 Seiten, ISBN 978-3-426-27622-8.
München: Droemer Verlag 2013. € 19.99 Peter Lehmann
Eckhard Roediger: Wege aus der Angst.
Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige
"Wie Ängste entstehen", lautet das erste Kapitel des übersichtlichen
und verständlichen Buches. Eckhard Roediger beginnt mit dem Abschnitt
"Körperliche Grundlagen des Angsterlebens". Roediger ist
Neurologe, organische Dispositionen sind für ihn wichtig. Als tiefenpsychologisch
orientierter Therapeut, der am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe
in Berlin arbeitet, schlägt er mehr oder weniger undogmatische Bögen
zwischen Neurologie, Antroposophie, Verhaltenstherapie und Psychiatrie.
Allerlei durchaus sinnvollen Ratschlägen, Angst- und Panikanfälle
zu verstehen und vernünftig mit ihnen umzugehen, sowie Selbsthilfe-Übungen
und psychotherapeutischen Techniken steht allerdings der psychiatrische
Vorschlag entgegen, Psychopharmaka einzusetzen, insbesondere die marktaktuellen
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), denen der Neurologe die Förderung
der Aussprossung von Hirnzellen im Hippocampus nachsagt, was zu verbesserten
Lerneffekten führe. Neuere Forschungen, die Roediger allerdings nicht
benennt, würden darauf hinweisen. Doch dies ist eine sehr schwer
(oder niemals) zu beweisende und recht abenteuerliche Hypothese. Das würde
auf ein so genanntes Hirndoping hinauslaufen, was im Grunde auch das bewusste
Lernen von "Gesunden" verbesserte. Werden lernschwache Schulkinder
vielleicht bald schon SRI bekommen? Um auf die Frage des Einsatzes dieser
Antidepressiva bei unter Ängsten leidenden Menschen zurückzukommen:
Wäre es nicht sinnvoll, erst mal die therapeutische Wirkung der SSRI
nachzuweisen? Kartoniert, 175 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen,
ISBN 3-7725-5019-3. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2005. €
14.50 Peter Lehmann
Heinz-Peter Röhr: Vom Glück, sich selbst zu lieben. Wege
aus Angst und Depression
Flüssig geschriebener und leicht verständlicher Ratgeber für
Menschen, die sich darauf einlassen können, dass der Autor immer
wieder Grimms Märchen "Der Teufel mit den drei goldenen Haaren"
heranzieht, um seinen differenzierten Vorschlägen zur Überwindung
des eigenen inneren negativen Selbstbildes zu folgen. Laut Heinz-Peter
Röhr tragen Menschen mit traumatischen Erfahrungen, denen Schlimmes
angetan wurde, zwar in keiner Weise die Schuld dafür (diese liegt
einzig bei den Tätern), allerdings die Verantwortung dafür,
dass sie all ihre Energie darauf verwenden, aus der Opferidentität
herauszutreten und trotz allem Vorgefallenen möglichst glückliche
Menschen zu werden. Damit liegt er auf ähnlicher Linie wie Tina Stöckle,
die ihr Buch "Die Irren-Offensive Erfahrungen einer Selbsthilfeorganisation
von Psychiatrie-Opfern" in der Neuauflage in "Die
Irren-Offensive Erfahrungen einer Selbsthilfeorganisation von Psychiatrie-Überlebenden"
umbenannt haben wollte. Original 2001 im Penda Verlag erschienen. Kartoniert,
185 Seiten, ISBN 3-530-40182-X. Düsseldorf & Zürich: Walter
Verlag 2005. € 14.90 Peter Lehmann
Thomas Röske / Bettina
Brand-Claussen / Gerhard Dammann (Hg.): Wahnsinn sammeln Outsider
Art aus der Sammlung Dammann / Collecting madness Outsider Art
from the Dammann Collections
Deutsch-englischer Ausstellungskatalog mit vielen farbprächtigen
großformatigen Abbildungen von Gemälden, Zeichnungen, Figuren,
Objekten, Schnitzereien ... beeindruckend durch Kraft und Eigensinn. Wahnsinn
einmal nicht als Feld der Psychiatrie, sondern als Feld, dem radikale
Kunst und ihr Sammeln entwachsen. "Verrückte" Sammler und
Galeristen werden intensiv befragt und analysiert ist es Sucht,
ist es Leidenschaft, was ist es? Aquarelle und Zeichnungen von Adelheid
Duvanel und Unica Zürn, die als Autorinnen bekannt wurden, zähnebleckende
Madonnen-Objekte von Hans Schärer, schreiende Torsi an einem geschnitzten
Bett, das um 1880 in einer französischen Anstalt entstand, eine "erstaunliche
Parallelwelt neben der offiziellen Institution Kunst". Beiträge
von Maria A. Azzola, Bettina Brand-Claussen, Peter Gorsen, Monika Jagfeld,
Floria Reese, Barbara Safarova, Michael Schroeder und Wolfgang Ullrich.
Gebunden, 224 Seiten, 100 farbige Abbildungen, 20 x 28 cm, ISBN 3-88423-265-7.
Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2006. € 29.90 Kerstin Kempker
Gisela Roggendorf / Katja Rief: Schizophrenie ein Denkausbruch
mit Folgen. Eine Positivtheorie
Hier geht es um eine neue "Theorie der Schizophrenie-Entstehung", die
als Ursache keinen Defekt und keine genetische Schwäche postuliert,
sondern eine atypische Häufung von guten und starken Charaktereigenschaften
sowie eine Anpassungsunfähigkeit. So bricht die Balance zusammen,
das Denken gerät in Unordnung, ein Gefühls- und vor allem ein
Denkausbruch findet statt und bei den Betroffenen treten schließlich
Erschöpfungszustände ein, die sie in Tabuzonen geraten lassen,
bis eine Verständigung mit ihnen nicht mehr möglich scheint.
Ein nachvollziehbarer Ansatz, wäre da nicht der absolute Anspruch
der Autorinnen einer Psychiaterin und einer Politikwissenschaftstudentin
, ihre Theorie erkläre schlüssig jedes Detail, das im
Zusammenhang mit "Schizophrenie" auftritt: "Die vorliegende
Theorie ist eine vollständige und nicht widerlegbare Darlegung der
Entstehung schizophrener Symptome." "Schizophrenie ist und bleibt
eine Krankheit" schreiben sie weiter und halten es für erstrebenswert,
wenn Befürworter und Gegner des Krankheitsbegriffs eine Einigung
fänden. Leider machen sie hierzu keinen Vorschlag, was angesichts
ihres Überzeugtheitsgrads nicht verwundert. Dass "Schizophrenie"
als Krankheit zu definieren sei, begründen sie unter anderem mit
dem Argument, sie würde mit Medikamenten und in Krankenhäusern
behandelt. Ähnliches könnte auch Kritikern der Psychiatrisierung
sowjetischer Dissidenten entgegnet werden: Ist die Neigung zu demokratischen
Verhältnissen deshalb eine Krankheit, weil die Missliebigen in Anstalten
gesteckt werden und Psychopharmaka gespritzt bekommen? Würden die
Autorinnen psychiatrisch diagnostizierte Menschen nicht in altbekannte
diagnostische Schubladen sperren ("die Schizophrenen", "die
Genialen"), die Verwendung von Psychopharmaka nicht per se gutheißen
und den existentiellen Unterschied zwischen einem Modell und der Realität
nicht ausblenden, könnte man diesem Denkausbruchsversuch aus der
herrschenden Ideologie weit positiver gegenüberstehen. Wer allerdings
noch im biopsychiatrischen Krankheitsdenken verfangen ist, findet in diesem
Buch sicher Denkfreiräume. Man muss den Autorinnen ja nicht auf den
Leim gehen und glauben, jenseits ihrer Einsichten und Vorstellungen sei
die Welt zu Ende. Gebunden mit Schutzeinschlag, 204 Seiten, ISBN 978-3-9803103-9-0.
Bielefeld: Gisela Roggendorf Verlag 2006. € 19.50 Peter Lehmann
Anke Rohde / Christof Schaefer:
Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit. Möglichkeiten
und Grenzen
Aus der Sicht der herrschenden Medizin geschriebenes, dennoch nicht unreflektives
im Verhältnis zum Umfang leider teures Buch, aus dem
die Unsicherheit und Risikobehaftetheit von psychiatrischen Psychopharmaka
aller Art für Fötus und Neugeborenes deutlich wird: im negativen
Fall Einzelfallberichte über Schäden oder nachweislich erhöhte
Risiken, im positiven Fall eine unzureichende Datenlage. Die Risikoabschätzung
bleibt den Betroffenen nicht erspart, wollen sie sich nicht blind auf
das Urteil von Ärzten verlassen. Auch für NichtmedizinerInnen
recht verständlich geschrieben. Kartoniert, VIII + 71 Seiten, 3 Abbildungen,
ISBN 3-13-134331-1. Stuttgart / New York: Thieme Verlag 2006. €
19.95 Peter Lehmann
Marius Romme / Sandra Escher: Stimmenhören
verstehen Der Leitfaden zur Arbeit mit Stimmenhörern
Nach "Stimmenhören akzeptieren" geht es jetzt um das Verstehen
von Stimmen: um alternative Erklärungs- und Therapieansätze
sowie therapeutische Interventionen wie Stimmeninterviews, Berichte und
Konstrukte als methodische Hilfsmittel, damit Therapeuten und über
sie auch Betroffene die Beziehung zwischen Stimmen und individueller Lebensgeschichte
analysieren und der Bedeutung der Stimmen auf die Spur kommen können.
Romme und Escher empfehlen, die in dem Buch erläuterten Methoden
nur in Verbindung mit der Teilnahme an speziellen Fortbildungskursen und
möglichst gemeinsam von Profi und Stimmenhörer anzuwenden. Das
Buch ist in drei Teile untergliedert. Teil I erklärt die Notwendigkeit
eines neuen Ansatzes, die Auswirkung von Forschung auf die Diagnostik
und den Zusammenhang von Stimmen und Lebensgeschichte. Teil II führt
den Fragebogen ein als Mittel, diese Beziehung zu analysieren und zu einem
Konstrukt (welch scheußlicher Begriff) weiterzuentwickeln, das die
zugrunde liegenden Probleme definiert. Teil III befasst sich mit den Interventionen
und mit Erklärungen, die Stimmenhörer für ihre Stimmen
haben. Leider fehlt in der erwähnten Literatur, über die man
sich mit Erfahrungen von Stimmenhörern vertraut machen soll, ausgerechnet
das Buch "Meine
Stimmen Quälgeister und Schutzengel. Texte einer engagierten
Stimmenhörerin" von Hannelore Klafki, der 2005 gestorbenen
Gründerin des deutschen Netzwerks Stimmenhören. Im Maastrichter
Fragebogen, der dem Buch beiliegt, werden u.a. traumatische Erfahrungen
insbesondere in der Kindheit abgefragt. Ausgespart werden allerdings ausgerechnet
Fragen nach traumatischen Psychiatrieerfahrungen, dabei ist der Zusammenhang
zwischen Missbrauch in der Kindheit, Wiederholung traumatischer Erfahrungen
in der Psychiatrie (erzwungenes Entkleiden, erzwungener Bettaufenthalt,
gewaltsame Manipulationen am Körper) und Stimmenhören wie auch
anderen Formen verrückter Lebens- und Sinnesweise hinreichend bekannt.
Kartoniert, 240 Seiten, mit der 16seitigen Beilage "Maastrichter Fragebogen",
ISBN 978-3-88414-442-8. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2008. € 24.90 Peter Lehmann
Matthias Rosemann: BTHG Die wichtigsten Neuerungen für die psychiatrische Arbeit
Dieses kleine hochaktuelle Buch stellt einen Wegweiser durch das neue
Teilhaberecht dar und möchte den Leser ermutigen, sich den Veränderungen
des BTHG zu stellen und sie mitzugestalten. Rosemann stellt die wichtigsten
Neuerungen dar, die der Gesetzgeber möglich macht. Dabei konzentriert
er sich auf ausgewählte, für die psychiatrische Arbeit relevante
Texte. Er zeigt auf, wie die Selbstbestimmungsrechte und Ansprüche
auf Unterstützung von Menschen mit Behinderungen gestärkt werden.
Die Vor- und Nachteile dieser Analyse arbeitet Rosemann gut und verständlich
heraus. Der Behinderungsbegriff des SGB IX wird folgenreich neu gefasst.
Der Kern des BTHG ist die Überführung der Eingliederungshilfe
SGB IX in ein eigenes Gesetz, erfolgend zum 01.01.2020. Dann werden die
Vorschriften der Eingliederungshilfe zu einem neuen Teil des SGB IX. Der
bisherige Teil 2 des SGB IX, das Schwerbehindertenrechts wird zu Teil
3 des SGB IX. In dem Buch werden auch zentrale Begriffe wie Assistenz,
Selbstbestimmung und Teilhabe in der Gesellschaft, die gestärkt wird,
gut erklärt. Laut UN-Behindertenrechtskonvention (am 03.05.08 von
der BRD ratifiziert) und § 1 SGB IX (seit 2018) ist die volle, wirksame
und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen und Benachteiligungen
zu vermeiden und ihnen entgegenzuwirken, im Grundsatz ein Antidiskriminierungsgebot.
Barrieren bestehen nicht nur aus baulichen oder sinnesorientierten Hindernissen,
sondern auch aus überholten Haltungen und gesellschaftlichen Konventionen.
Aus Rosemanns Buch geht hervor, wie der Abbau der Barrieren und Stigmatisierungen
mit diesem Gesetz gefördert wird. Weitere Thesen in dem Buch: In
der politischen Debatte steht das Ziel des Rechts auf Selbstbestimmung
stets dem zweiten Ziel (keine weitere Ausgabendynamik) in der Eingliederungshilfe
gegenüber. Menschen mit Beeinträchtigungen werden jetzt Menschen
mit funktionellen (krankheitsbedingten) Teilhabestörungen genannt.
Nach Lektüre des Buches scheint mir das neue Teilhaberecht allerdings
so kompliziert, wie auch die Ausführungen in diesem Buch, so dass
vor allen Dingen die Menschen, an die sich das BTHG richtet, bei der Antragstellung
unterstützt werden müssen, sofern sie nicht wider Erwarten doch
in der Lage sind, sich selbst zu vertreten. Kartoniert, 111 Seiten, ISBN
978-3-88414-698-9. Köln: Psychiatrie Verlag 2018. € 17. Marion Bennewitz
Julia Ross: Was die Seele essen
will Die Mood Cure Die Autorin vertritt die Ansicht, dass ein Großteil des emotionalen
Stresses auf Fehlfunktionen des Gehirns und Störungen der Körperchemie
zurückzuführen sind. Damit reiht sie sich grundsätzlich
ein in die normale biologische Weltsicht der Mainstream-Psychiatrie. Gesellschaftliche
Faktoren werden ebenso ausgeblendet wie Umweltfaktoren. Innerhalb dieses
auch erkenntnistheoretisch massiv eingeschränkten Rahmens bewegt
sich die Autorin. In typisch amerikanischer Begeisterung reklamiert sie
die Erfindung der Beeinflussung der Psyche durch Nahrungsumstellung und
Nahrungsergänzungsstoffe für sich (Überschrift: "Wie
ich die Stimmungskorrektur entdeckte"). Die Darstellung ihres Programms
beinhaltet eine schwer verträgliche Mischung aus Anekdoten und sachlichen
Ausführungen. Wer all diese Kröten schluckt, möglicherweise
in verzweifelter Absicht, für sich selbst brauchbare Tipps zu finden,
um psychischen Notlagen zu entkommen, kann in diesem Buch mit kritischem
Blick zwar nicht unbedingt Tipps zur gesunden Ernährung und zu naturbelassenen
Nahrungsmitteln finden, die ja auch einen erheblichen Einfluss auf Körper,
Geist und Psyche haben, dafür aber möglicherweise hilfreiche
Informationen über Aminosäuren incl. Produktempfehlungen, die
die Psyche in die gewünschte Richtung beeinflussen. Informationen
über unerwünschte Wirkungen von Nahrungsergänzungsmitteln
muss man sich allerdings an anderer Stelle holen. Wer nun vor der Frage
steht, ob es besser ist, seine Psyche mittels Nahrungsergänzungsstoffe
oder mittels psychiatrischen Psychopharmaka zu beeinflussen, findet in
dem Buch massenhaft Belege dafür, dass es ungleich erfolgsträchtiger
ist, dies mit Nahrungsergänzungsstoffen zu versuchen. Dies betrifft
auch die Verminderung von Problemen beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka;
hierbei können Nahrungsergänzungsstoffe eine ausgesprochen hilfreiche
Rolle spielen. Allerdings ist es fraglich, ob Ross' Empfehlung, bloß
nicht auch nur ein einziges Medikament ohne ärztliche Betreuung abzusetzen,
angesichts der oft positiven Erfahrungen von Betroffenen, die dies alleine
oder mit Hilfe von Naturheilpraktikern, Psychologen, Sozialpädagogen
und anderen Nichtmedizinern oder im Selbsthilfebereich erfolgreich bewältigt
haben und angesichts der Verunsicherung, die von Medizinern ausgehen kann,
wirklich so hilfreich ist, wie sie meint. Dies gilt auch dies ist
allerdings nicht der Autorin anzulasten, sondern dem Klett-Cotta Verlag
und seinen Beratern für die "hilfreichen Links am Ende des
Buches, zum Beispiel das sogenannte Kompetenznetz Depression mit seiner
Empfehlung von Elektroschocks bei Depressionen oder der Website www.psychiatrie-aktuell.de
mit Links zur Pharmamultis und von ihr gesponserten Gruppen. Wer bislang
von Ross' Ratschlägen zu "Gute-Laune-Lebensmitteln" profitiert
hat, wird schnell wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht. Gebunden,
432 Seiten, ISBN 978-3-608-94654-3. Stuttgart: Klett-Cotta, 2. Auflage
2010. € 24.90 Peter Lehmann
Hans G. Rudzinski: Delirius
Roman eines Selbstzerstörung, geschrieben aus einer völlig unklaren
Erzählperspektive. Zwar ist der Roman in Ichform verfasst, aber die
Handlung bereits diagnostisch beschrieben. So haut der Protagonist beispielsweise
nicht etwa in panischer Angst seinen Schädel an die Wand, sondern
"es setzen Selbstverletzungsattacken ein"; statt dass er beispielsweise
schreiend durch den Wald rennt und ein Wolfsrudel abzuhängen versucht,
das hinter ihm her ist und ihn aufzufressen versucht, "steckt er
noch mitten drin in der Psychose". Lebendige und direkte Sprache,
die das Erleben Verrückter glaubhaft und ungebrochen darstellt, sieht
anders aus. Kartoniert, 141 Seiten, ISBN 978-3-938157-95-4. Jena usw.:
Verlag Neue Literatur 2009. € 10.90 Peter Lehmann
Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie Psychisches Leiden ist keine
Krankheit. Die Medizinalisierung abweichenden Verhaltens ein Irrweg Rezension
1), erschienen mit der schulmeisterhaften Überschrift "Verborgene
Diffamierung der Psychiatrie" in: Der
Eppendorfer Zeitschrift für die Psychiatrie (Brunsbüttel),
4. Jg. (1989), Nr. 2. Rezension
2), erschienen in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 13. Jg.
(1989), Heft 4, S. 117-118. Kartoniert, 232 Seiten. Bern & Bonn: Zytglogge
Verlag 1988. DM 30. Peter Lehmann
Klaus-Dietrich Runow: Wenn Gifte auf die Nerven gehen Wie wir
Gehirn und Nerven durch Entgiftung schützen können Umweltmedizinisches Fachbuch, das für ein ganzheitliches Gesundheitskonzept
plädiert und Antworten gibt auf Fragen wie: Können Umweltgifte,
Pollenallergien oder Nährstoffdefizite für körperliche,
psychische und neurologische Beschwerden verantwortlich sein? Können
Nahrungsmittel Hyperaktivität bei Kindern oder sogenannte Psychosen
verursachen? Kann eine Entgiftungsbehandlung zur Linderung von Nerven-
und Gehirnstörungen beitragen? Welche körpereigenen Substanzen
bzw. Vitalstoffe können neurologische Beschwerden lindern? Gebunden
mit Schutzeinschlag, 173 Seiten, 10 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN
978-3-517-08387-2. München: Südwest-Verlag 2008. € 12.95 Peter Lehmann
Ingo Runte: Begleitung höchst persönlich Innovative
milieutherapeutische Projekte für akut psychotische Menschen
Lesenswerte Arbeit über die wichtigsten internationalen Alternativprojekte.
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen vier erfolgreiche sogenannte milieutherapeutische
Projekte, die "akut psychotischen" Menschen eine wirksame Alternative
zur Überwindung ihrer Krise bieten können: Die Soteria Kalifornien
als Pionier-Einrichtung der Soteria-Häuser, das Burch House in der
Tradition von Laing, die Soteria Bern und das in Deutschland noch wenig
bekannte Windhorse-Programm. Kart., 264 S., ISBN 3-88414-275-5. Bonn:
Psychiatrieverlag 2001. € 36. Peter Lehmann
Franz Ruppert: Verwirrte Seelen Der verborgene Sinn von Psychosen.
Grundzüge einer systemischen Psychotraumatologie
Versuch des Hellinger-Schülers Ruppert, aus dessen fragwürdigen Aufstellungs-Erfahrungen
eine Theorie psychischer "Störungen" und ihrer "Heilung"
zu machen. Gebunden mit Schutzumschlag, 477 S., ISBN 3-466-30600-0. München:
Kösel Verlag 2002. € 29.95 Peter Lehmann
Ulrike S. / Hans Reinecker: ABC
für Zwangserkrankte. Tipps einer ehemals Betroffenen
Ein typischer Ratgeber, Plädoyer für Verhaltenstherapie, locker
geschrieben und alphabetisch gegliedert von A wie "Aberglaube"
über H wie "Hölle" und M wie "Medikamente"
bis Z wie "Zuversicht". Ich lese Seite 68, "Medikamente",
und erfahre, man solle den Beipackzettel nicht zu ernst nehmen. Weil:
Ohne Psychopharmaka hätte die Autorin nicht gesund werden können,
so ihre Worte. Weshalb andere sich deshalb nicht um Risiken und sog. Nebenwirkungen
kümmern und alles ärztlich Verordnete brav schlucken sollen,
verrät sie nicht. Dafür ihre Grundhaltung: "Wenn Sie keine
Medikamente brauchen, was durchaus der Fall sein kann, dann sollte diese
Erkenntnis vom Therapeuten kommen und nicht von der Freundin oder der
Gemüsefrau um die Ecke." Somit erübrigt sich unter V die
Rubrik "Verachtung eigenständigen Denkens". Kartoniert,
107 Seiten, ISBN 3-525-46263-8. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2006. € 14.90 Peter Lehmann
Ischtar Sabbathon: VorLaut. Wie ein Friedensengel lernte, Tacheles
zu reden
Als ich das Buch »VorLaut« geschenkt bekam, begann ich es neugierig
zu lesen. Und während des Lesens kam mir immer wieder die Frage:
»Warum heißt dieses Buch VorLaut« ? Bis zu
diesem Zeitpunkt war »vorlaut« für mich eine unangenehme
Eigenschaft, die mir, als ich Kind war, mit Nachdruck ausgetrieben wurde:
Man drängt sich nicht in den Vordergrund; Kinder sprechen nur, wenn
sie gefragt werden. Während des Lesens spürte ich aber, dass
»VorLaut« hier auch etwas ganz anderes meinte. Ich begann zu
begreifen, dass Kinder schon ganz früh Sprache verstehen lernen und
damit ein Gespür entwickeln, Lebenszusammenhänge zu erfassen.
Und weil sie noch nicht fähig sind, aktiv zu sprechen, bleibt ihnen
das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und dass ihnen etwas verborgen
gehalten wird, mit dem sie sich oft viele Jahre im Leben, manche sogar
lebenslang, herumplagen. Ischtar Sabbathon (der Autorenname ist ein Pseudonym),
1945 in Deutschland geboren, wuchs in einer zusammengewürfelten Familie
auf, in der es seit Generationen Tradition war, Themen von Missbrauch
und Gewalt in einer intimen Tabukiste verschwinden zu lassen. Ischtar
hat in den Jahren des Heranwachsens in dieser Familie ein Fremdheitsgefühl.
Sie spürt, dass ihr etwas fehlt. Ein ganz merkwürdiges Gefühl
spricht zu ihr, dass sie in dieser Familie aufwächst, sich aber als
nicht dazugehörig empfindet. Sie ahnt, dass ihr die Lebensumstände
ihrer eigenen Herkunft und Geburt bislang verschwiegen wurden: Faktoren,
die zu ihr gehören und ihre eigene Identität ausmachen. Sie
geht dieser noch nicht in Sprache zu fassenden Ahnung nach und findet
auf ihrer biographischen Spurensuche in dem Geflecht von Unstimmigkeiten
und schicksalhaften Verstrickungen schließlich im Rahmen einer hypnotherapeutischen
Ausbildung zu ihren Wurzeln. Dass diese nun auch noch in der deutsch-jüdischen
Vergangenheit liegen, macht das vorliegende Buch zusätzlich zu einem
sehr feinfühligen Dokument der nationalsozialistischen Zeitgeschichte,
obwohl die Autorin nicht die Absicht hatte, ein weiteres Buch über
den Holocaust zu schreiben, sondern einzig und allein Spurensuche betrieb
auf dem Weg zu sich selbst. Diese Spurensuche, das Erkennen von Zusammenhängen,
das Einfügen der gefundenen Bausteine in ihr Lebensmosaik, beschreibt
die Autorin ohne Sentimentalität und wissenschaftliche überfrachtung.
Statt dessen wird der Leser zunehmend fasziniert und in die tiefgreifende
Erfahrung der Autorin mit hineingezogen, nicht zuletzt durch ihre sehr
sensible, klare und deshalb so packende Sprache. 318 Seiten, Schafft Verlag
2000. DM 34.50 Astrid Stecker
Lilla Sachse: "Ich bin ganz und richtig"
Therapeutische Begleitung durch Psychose und Mutterschaft
Bei diesem Buch handelt es sich um einen Erfahrungsbericht der Psychoanalytikerin
Lilla Sachse, bekannt durch das von ihr gegründete "Biotop Mosbach"
in dem eine Gruppe die Rolle des Wegbegleiters durch psychotische Krisen
übernahm. In ihrer 28jährigen Arbeit macht die Gruppe auch Erfahrungen
mit sogenannten psychotischen Müttern. Sechs von ihnen und ein Paar
stellt Sachse in ihrem Buch detailliert und mit Biographien und Interviewergebnissen
vor, skizziert die jeweiligen psychischen Problemsituationen beschreibt
ausführlich die unmittelbaren Erfahrungen in der therapeutischen
Begleitung. Kartoniert, 171 Seiten, ISBN 978-3-926200-44-0. Neumünster:
Paranus Verlag 2000. € 19.95 Peter Lehmann
Dieter Naber, Franz Müller-Spahn (Hg.): Clozapin. Pharmakologie
und Klinik eines atypischen Neuroleptikums. Eine kritische Bestandsaufnahme
Clozaril Patient Monitoring Newsletter, Nr. 5
Jolien Kok-van Esterik: Clozapine: Benefits and Risks of a Controversial
Drug
Wie bei allen anderen psychiatrischen Psychopharmaka entstehen bei Clozapin
(Leponex, Clozaril) nur öfter durch die spezielle Knochenmark-schädigende
Wirkung Entzündungen aller Art. Laut psychiatrischen Veröffentlichungen
überleben in ca. 40% aller Fälle die Betroffenen eine Agranulozytose
(Absterben der weißen Blutkörperchen mit lebensgefährlichen
Folgen) nicht. Im speziellen Fall der Leponex-bedingten Agranulozytose
beträgt die offizielle Sterblichkeitsrate 50%. Da öffentlich
bekannt wurde, dass bei Leponex die Rate der tödlich verlaufenden
Agranulozytosen höher ist als bei anderen Neuroleptika, sind Psychiater
oder Herstellerfirmen inzwischen bei der Anwendung dieses Neuroleptikums
offiziell zu gewissen formellen Auflagen (z.B. regelmäßigen
Blutbildkontrollen) verpflichtet. Auch eine Aufklärung über
das spezielle Risiko einer Agranulozytose sollte selbstverständlich
sein.
In der Regel scheinen sich Psychiater nicht an die Auflagen zu halten;
sie klären weder die Betroffenen selbst noch deren Angehörige
über den Charakter einer möglichen Agranulozytose auf, geschweige
denn über ihre möglichen Vorboten. Auch die starke abhängigmachende
vegetative Wirkung des Neuroleptikums wird in aller Regel nie erwähnt.
Wie die 10% Fälle, bei denen die Leponex-Behandlung nach
Ablauf der ersten 18 Wochen eine Agranulozytose hervorruft, wirksam geschützt
werden sollen, wurde bisher in der psychiatrischen Literatur nicht erwähnt.
Die im Ausnahmefall Leponex vorgeschriebenen, ansonsten gelegentlich von
Psychiatern interessehalber freiwillig oder zur Überprüfung
der Neuroleptika-Einnahme durchgeführten Blutbildkontrollen sind
kein sicherer Schutz vor Agranulozytosen. Der Wert regelmäßiger
Blutkontrollen wird von Psychiatern wie der Schweizerin Brigitte Woggon
gering geschätzt, weil es sich im Prinzip um Plazebokontrollen handelt;
Hans Joachim Kähler zur Wirksamkeit dieser Prophylaxe (Vorbeugung):
»Da der Beginn der Agranulozytose oft fulminant (explosiv) ist,
kommt solchen Blutbildkontrollen natürlich nur ein relativer prophylaktischer
Wert zu.«
Agranulozytosen treten gelegentlich mit Vorboten auf. Dies können
Krankheiten aller Art sein, vorwiegend Entzündungen. Die Gefährdeten
und ihre Angehörigen werden in aller Regel nicht über den Charakter
dieser Vorboten informiert, sie können die drohende Gefahr nicht
erkennen. Nach internen Mitteilungen von Psychiatern können folgende
Symptome den Beginn einer möglicherweise tödlich verlaufenden
Agranulozytose ankündigen: Entzündungen im Mund- und Rachenraum,
Fieberanstieg, Schüttelfrost, Schwitzen, Schwächegefühl,
Hinfälligkeit, Hautausschlag, Gelenkschmerzen, Gelbsucht, Abgeschlagenheit,
Appetitlosigkeit, Erbrechen, Durchfall. Auch andere Infektionen können
Anzeichen einer beginnenden Agranulozytose sein, so z.B. Otitis (Ohrenentzündung),
Pharyngitis (Rachenkatarrh; Schlundkopfentzündung), Halsentzündung,
Glossitis (Zungenentzündung), Stomatitis (Entzündung der Mundschleimhaut),
Gingivitis (Entzündung des Zahnfleischsaums), Angina, Lymphknotenschwellungen
oder Leberzellschäden. Wird die Neuroleptika-bedingte Zerstörung
der weißen Blutkörperchen nicht rechtzeitig festgestellt, die
Verabreichung von Neuroleptika nicht sofort beendet, kann es aufgrund
der körperlichen Abwehrschwäche leicht zu tödlichen Folgeinfektionen
kommen.
Wie Ross Baldessarini und Frances Frankenburg von der Harvard Medical
School in Boston im New England Journal of Medicine mitteilten, kann es
unter Leponex offenbar zu einer Reihe vielfältigster Störungen
des Zentralnervensystems und des Vegetativums kommen: z.B. zu epileptischen
Anfällen (weshalb manche Psychiater gleichzeitig auch noch Antiepileptika
verabreichen), Erhöhung des Prolaktinspiegels (die erhöhte Ausschüttung
dieses Hormons wird als krebsfördernder Faktor verdächtigt),
Blutdruckabfall (verbunden mit Übelkeit und Erbrechen), exzessivem
Speichelfluss (speziell während des Schlafs), Tachykardie (Herzjagen),
Verwirrtheit und Delir, und bei mindestens einem Drittel der Behandelten
nehme das Gewicht merklich zu. Da in den USA die jährlichen Kosten
für Leponex einschließlich der notwendigen Blutbildkontrollen
immerhin ca. 9000 $ pro »Patient« betragen sollten, weigerten
sich einige Bundesstaaten lange Zeit, die Verabreichung von Leponex im
Rahmen öffentlicher Hilfsprogramme zu finanzieren: »Obwohl Clozapin
einen einzigartigen antipsychotischen Wirkstoff ohne die meisten der charakteristischen
neurologischen Begleitwirkungen der neuroleptischen Standardwirkstoffe
darstellt, ist es mit seinen hohen Kosten, dem notwendigen Aufwand und
dem Risiko von Anfällen und Agranulozytose weit entfernt von einer
idealen Behandlung von Patienten mit stark behindernden ernsthaften psychischen
Krankheiten. Sein Wiedererscheinen 30 Jahre nach seiner Patentierung unterstreicht
den wesentlichen Mangel an Fortschritt bei der Entwicklung wirksamerer
und sicherer antipsychotischer Medikamente.«
Das Vorhandensein dieser kritischen Erkenntnisse mache ich zum Prüfstein
der Qualität der drei Publikationen. Wünschenswert wäre
auch eine Diskussion des Problems, dass (nichtorganische) »chronische
Psychosen« und »Behandlungsresistenz« in aller Regel Ergebnis
Neuroleptika-bedingter bleibender Rezeptorenveränderungen oder aber
verzweifelte Versuche sind, die eigene Identität zu bewahren, und
von daher die Clozapin-(Leponex-)Frage an sich unter dem Aspekt zu diskutieren
sind, warum es überhaupt noch zur Anbehandlung mit typischen Neuroleptika
kommt. Dieses grundlegende Problem ist in keinem der drei Publikationen
auch nur ansatzweise angedeutet.
In dem Naber/Müller-Spahn-Buch plädieren Vertreter von Pharmafirmen
und Universitätsanstalten unisono für eine massive Ausweitung
der Clozapin-Verabreichung: bei Depressionen, Manien, organischen Psychosen,
Schlafstörungen sollen auch bisher zurückhaltende Ärzte
Clozapin verschreiben, und auch Kinder sollen mehr als bisher der Absatzsteigerung
dienen. Gründe: In den USA würde ein Clozapin-(Leponex-)Boom
stattfinden, wieso nicht auch bei uns? Übliche Neuroleptika würden
schwere Schäden anrichten, z.B. tardive Dyskinesien, und die Zahl
der »Therapie«-Verweigerer bei normalen Neuroleptika sei enorm.
Allerdings hegten hierzulande Herstellerfirmen noch Bedenken gegen eine
zu weite Indikation; diese Ausweitung, so fürchten sie, könnte
spätere Schadenersatzklagen wegen Behandlungsschäden begünstigen
sehr realistisch. An »Nebenwirkungen« wird erwähnt:
Krampfrisiko, Akathisie (Sitzunruhe), Hypersalivation (übermäßiger
Speichelfluss), Müdigkeit, Kreislaufstörungen, Leberwertveränderungen,
EEG-Veränderungen, Neuroleptisches Malignes Syndrom, Agranulozytose,
Gewichtszunahme, plötzlicher Tod unter Kombinationsverabreichung
von Tranquilizern. Eine Auflistung bisher bekanntgewordener Vorzeichen
Clozapin-bedinger Agranulozytosen und die Beantwortung der Frage, wieso
die Betroffenen und ihre Angehörigen diese Listen nicht erhalten:
kein Thema in dem Buch. Prolaktin-Erhöhung: kein Thema. Nichts über
den eingeschränkten Wert wöchentlicher Blutbildkontrollen. Die
Frage, wie von Clozapin wieder wegkommen: kein Thema. Was an der »Bestandsaufnahme«
kritisch sein soll, weiß wahrscheinlich bloß der PR-Manager
des Verlags.
Im Newsletter lässt sich u.a. ein Dr. Mike Launer über das Thema
»Clozaril An opportunity for creative psychiatry« (»Leponex
Gelegenheit für kreative Psychiatrie«) aus und weist
Angehörigen als Erfüllungsgehilfen gemeindenaher Psychiater
ihren im Absatzsystem wichtigen Platz zu kein Wunder, dass in vielen
Ländern Angehörigengruppen von Pharmafirmen gesponsert werden.
Clozapin würde den Prolaktin-Spiegel nicht erhöhen, erfahren
wir. Studien, die das Gegenteil besagen, wie die von Ross Baldessarini
und Frances Frankenburg von der Harvard Medical School in Boston im New
England Journal of Medicine (Vol. 324 [1991], Nr. 11, S. 746 754),
werden nicht erwähnt. Dafür wird hier wenigstens vor einer Clozapin-Einnahme
während der Schwangerschaft und Stillzeit gewarnt, immerhin. Eine
Auflistung bisher bekanntgewordener Vorzeichen Clozapin-bedinger Agranulozytosen
und die Beantwortung der Frage, wieso die Betroffenen und ihre Angehörigen
diese Listen nicht erhalten: Fehlanzeige. Ebenso die Frage der Abhängigkeit.
Nichts über den eingeschränkten Wert wöchentlicher Blutbildkontrollen.
Wenig empfehlenswert.
Das Utrecht-Papier, das Jolien Kok-van Esterik von der Universität Utrecht auf Wunsch des Europäischen Netzwerks von Nutzern und Ex-Nutzern der Psychiatrie erstellt hat, geht von derselben Ideologie aus wie die beiden zuvor
erwähnten Publikationen: Clozapin habe »eine gute Wirkung auf
behandlungsresistente Schizophrene«, abgesehen von den oben erwähnten
»Nebenwirkungen«. Clozapin sei Chlorpromazin gar »überlegen«.
All die Folgerungen des Papiers sind diesem psychiatrischem Gedankengut
unterworfen. (Übersetztes) Schlusswort des Autoren, eines Studenten
der Pharmazeutik: »Nach meiner Meinung kann Clozapin unter der Bedingung,
dass ihr Blutbild wöchentlich überwacht wird, eine gute Alternative
für schwer schizophrene Patienten sein, die auf typische Antipsychotika
nicht reagieren oder die an tardiver Dyskinesie leiden. In anderen Situationen
(bei schizophrenen und Parkinson-Patienten im allgemeinen) muss man den
Nutzen von Clozapin abwägen gegen die hohen Kosten, die Unannehmlichkeiten
wöchentlicher Blutkontrolle und die Meinung des Patienten.«
Prima, dass ihn der Autor nicht völlig vergessen hat, den »Patienten«,
dessen Meinung als Faktor unter vielen der Psychiater abzuwägen habe.
Peinlich aber, dass das Papier, so in der Einleitung nachzulesen und wie oben bereits erwähnt, auf
Wunsch des Europäischen Netzwerks von Nutzern und Ex-Nutzern der
Psychiatrie erstellt worden ist, und bei diesem Netzwerk sollen die Nutzer,
Opfer und Überlebende der Psychiatrie doch die selbst entscheidenden
Subjekte sein. Blicken ich auf die Liste der Literatur, woraus der Student
sein Wissen schöpft, so sind es nahezu ausnahmslos von Pharmafirmen
gesponserte »wissenschaftliche« Zeitschriften. Kritische Literatur,
z.B. Peter Breggins »Toxic Psychiatry« oder Zeitschriften von
Psychiatrie-Betroffenen, ist nicht vertreten, entsprechend einseitig das
Produkt. Die Gruppe aus (deutschen, schweizerischen, österreichischen
und belgischen) Aktiven, die an sich vom Plenum des Netzwerks mit Informationsbeschaffung
zu Risiken psychiatrischer Psychopharmaka beauftragt wurde, erfuhr von
dem Utrecht-Papier nichts. Dadurch sind die für die Betroffenen so
wichtigen Fragen der Entzugsproblematik, des eingeschränkten Werts
wöchentlicher Blutbildkontrollen und der frühzeitigen Vorzeichen
möglicherweise tödlich verlaufender Auswirkungen völlig
unter den Tisch gefallen, und dabei ist bei vielen »Nutzern«
und »Nutzerinnen« der Psychiatrie das Bedürfnis so stark,
die Rolle eines »Users« mit der eines selbstbestimmten und chemiefreien
Menschen zu vertauschen.
Nachtrag: Nach massiver Kritik von VertreterInnen des Europäischen
Netzwerks wurden die Verfasser des Papiers gebeten, wenigstens eine moderat-kritische
Stellungnahme des Netzwerks beizulegen. Nicht einmal dazu waren sie in
der Lage.
12 A4-Seiten, Frühjahr 1993, Bestelladresse: Sandoz Pharmaceuticals,
Frimley Business Park, Frimley, Camberley, Surrey GU16 5SG, England.
Vermutlich kostenfrei.
Kart., 24 A4-Seiten, Utrecht: Universität Mai 1994. Bestelladresse:
Universiteit, Faculteit Farmacie, Wetenschapswinkel Geneesmiddelen,
Sorbonnelaan 16, kamer N 811, Postbus 80082, 3508 TB Utrecht, Niederlande.
Ohne Preisangabe.
Peter Lehmann
Peter Sauer / Peter Wißmann: Niedrigschwellige
Hilfen für Familien mit Demenz Die Herausgeber des Sammelbandes wollen zur Diskussion über
die Novellierung des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes (§§45
a-c SGB XI) beitragen, um die Versorgungssituation von demenzkranken Mitbürgern
zu verbessern. Sie fragen: Welche Veränderungen haben sich seit dem
Jahre 2002 für Menschen mit gerontopsychiatrischen Veränderungen
durch dieses Gesetz ergeben? Haben die zusätzlichen finanziellen
Hilfen im Umfang von € 460. pro Kalenderjahr zur Stärkung
und Förderung der häuslichen Pflege von Pflegebedürftigen
mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung beigetragen?
Gab es durch die Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote
und durch die Förderung von Modellvorhaben eine Entwicklung neuer
Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen für diese Zielgruppe?
Die AutorInnen dieses Bandes zeigen Beispiele und Perspektiven auf, wie
Familien mit Demenz entlastet und unterstützt werden können.
Sie untersuchen neue Handlungsfelder für ambulante Pflegedienste,
ambulant betreute Wohngruppen, freiberufliche Anbieter und bürgerschaftlich
Engagierte. Und sie machen Vorschläge, wie auf struktureller Ebene
eine Verbesserung der niederschwelligen Versorgungssituation erreicht
werden kann. Angesichts des Ausmaßes der noch ungelösten Probleme
und unzureichenden Hilfeangeboten und -möglichkeiten und angesichts
seiner kompetenten Aussagen ein wichtiges Buch. Kartoniert, 220 Seiten,
ISBN 978-3-938304-92-1. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2007. €
23.90 Peter Lehmann
Ulf Sauerbrey: ADHS durch Umweltgifte? Schadstoffe in der Kinderumwelt Ulf Sauerbrey, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für
Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik am Institut
für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena,
hat ein kompaktes und gut verständliches Buch geschrieben für
alle, die sich für die Einflüsse von Umweltbelastungen auf Kinder
interessieren. So zeigen sich gesundheitliche Schädigungen aller
Art und schlagen sich oft in der Diagnose ADHS und dem Einsatz psychiatrischer
Psychopharmaka nieder. Sauerbrey beschreibt den Kenntnisstand zu Symptomen
und möglichen Ursachen von ADHS und erläutert die Bedeutung
von Umweltgiften, Umwelterkrankungen und neurotoxischen Schäden,
u.a. von Blei, chemischen Weichmachern, Pestiziden, Nahrungsmittelzusatzstoffen,
Quecksilber (das in Amalgam enthalten ist) und weiteren Umweltgiften,
die im kindlichen Alltag vorkommen. Informationen zu Präventionsmaßnahmen
und Beratungsstellen und ein umfangreiches Literaturverzeichnis schließen
das Buch ab. Wer sich einen Überblick über den neuesten Kenntnisstand
zu Umweltschäden und ADHS verschaffen will ob Mediziner, Eltern
oder Pädagogen , dem sei dieses kompetent und sachlich geschriebene
Buch nachdrücklich ans Herz gelegt. Kartoniert, 109 Seiten, ISBN
978-3-941854-14-7. Jena: IKS Garamond Verlag 2010. € 12.90 Peter Lehmann
Hilde Schädle-Deininger: Fachpflege Psychiatrie
Umfassendes Fachbuch von einer Psychiatriepflegerin für die Weiterbildung
in der psychiatrischen Pflege, das sich leider ausschließlich auf
psychiatrische Literatur stützt und alle antipsychiatrischen Entwicklungen
nach 1969 ignoriert. Insofern überrascht es wenig, wenn beispielsweise
der Elektroschock, die künstliche Auslösung eines epileptischen
Anfalls, der mit der Zerstörung von Hirnzellen verbunden ist, völlig
unkritisch dargestellt wird. Ebenso veraltet ist die Darstellung der Risiken
der modernen, in der Psychiatrie umfangreich verordneten sogenannten atypischen
Neuroleptika: "Bisher sind gravierende unerwünschte Nebenwirkungen
nicht bekannt" (S. 262). Dabei weiß man schon seit 10 Jahren
und länger von Bauchspeicheldrüsenerkrankungen und chronischem
Diabetes, Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, tardiven Dyskinesien
und tardiven Psychosen. Auch bei anderen kritischen Themen stößt
unangenehm auf, dass sich die Autorin zwar ungemein engagiert zeigt, jedoch
grundsätzlich einseitig in der Auswahl von Stellungnahmen und Literatur
agiert, wenn es darum geht, einen Konflikt verständlich zu machen.
Beispiel Zwangsbehandlung. Fast zwei Drittel der angegebenen Literatur
aus diesem Kapitel stammt aus dem Psychiatrieverlag. Die neuere Rechtslage,
die sich aus der UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung
ergibt, ist nicht berücksichtigt. Wenn man stichpunktartig für
Betroffene existenzielle Themen nachschlägt und sich derart fehlinformiert
wiederfinden, muss zu der Einschätzung kommen, dass das Buch bei
aller Ausführlichkeit veraltetes Material beinhaltet, das schon bei
der Erstveröffentlichung 2006 im Urban & Fischer nicht up to
date war. Kartoniert, X +452 Seiten, 85 Abbildungen, 10 Comics, ISBN 978-3-940529-56-5.
Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2010. € 39.90 Peter Lehmann
Klaus Schlagmann: Ödipus komplex betrachtet. Männliche
Unterdrückung und ihre Vergeltung durch weibliche Intrige als zentraler
Menschheitskonflikt. Nebst Ausführungen zu den Problemen des schönen
und selbstbewussten Jünglings Narziss. Der Beitrag alter Mythen zur
Überwindung eines modernen Irrglaubens
Mittels einer umfassend begründeten und belegten Neuinterpretation
der Dramen des Sophokles zum Leben von König Ödipus weist der
Autor die Freudsche Ödipustheorie als Erfindung und als Verdrehung
der Tatsachen zurück; durch die Umsetzung der Ödipustheorie
in der Freudschen Psychoanalyse würden die KlientInnen, ehemals gedemütigte
Kinder, folgenschwer zu Tätern erklärt und somit fortwährend
fehlinterpretiert. Das Buch ist sehr komplex und wohl nur in kleineren
Häppchen zu lesen. Es empfiehlt sich, sich zunächst einmal von
der Geschichte Ödipus' faszinieren zu lassen (S. 35-68), da die in
dieser Geschichte so überdeutlich zu Tage tretende Handlungsdynamik
immer wieder übersehen wird, anschließend in Schlagmanns Ausführungen
über die mythologischen Hintergründe abzutauchen (S. 141-176),
in denen sich nach seiner Meinung die Grundlagen eines alten Menschheitskonflikts
spiegeln. Hervorzuheben sind auch die Kapitel über Josef Breuer (S.
419-442), das Kapitel über Freuds Theorie-Entwicklung (S. 443-540)
und schließich die Auseinandersetzung mit dem Mythos von Narkissos.
Ein Buch für Leute, die offen sind für eine massive Kritik an
Freud. Kartoniert, 720 Seiten, 21 Abbildungen, ISBN 978-3-9805272-3-1.
Saarbrücken: Verlag Der Stammbaum und die Sieben Zweige 2005. €
24.90 Peter Lehmann
Roland Schleiffer: Das System der Abweichungen
Eine systemtheoretische Neubegründung der Psychopathologie
Gleich im allerersten Satz zitiert der Kinderpsychiater Schleiffer von
der Universität Köln den durch die Verabreichung
von Insulin- und Elektroschocks an Heranwachsende einschlägig besonders
bekannt gewordenen Psychiater Uwe Henrik Peters, bis 1996 Direktor
der Nervenklinik an der Universität Köln. Kein guter Einstieg
für ein Buch, das ernstgenommen werden will. Worum geht es darin?
Schleiffer will der Psychiatrie ein einheitliches, übergeordnetes
systemtheoretisches Gerüst geben. Dabei grenzt er selbstreferenziell
jedweden erfahrungswissenschaftlichen Ansatz systematisch aus und sendet
so die Botschaft aus: Dieses Buch ist uninteressant für Leser, die
des Monologs der "Experten" überdrüssig sind und die
wissenschaftliche Verarbeitung subjektiver Erfahrungen von Menschen mit
störender und unbequemer Lebens- und Sinnesweise in einer Neubegründung
der Lehre von den psychischen "Erkrankungen" berücksichtigt
haben wollen. Und es ist ärgerlich, muss man sich doch auch noch
anhören, dass "Schizophrene" Psychopharmaka nicht etwa
wegen deren toxischen, ihre Lebenserwartung um durchschnittlich zwei bis
drei Jahrzehnte verringernden Psychopharmaka ausgesprochen reserviert
gegenüberstehen, sondern weil sich ihr schizophrenes System unbedingt
selbst erhalten wollen. Et cetera et cetera. Kartoniert, 266 Seiten, ISBN
978-3-89670-828-1. Heidelberg: Carl Auer Verlag 2012. € 34. Peter Lehmann
Jann E. Schlimme / Burkhart Brückner: Die
abklingende Psychose Verständigung finden, Genesung begleiten
Jann E. Schlimme, humanistisch orientierter Psychiater in Berlin, und
Burkhart Brückner, Mitbegründer des Berliner Weglaufhauses und
mittlerweile Professor für Sozialpsychologie und Gesundheitsförderung
an der Hochschule Niederrhein, haben mit "Die abklingende Psychose"
ein anspruchsvolles Buch über alltagstaugliche Konzepte der Begleitung
von Menschen in psychotischen Krisen durch psychiatrisch Tätige und
Angehörige geschrieben. Das Werk berücksichtigt die philosophisch
begründete Herangehensweise der Tradition in der europäischen
Psychiatrie mit psychodynamischen und sozialwissenschaftlichen Konzepten.
Es integriert Überlegungen humanistisch orientierter Psychiater wie
Edward Podvoll, enthält zahlreiche Fallbeispiele, spiegelt die Wirklichkeit
erlebter Genesungserfahrungen wider, versucht die Wendepunkte psychotischer
Phasen dingfest zu machen, und liefert ein theoretisches Modell für
gelegentlich langfristig anhaltenden Psychosen und einen angemessenen
Umgang mit solchen Problemen. Basierend auf theoretisch unterlegten und
einem an Interview-Auszügen veranschaulichten Prinzip des Verstehens
psychotischer Erfahrungen, auf Ergebnissen und auf Gesprächen aus
verschiedenen Diskussionsgruppen, entsteht so ein Modell des Abklingens
von "schizophrenen" Psychosen. Mit ihrem Buch, in weiten Teilen
entstanden unter intensiver Mitarbeit von mitforschenden psychoseerfahrenen
Personen, wollen die Autoren alle am Geschehen Beteiligten ansprechen:
Betroffene, Professionelle und Angehörige. Sie wollen Antworten liefern
auf die Fragen, welche Struktur Genesungsprozesse aufweisen, was der Motor
der Genesung ist, welche Barrieren bei der Genesung zu überwinden
sind und wie Genesung unterstützt werden kann. Nach den Erfahrungen
der Autoren klingen "schizophrene" Psychosen ab, wenn sich die
Betroffenen über ihre Erfahrungen und deren Hintergründe verständigen
können. Damit sollen sie in die Lage versetzt werden, die Mitteilung
ihrer Erfahrungen wieder in vertrauten sozialen Beziehungen und lebensweltlichen
Abläufen zu verankern, was die Hinwendung zu neuen Lebenszielen erlaubt.
Für alle, die mit ihren Psychosen nicht klar kommen, eine spannende,
wenn auch nicht ganz einfach zu lesende Geschichte. Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden, 272 Seiten, 14 Abbildungen, 16,5 x 24
cm, ISBN 978-3-88414-642-2. Köln: Psychiatrieverlag 2017. €
30. Peter Lehmann
Jann E. Schlimme / Thelke
Scholz / Renate Seroka: Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen
Generell gilt, schreibt das Autorenteam in der Einleitung, dass das Reduzieren
und gegebenenfalls Absetzen von Neuroleptika eine gemeinsame Suchbewegung
aller Beteiligter sei. Damit ist die Richtung des Buches vorgegeben: Es
geht im Wesentlichen um das vom Arzt und den Angehörigen gutgeheißene
Absetzen von Neuroleptika, also den Idealfall mit einem unterstützungswilligen
sowie kompetenten Arzt und mit gutwilligen und aufgeschlossenen Angehörigen
leider für viele Betroffene ein Wunschtraum, so das Autorenteam.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste befasst sich mit dem
Genesungsprozess von Psychosen, wobei immer wieder Querverweise auf das
Buch »Die abklingende Psychose Verständigung finden,
Genesung begleiten« von Jann Schlimme und Burkhart Brückner
von 2017 erfolgen, und Herausforderungen beim Reduktionsprozess. Im zweiten
Teil geht es um die Grundregeln beim Reduktionsprozess. Im dritten Teil
stellt das Autorenteam Überlegungen an zur Reduktion und Genesungsbegleitung
im Gesamtrahmen der gemeinsamen, durch eine inhumane Einstellung zur Erfahrung
von Psychosen geprägte Lebenswirklichkeit. Um so wichtiger sind die
Maßnahmen, die das Autorenteam den Betroffenen zum Bewältigen
des Absetzprozesses vorschlägt. Sie sind nicht unbedingt neu, aber
man kann sie nicht oft genug wiederholen: Geduld, Vorausverfügung,
Absetztagebuch, Psychotherapie, Beruhigungs- oder Schlafmittel in Krisensituationen,
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, gegenseitige Beratung in
der Selbsthilfegruppe, Körpertechniken, pflanzenheilkundliche Präparate
inkl. Cannabidiol, Musiktherapie, vernünftig essen und trinken, Nahrungsergänzungsmittel
(z.B. Omega-3-Fettsäuren) und vor allem Schlafhygiene. Und notfalls
einen Schritt zurück auf die vorige Stufe, wenn man zu schnell abgesetzt
hat und die Entzugsprobleme zu stark werden.
Letztlich, so das Autorenteam, betrete es mit seinem Buch und den darin
entwickelten Reduktionsregeln Neuland. Neuland betritt das Autorenteam
in der Tat, wenn man die Publikationen insbesondere von Psychiatriebetroffenen
und kritischen Psychiatern außer Acht lässt, die seit Anfang
der 1990er-Jahre bekannt wurden und in denen dezidiert auf Wege zur Minimierung
von Entzugsproblemen und Rückfallgefahren eingegangen wurde, speziell
auf Wege, die die Betroffenen mangels Unterstützung alleine gehen
müssen (und können). Neuland wird aber auch betreten, wenn der
in der psychiatrischen Literatur ängstlich ausgeblendeten Reduktion
von Psychopharmaka-Kombinationen und der Problematik des Übergangs
von einer Minidosis auf Null eigene Kapitel gewidmet werden. Neu sind
auch insbesondere für Mediziner wichtige Tabellen zu Bindungskräften
von Neuroleptika an Rezeptortypen, zu unterschiedlichen Rezeptorwirkungen,
zu oralen Dosisäquivalenten von Neuroleptika (die wichtig sind für
Psychopharmaka-Umstellungen), zu Umrechnungsfaktoren von oralen Dosierungen
in Depotdosen (wobei für Absetzwillige die umgekehrte Umrechnung
wichtig wäre: Umstellung auf Dosierungen in Tablettenform oder noch
besser Tropfen, um eigenständiger Reduktionsschritte vorzunehmen)
und zu Abbauwerten und Transportproteinen ausgewählter Psychopharmaka.
Da vorgegebene Produkteinheiten oft ein kleinschrittiges Reduzieren verhindern,
ist der Hinweis des Autorenteams auf Rezepturen einschließlich Beispielrezepten
extrem wichtig: Ärzte können per Rezept Apotheker beauftragen,
individuell zugeschnittene Dosierungen herzustellen, die ein Reduzieren
in manchmal absolut notwendigen minimalen Schritten ermöglichen.
Das Buch schließt mit einer kurzen Liste von Handlungen, die man
beim Absetzen unbedingt vermeiden sollte (beispielsweise kiffen, koksen
oder abrupt absetzen), sowie einem Text zur Aufklärung von Patientinnen
und Patienten, wie ihn Uwe Gonther im Ameos-Klinikum Dr. Heines in Bremen
einsetzt. Hier wird die »medikamentöse Behandlung« als
Teil des Behandlungskonzepts erläutert und erklärt, dass das
Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka nach verabredeten Regeln ebenso
zu einer verantwortungsvollen Therapiegestaltung gehöre wie deren
Ansetzen. Hier würde ich mir die noch weitergehenden »Aufklärungsbögen
Neuroleptika« wünschen, wie sie in einigen psychiatrischen Kliniken
in Rheinland-Pfalz angeboten werden. Dort weist man darauf hin, dass Neuroleptika
nur als eines von mehreren Behandlungsangeboten gelten; dass es nicht-psychopharmakologische
Alternativen gibt; dass es Sache der Patientinnen und Patienten ist zu
entscheiden, welche Angebote sie annehmen; und dass sie im Krisenfall
auch dann auf einer psychiatrischen Station willkommen sind, wenn sie
keine Neuroleptika wollen.
Wer sich für nicht-psychopharmakologische Alternativen entscheiden
kann, wäre vom Problem der Medikamentenreduktion gar nicht erst betroffen.
Wie sagte 2010 die deutsche Internistin Jutta Witzke-Gross? »Es ist
auch immer daran zu denken, dass eine Möglichkeit, Medikamente abzusetzen,
die ist, mit dem Medikament erst gar nicht anzufangen.« Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 272 Seiten, ISBN 978-3-88414-694-1.
Köln: Psychiatrieverlag 2018. € 25. Peter Lehmann
Wilhelm Schlötterer: Staatsverbrechen
der Fall Mollath. Das vorsätzliche Verbrechen an Gustl Mollath
zwischen Schwarzgeld-Millionen, Vertuschung und der Rolle der CSU Thema des Buches ist die jahrelange Wegsperrung und monatelange Isolation
Gustl Mollaths, der willkürlich zwangspsychiatrisiert worden war,
da er illegale Schwarzgeldverschiebungen der HypoVereinsbank Nürnberg
angezeigt hatte. Dies wurde ihm als Wahn ausgelegt, ohne dass die von
ihm vorgelegten Beweise geprüft worden wären. Nachdem sich Mollath
hilfesuchend an Wilhelm Schlötterer (geb. 1939, Verwaltungsjurist
und Buchautor, Ministerialrat a.D. der bayerischen Finanzverwaltung und
langjähriges Parteimitglied der CSU) gewandt hatte, beschreibt dieser
en detail, wie er gegen alle Widerstände aus Politik, Justiz und
Psychiatrie den Stein ins Rollen brachte und so die Wiederaufnahme des
Falles bewirkte.
Nicht als Justizirrtum, sondern als Staatsverbrechen bezeichnet der Autor
das Geschehen: Wie ein Mensch von Anfang an durch Rechtsverdrehungen,
Lügen, Täuschungen, psychiatrische (Falsch-) Gutachten seitens
RichterInnen, BeamtInnen, PsychiaterInnen, seiner Ehemaligen, der bayerischen
Justizministerin und der Staatsanwaltschaft systematisch und vorsätzlich
um seine Freiheit, seine Würde, seinen Besitz und fast um sein Leben
gebracht wurde. Schlötterer vergleicht die Causa Mollath mit der
Affäre Dreyfus, die 1894 und in den Jahren danach als schwerste innenpolitische
Krise Frankreich erschütterte. Seine Kritik belegt Schlötterer
im gesamten Buch präzis, und er nennt die Namen der Beteiligten.
Detailliert zeigt er die vorgebrachten Unwahrheiten und die Unhaltbarkeit
der gegen Mollath vorgebrachten Anschuldigungen auf, zuletzt auch den
Skandal der unterbliebenen Strafverfolgung der TäterInnen und die
blamabel niedrige Entschädigung: 670.000 € Schmerzensgeld für
sieben gestohlene Lebensjahre durch gerichtspsychiatrische Haft (2006-2013),
für halbjährige Vollisolation, für demütigende Fesselungen
an Händen und Füßen, für öffentliche Stigmatisierung
als Monster und weitere Übergriffe.
Es gibt schon zwei Bücher zum Thema: Von den Journalisten Uwe Ritzer/Olaf
Przybilla (»Die Affäre Mollath. Der Mann, der zu viel wusste«,
2013) und vom Strafverteidiger Gerhard Strate (»Der Fall Mollath.
Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie«, 2014). Mit dem neuen Werk
schildert jetzt ein CSU-ler, der schon die Amigo-Affäre aufdeckte
und politische Entscheidungsabläufe in der Partei kennt, wie heimtückisch,
skrupellos und unbehelligt von ihren Berufsverbänden und Parteien
sich PsychiaterInnen, RichterInnen und PolitikerInnen verhalten können
und welche Mittel sie institutionell haben, um (gemeinsam) gegen wehrlose
Menschen zu agieren. Eine politische Abrechnung, die ihresgleichen sucht.
Man ist gespannt, was jetzt zuerst passiert: Werden die Beteiligten zur
Rechenschaft gezogen? Oder werden diese mit ihren mafiösen Strukturen
gegen den Autor und sein Buch vorgehen? Rezension
in SeelenLaute. Gebunden mit Schutzumschlag, 217 Seiten, ISBN 978-3-95972-447-0.
München: FinanzBuch Verlag 2021. € 22.99 Peter Lehmann
Martin Schmela: Vom Zappeln und vom Philipp ADHS: Integration
von familien-, hypno- und verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen
Vorsicht: Mogelpackung! Während der Verlag ankündigt, der Autor
würde auf Konzepte und Techniken aus der Familien-, der Hypno- und
der Verhaltenstherapie zurückgreifen, plädiert er in Wirklichkeit
für die Integration von Ritalin in alle Arten von psychotherapeutischen
Ansätzen, ohne der für einen seriösen Psychologen
an sich wesentlichen Frage nachzugehen, was eine aufdeckende Psychotherapie
unter psychopharmakologischer Dämpfung bewirken kann. Dafür
preist er Psychostimulanzien (Aufputschmittel), die bei Kindern paradox,
also dämpfend wirken, als gut verträglich an und erklärt
die Ängste der Eltern vor schädlichen Langzeitwirkungen schlicht
für unbegründet. Wir erleben hier leider die x-te Variante von
(vermeintlichen) Psychofachleuten, sich dem Diktat der biologischen Psychiatrie
unterzuordnen. Ach ja, Schmela, Mitarbeiter einer kinder- und jugendpsychiatrischen
Ambulanz, hat auch Vorschläge parat für den Fall, dass Kinder
auf Psychostimulanzien nicht ansprechen: Blutdruckmittel und Antidepressiva.
Vermutlich lässt sich mit dieser Einstellung viel Geld verdienen.
Kartoniert, 233 Seiten, 80 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 3-89670-452-4.
Carl Auer Verlag 2004. € 22.95
Peter Lehmann
Ulrike Schmidt / Janet Treasure: Die Bulimie besiegen
Ein Selbsthilfe-Programm
Das Buch, das aus dem Englischen stammt, ist für alle, die akzeptiert
haben, wie schädlich Bulimie ist und die von ihr in kleinen Schritten,
die auch Rückschläge einbeziehen, loskommen wollen. Es beginnt
mit einem Bulimie-Fragebogen. Führt er zu Feststellung, ob man an
Bulimie leidet, und wenn diese positiv ausfällt, kann man sich auf
die Reise machen, d.h. mit Hilfe des Buches daran gehen, die Bulimie zu
besiegen. Es gilt, sich Vor- und Nachteile des Kampfes gegen die Bulimie
bewusst zu machen, ein immer mit sich zu führendes Ernährungstagebuch
anzulegen, Problemlösungsstrategien zu entwickeln, sich über
die Risiken von Diäten klar zu werden, normales Essen zu lernen,
Essattacken zu vermeiden, mit dem Erbrechen aufhören zu lernen, den
eigenen Körper zu mögen, vielfältige Entspannungsmöglichkeiten
kennen zu lernen, die Lebensweise zu ändern, Rückfälle
zu verarbeiten, sich Wunden der Kindheit evtl. sexuellen Missbrauch
zu vergegenwärtigen, schädliche Denkmuster und selbstzerstörerische
Verhaltensmuster zu überwinden und eigene Stärke zu entfalten,
die sozialen Beziehungen und das eigene Arbeitsleben zu durchleuchten,
und wenn man diese Punkte mithilfe des Buches abgearbeitet hat, ist man
am Ende der Reise angekommen, auf S. 205, und man hat eventuelle seine
Bulimie besiegt, oder aber nicht, dann soll man das Buch noch einmal von
vorne durcharbeiten, aber auf keinen Fall aufgeben. Und wer dann doch
lieber eine Beratungsstelle oder Klinik oder Selbsthilfegruppe aufsuchen
oder weitere themenbezogene Literatur lesen will, wird im Anhang fündig.
Kartoniert, 219 Seiten, ISBN 978-3-407-22823-9. Weinheim & Basel:
Beltz Verlag, 7. Auflage 2009. € 15.90 Peter Lehmann
Sigrun Schmidt-Traub: Angststörungen im Alter Nach der Darstellung neuerer Ergebnisse der gerontologischen und geriatrischen,
d. h. der auf das Alter und auf Alterserkrankungen bezogenen Forschungen
für Psychotherapeuten geht die Autorin auf die Besonderheiten der
einzelnen Angststörungen ("unangemessenen", unkontrollierbaren und
Leiden produzierenden Ängsten), vor allem die häufig auftretende
"generalisierte Angststörung" (situationsunspezifische Angst), auf
Panikzustände, Phobien, posttraumatische Belastungsstörung,
Zwangsstörungen und auf Depressionen ein, die mit Ängsten verbunden
sein können, um dann unterlegt von Fallbeispielen kognitive
Verhaltenstherapie zu empfehlen und deren Anwendung zu beschreiben. Schmidt-Traub
setzt sich mit vielen Faktoren auseinander, die den Alterungsprozess von
Menschen bestimmen oder durch ihn bestimmt werden, auch der medikamentösen
Behandlung alternder Menschen. Der Hinweis, dass laut einer Studie über
ein Viertel der alten Menschen kontraindizierte Medikamente schlucken
(die realen Zahlen liegen möglicherweise höher, von unnötigen
oder unnötig weitergeführten Verordnungen abgesehen), bleibt
jedoch ohne Konsequenz: Die Autorin plädiert pauschal für verbesserte
Compliance, wozu Psychotherapeuten und Ärzte sich regelmäßig
absprechen sollten. Was aber, wenn Psychotherapeuten Ärzten besser
widersprechen sollten? Und wo sollen sie Informationen über schädigende
oder gar Angstzustände produzierende Medikamente finden? Es folgen
eine Vielzahl von Hinweisen an Psychotherapeuten, die besondere Situation
älterer Klientinnen und Klienten in der Psychotherapie zu berücksichtigen.
Zuletzt geht die Autorin auf die verschiedenen Aspekte psychotherapeutischer
Verfahren und deren Umfeld ein, u.a. Konfrontation, Entspannungsverfahren,
Alltagsbewältigung, Reminiszenztherapie, Schlafhygiene, Schmerztherapie,
Medikamente (hier preist sie insbesondere neuere Antidepressiva kritiklos
und in Übereinstimmung mit der Mainstreampsychiatrie und der Pharmalobby
als "gut verträglich" an). Kartoniert, 206 Seiten, ISBN
978-3-8017-2328-6. Göttingen usw.: Hogrefe Verlag 2011. € 29.95 Peter Lehmann
Sigrun Schmidt-Traub: Panikstörung und Agoraphobie Ein
Therapiemanual Großformatiger Therapieleitfaden mit Beschreibung der verhaltenstherapeutischen
Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Panikattacken und/oder Agoraphobie.
Mit einer Beschreibung von Angststörungen und der Darstellung angsttheoretischer
Grundlagen, aktueller Mainstream-Erkenntnisse der internationalen Panikforschung
sowie einem verhaltensmedizinisch orientierten Entwicklungsmodell der
Angst unter Einbeziehung aktueller neuropsychologischer Forschungsergebnisse.
Neben kognitiven und konfrontativen Vorgehensweisen beschreibt die Autorin
auch Techniken zur Beeinflussung der physiologischen und motorischen Ebene
der Angst. Diese praxisorientierten Übungseinheiten sollen helfen,
den Patienten und Patientinnen Wahlfreiheit zu lassen und sie anleiten,
in Selbstorganisation ihre Ängste zu bearbeiten und Angst verfestigende
Sicherheitsverhaltensvarianten zu vermeiden (wozu die Autorin tendenziell
auch Psychopharmaka zählt). Ergänzt wird das Manual durch zahlreiche
Arbeitsmaterialien und Informationen für Patienten und Patientinnen,
die von der beiliegenden CD-ROM ausgedruckt werden können. Kartoniert,
166 Seiten, mit 1 CD-ROM: Arbeitsmaterialien (PDF-Dateien), ISBN 978-3-8017-2156-5.
Göttingen: Hogrefe Verlag, 3., vollständig überarbeitete
Auflage 2008. € 34.95 Peter Lehmann
Sigrun Schmidt-Traub: Generalisierte Angststörung Ein
Ratgeber für übermäßig besorgte und ängstliche
Menschen Mit diesen Worten kündigt der Verlag das Buch an: "Menschen
mit generalisierter Angststörung erleben große Teile der Welt
als bedrohlich und risikobehaftet. Im Alltag sehen sie häufig das
Schlimmste auf sich zukommen. Sie machen sich unverhältnismäßig
viele Sorgen und geraten dabei in ängstliche Erregung. Aufgrund der
mit der Angst einhergehenden körperlichen Beschwerden, wie z.B. Ruhelosigkeit,
Schwindel und Schlafstörungen, glauben viele, sie wären körperlich
krank." Ratschlag der Autorin im Buch: Solcherart Betroffene sollten
unbedingt einen Psychiater aufsuchen, sie würden besonders gut auf
sogenannte SSNRI (Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer)
wie z.B. Venlafaxin ansprechen. Auch SSRI (sogenannte "Selektive"
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), u.a. Fluoxetin, ebenso trizyklische Antidepressiva
kämen in Betracht. Sinnvoll sei eine kombinierte Behandlung: Antidepressiva
und kognitive Verhaltenstherapie. Nach drei Wochen regelmäßiger
Antidepressiva würde sich die Stimmung aufhellen, jetzt sei eine
Verhaltenstherapie möglich. Dann könne in Absprache mit dem
Psychiater das Antidepressivum schrittweise abgesetzt werden. Was aber,
wenn der Psychiater nicht absetzen will (was häufiger vorkommen soll)?
Was, wenn die körperlichen Wirkungen der Antidepressiva sich als
Krankheiten zeigen und so die vorbestehenden Ängste zementieren?
Was, wenn die Betroffenen sich bereits mit Selbsttötungsgedanken
tragen und durch solche Behandlungsstrategien und die speziellen psychopharmakologischen
Auswirkungen auf die Psyche in den Suizid getrieben werden? Anlässlich
in zunehmender Zahl publizierter Studien zu möglichen suizidalen
Wirkungen von Antidepressiva hinterlässt das Ausbleiben jeglicher
Reflexion in diese Richtung seitens der ansonsten äußerst kompetenten
Therapeutin einige Verwunderung. Kartoniert, 146 Seiten, ISBN 978-3-8017-2116-9.
Göttingen usw.: Hogrefe Verlag 2008. € 15.95 Peter Lehmann
Frank Schmolke / Marc O. Seng: Freaks. Du bist
eine von uns
Die vom Münchner Graphiker Frank Schmolke hervorragend aufgemachte
Graphic Novel wird von der Schweizer Edition Moderne mit diesen Worten
beworben: "Als Wendy sich von einem freakigen Stadtstreicher überzeugen
lässt, ihre Psychopharmaka abzusetzen, macht sie eine unglaubliche
Entdeckung: Sie hat Superkräfte! " Die über 256 Seiten
gehende wüste Geschichte, deren Handlung ein gleichnamiger deutscher
Netflix-Film zugrunde liegt, steht quer zu allen möglichen psychiatriepolitischen,
antipsychiatriepolitischen und umweltpolitischen Korrektheiten. Als der
genannte Stadtstreicher eine junge Frau (Wendy) mit den Worten "Du
bist eine von uns! " auffordert, ihre Psychopharmaka wegzuschmeißen,
spült sie diese runter ins Klo (umweltpolitisch ein Frevel und angesichts
möglicher gefährlicher Entzugsprobleme beim abrupten Absetzen
ausgesprochen verantwortungslos).
Die vorher angepasst lebende Wendy entwickelt jetzt, wo die pharmakologische
Dämpfung weggefallen ist, ungeahnte Riesenkräfte, wie dies für
Comic-Figuren aber auch keinerlei Problem ist. Sie kann sich gegen die
allgegenwärtige Unterdrückung wehren, mutiert dabei aber zum
Monster. Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle, reißt anderen
Leuten mal eben den Kopf ab (was das von herkömmlichen Psychiatern,
gängigen Medien und nachfolgend einem Teil der Öffentlichkeit
immer wieder gerne verbreitete bösartige Stereotyp des gemeingefährlichen
und unberechenbaren Irren bekräftigt). Ehemann und Kind reagieren
befremdet. Aber auch die Psychiaterin, die Wendy wieder einfangen lässt,
fixiert und erneut Psychopharmaka aussetzen will, kommt nicht sympathisch
weg, wenn man sie so mit der Pistole rumfuchteln sieht und mitbekommt,
wie sie Wendy erpressen will, ihre Psychopharmaka erneut zu schlucken,
um wieder freizukommen.
Wie also auch bei Krimis, wo oft genug die Fälle dadurch aufgeklärt
werden, dass die Kommissare dahinter kommen, dass die Verdächtigen
ihre Psychopharmaka abgesetzt haben und deshalb zu Mördern geworden
sind, ist das Thema "Absetzen von Psychopharmaka" nun bei Comics
angekommen. Wer sich an den um es mit freundlichen Worten zu sagen
Ungereimtheiten nicht stört, kann die Graphic Novel mit ihren
vor Dynamik strotzenden Zeichnungen genießen. Wer auf unterschwellige
Bekräftigungen abwertender Stereotype sensibel reagiert, wird besser
einen Bogen um diese Graphic Novel machen. Rezension in
SeelenLaute. Französische Broschur, 256 Seiten, 19 x 26 cm, ISBN
978-3-03731-206-3. Zürich: Edition Moderne 2020. € 28.
Peter Lehmann
Joachim Schnackenberg / Christian Burr: Stimmenhören und Recovery
Erfahrungsfokussierte Beratung in der Praxis
Das Buch handelt von den einzelnen Schritten des erfahrungsfokussierten
Beratungsprozesses für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der stationären,
teilstationären und ambulanten Betreuung stimmenhörender Menschen.
Diese Herangehensweise soll einen völlig neuen Zugang ermöglichen
zu bisher in der Psychiatrie als nicht verstehbar eingestuftem Erleben
und zu einem respektvollen, effektiven und psychopharmakafreien Umgang
mit psychiatrischen Ausnahmesituationen im ambulanten, Akut- und Langzeitsetting
»noch besser als zuvor«, natürlich personenzentriert
und unter Berücksichtigung der Perspektive und Erfahrung der Betroffenen.
Geschrieben ist das Buch meist umgangssprachlich, was angenehm zu lesen
ist, allerdings sprechen die Autoren recht selbstgefällig von psychiatrisch
Tätigen als »Fachpersonen«*,
weisen ihnen damit von vornherein eine fachliche Kompetenz zu, was für
Nichtfachpersonen, die Betroffenen, nur noch den Laienstatus übrig
lässt. Die Kapitel des Buches behandeln die Bedeutung des Stimmenhörens,
Hilfsmittel der erfahrungsfokussierten Beratung (das Maastrichter Interview,
ein konstruktives Gespräch über die Erfahrung des Stimmenhörens;
den Maastrichter Bericht, eine geordnete Zusammenfassung eines Interviews
durch die »Fachperson«; das Maastrichter Konstrukt, die inhaltliche
Interpretation durch die »Fachperson«). Allerdings findet alles
in Absprache mit den Betroffenen statt, das Ziel soll eine gemeinsame
Sichtweise sein. Weiter geht das Buch mit dem Begleitprozess der verschiedenen
Phasen der erfahrungsfokussierten Beratung: der Informationssammlung,
den Instrumenten der Einschätzung (Skalen, Fragebögen), dem
gemeinsamen Festsetzen von Zielen des Begleitprozesses, der Haltung der
»Fachperson«, dem Anbieten von Bewältigungsstrategien,
der Entwicklung langfristiger Strategien der Kontrolle der Stimmen und
dem Prozess der gemeinsamen Stimmenarbeit anhand von Beispielen von Begleitern
sowie von Betroffenen. Obwohl deren Namen anonymisiert sind, erhalten
sie in traditionell infantilisierender Weise nur Vornamen, bei »Fachpersonen«
wird dagegen hier auch ein Nachname genannt. Zuletzt folgen noch die Artikel
»Stimmenhören bei Kindern und Jugendlichen« sowie »Stimmen
und Antipsychotika«: erfahrungsfokussierte Beratung führe oft
zur Reduzierung dieser Substanzen, gelegentlich gar zum Absetzen. Die
Entscheidung von Betroffenen, ihre Psychopharmaka abzusetzen, solle respektiert
werden, sie sollten beim Absetzprozess unterstützt werden
eine sympathische Haltung, offenbar Folge des Symposiums »Psychopharmaka
absetzen: Warum, wann und wie« von Asmus Finzen und Peter Lehmann
bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
e.V. 2014 (nachzulesen in: Soziale Psychiatrie, 2/2015 www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/pdf/absetzen-bremen.pdf).
Hoffen wir, dass das Verständnis stimmenhörender Menschen und
eine daraus folgende humanistisch orientierte Behandlung, wie sie Christian
Burr und Joachim Schnackenberg befürworten, irgendwann nicht nur
Stimmenhörern widerfährt, sondern auch Bildersehern und Gedankenhabern.
Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 172 Seiten, 4 Abbildungen, Geleitwort
von Sandra Escher und Marius Romme, Vorwort von Gianfranco Zuaboni, ISBN
978-3-88414-656-9. Köln: Psychiatrieverlag 2017. € 25. Peter Lehmann
*Der Begriff
»Fachperson« impliziert eine Kompetenz qua Ausbildungsabschluss
und Arbeitsplatzinhabe. Schaut man die vielen obskuren Personen im psychosozialen
Bereich an Elektroschocker, rohe Pfleger, psychoedukative Psychologen,
Mietmäuler der Pharmaindustrie, primitiv-biologisch orientierte Psychiater,
dienstbeflissene Sozialarbeiter u.v.m. , für die die massiv
reduzierte Lebenserwartung psychiatrischer Patientinnen und Patienten
mit ernsten psychiatrischen Diagnosen, die psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen,
die psychiatrische Behandlung ohne informierte Zustimmung, die Verweigerung
von Hilfe beim Absetzen von Psychopharmaka u.v.m. kein Thema ist, vermitteln
die Verwender des Begriffs »Fachpersonen« den Eindruck, als
hielten sie psychiatrisch Tätige per se für kompetent im Sinne
von fähig, im Interesse der Betroffenen zu arbeiten. Mit seinem ideologischen
Inhalt stellt sich der Begriff als Unwort dar. Beispielsweise bei mir
als kritischem Leser erzeugt er den Eindruck, dass die Verwender des Fachpersonen-Begriffs
sich durch eine oberflächliche und unkritische Haltung auszeichnen.
Und dass sie eine despektierliche und herablassende Haltung gegenüber
den durch die Begriffsverwendung ausgegrenzten Personen offenbaren, die
eben keinen Ausbildungsabschluss und keinen ordentlichen Arbeitsplatz
im psychiatrischen System haben. (Dass es auch kompetente psychosozial
Tätige gibt, steht außer Frage.)
Doris Schneider / Gabriele Tergeist (Hg.): Spinnt die Frau? Ein Lesebuch.
Zur Geschlechterfrage in der Psychiatrie
34 Frauen (und 1 Mann), von denen zwei Drittel in der Psychiatrie arbeiten,
ein Drittel außerhalb therapeutisch/beratend und ganze drei in der
Anstalt saßen, schreiben über den Zusammenhang von Frausein
und Psychiatrie. Eine, Ilse Eichenbrenner, schreibt angenehm offen und
lebensnah unprofessionell, »Warum ich nichts zum Thema Frauen
und Psychiatrie schreiben will«. Das Buch ist ein durchaus
interessanter Gemischtwarenladen mit breiter Palette, die von Erika Schiebuhrs
Kampfruf: »Macht euch auf, euer Leben selbst in die Hand zu nehmen...
Von der Gesellschaft der Gesunden haben wir gegenwärtig
nichts zu erwarten!« über Dorothea Bucks »Hoffnung auf
eine einfühlende und einsichtige Psychiatrie« bis zu Karriereratschlägen
für psychiatrisch tätige Frauen reicht. »Der Boden, auf
dem Frauen in der Psychiatrie als Klientinnen und als Helferinnen stehen,
ist noch sehr unwirtlich«, sagt die Psychiaterin Andrea Hüttner
und übersieht dabei wohl, dass sie von zwei völlig verschiedenen
Ebenen spricht. Auf solche und ähnliche Zumutungen stößt
die betroffene Leserin, die nicht gegen Bezahlung, sondern gegen ihren
Willen in der Anstalt war oder ist, immer wieder. Trotzdem möchte
ich das Buch wegen seiner Themenvielfalt und Konkurrenzlosigkeit (»Frauen
in der Psychiatrie« von 1991 zieht auch schon wegen seiner lieblosen
Machart und losen Blättern den kürzeren) empfehlen, zumindest
solange das antipsychiatrische Standardwerk aus weiblicher Betroffenenperspektive
noch nicht geschrieben ist. Beeilt Euch damit! Geb., 333 S., Bonn: Psychiatrie-Verlag
1993. DM 39.80 Kerstin Kempker
Kerstin Schneider: Maries Akte Das Geheimnis
einer Familie Die Autorin beschäftigt die Arithmetik ihrer Familie. Marie,
die Hauptperson im Buch, ist 1900 geboren, ihre Großtante Magdalena
65 Jahre zuvor, die Autorin 65 Jahre danach. Die in der sächsischen
Oberlausitz nahe der tschechischen Grenze geborene Marie ist die Schwester
des Großvaters der Autorin. Sie ist auf Spurensuche nach der Frau,
die noch in ihrer Familiengeschichte "herumspukt", und bereist
Aktenarchive wie auch die Stätten von Magdalenas und Maries Familie.
Marie hatte ein schweres Leben, litt unter Hungersnot im 1. Weltkrieg
und miserablen Arbeitsbedingungen danach. Der Mann, von dem sie ein Kind
erwartet, verstößt sie und nimmt sich eine andere. Marie gehört
einer christlichen, asketischen Sekte an, es geht bergab mit ihr. Die
Autorin stellt sich mit viel Phantasie das Leben der unglücklichen
Marie in allen Einzelheiten vor. Vielleicht war es so, schreibt sie gelegentlich,
und äußert ihre eigene Vorstellung davon, wie es hätte
gewesen sein können. Schließlich dreht Marie durch, hält
sich für Jesus, wird in der Arnsdorfer psychiatrischen Anstalt untergebracht,
wehrt sich gegen die zwangsweise Entkleidung, verweigert aus Protest die
Nahrung, wird zwangsernährt, zwangssterilisiert, insulingeschockt,
"hat eine gestörte Hirnchemie", "leidet unter Schizophrenie",
"das Insulin zeigt keine Wirkung", wie die Autorin weiß.
Während des Faschismus wird Marie in der Psychiatrie ermordet. Magdalena
dagegen hatte Glück. 1835 in Böhmen geboren, ist sie seit ihrem
19. Lebensjahr oft krank, hat einen von offenen Wunden übersäten
Körper, gilt als hysterisch, bis sie nach eigenen Angaben
eine Marienerscheinung hat und die Wunden plötzlich verheilen.
Jahrzehnte danach wird diese von der Katholischen Kirche als eine der
wenigen offiziellen Marienerscheinungen anerkannt. "Eigentlich müsste
der Fall aus psychiatrischer Sicht begutachtet werden", zitiert die
Autorin den tschechischen Psychiater Kuzelka. Aber die katholische Kirche
lasse sich ihre Mythen wohl nicht kaputt machen, grummelt sie. Wie gut,
dass sie den Psychiater Hubert Heilemann, heute Ärztlicher Leiter
in Arnsdorf, an ihrer Seite hat. Er erklärt ihr das psychiatrische
Weltbild mit der aus dem Gleichgewicht geratenen Hirnchemie. Zur erblichen
Veranlagung komme die seelische Belastung hinzu. Da die Autorin die besonders
gefährliche Zeit zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr längst
unbeschadet hinter sich hat, kann sie jetzt dem "Geheimnis ihrer
Familie" gelassen ins Auge schauen, psychiatrischer Belehrung sei
Dank. Gebunden mit Schutzumschlag, 290 Seiten, 26 schwarz-weiße
Abbildungen, ISBN 978-3-940888-02-0. Frankfurt am Main: Weißbooks
2008. € 19.80 Peter Lehmann
Peter K. Schneider: Ich bin wir. Die multiple Persönlichkeit.
Zur Geschichte, Theorie und Therapie eines verkannten Leidens
Peter K. Schneider, Jahrgang 1937, hat Philosophie, Psychologie und Soziologie
studiert und ist seit zehn Jahren als »Psychosentherapeut« tätig.
Er hat mit »Ich bin wir. Die multiple Persönlichkeit« ein
gut lesbares und für Betroffene wie Beteiligte informatives Buch
geschrieben, das einerseits den derzeitigen Stand der Multiplenforschung
wiedergibt, andererseits Erfahrungen des Autors als Therapeut. Die multiple
Selbstaufspaltung sieht Schneider nicht als »pathologische Beeinträchtigung,
sondern als alltagsweltliche Bereicherung«, als »radikalste
Form ohnmächtiger Selbstverteidigung«. »Aktiv sein, behüten
und mitfühlen«, das ist vielleicht die einzig mögliche
Therapie, immer auch an der Grenze. Leider bezeugt der Autor nicht nur
den Multiplen tiefen Respekt, sondern auch den Psychiatern, die er nur
milde kritisiert, um ihnen dann doch die alleinige Kompetenz in Sachen
Psychopharmaka zuzusprechen, denn »irgend etwas wird er geben müssen,
schon wegen der Usancen des Hauses.« Irgend etwas wird sie schlucken
müssen, schon wegen des faulen Friedens? Franz. Broschur, 158 S.,
Neuried: Verlag Ars Una 1994 (Edition Humanistische Psychiatrie; 3). DM
28. Kerstin Kempker
Silvia Schneider / Susanne Borer: Nur keine Panik! Was Kids über
Angst wissen sollten Nett gemachte Broschüre, die man mit Kindern lesen und besprechen
kann, wenn diese unter Ängsten leiden und nicht mit ihnen klar kommen.
Sinnvolle, rettende Ängste, ebenso überflüssige, hemmende
Ängste. Spinnen, dunkle Keller, Missbrauch, Einbrecher, Verlust der
Eltern, Hunde, Spritze beim Doktor vieles ist genannt oder als
Bild präsent. Über Monate anhaltende Ängste sind Angstkrankheiten,
lernen wir. Was ist mit Ängsten vor Autoritäten, die die Kinder
nicht loswerden können, zum Beispiel Ängste vor Eltern, die
zur Gewalt neigen? Sind diese ausgespart, da jene sowieso nie ihren Kindern
solche Broschüren vorlegen würden? Ist es sinnvoll, unter den
helfenden Stellen auch Kinderpsychiater zu nennen ohne jede Einschränkung,
wo man doch weiß, wie leichtfertig viele von diesen Psychopharmaka
für Kinder verschreiben? Wieso nennen die Autorinnen nur Schweizer
Internetseiten, wo die Broschüre doch auch in Deutschland und Österreich
verkauft werden soll? Es gibt noch Optimierungsmöglichkeiten für
die nächste Auflage. Broschüre, 28 Seiten, mit farbigen Illustrationen,
ISBN 978-3-8055-8209-4. Basel usw.: Karger Verlag, 2., aktualisierte Auflage
2007. € 5.50 Peter Lehmann
Ulrich Schneider: Mehr Mensch!
Gegen die Ökonomisierung des Sozialen
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands Berlin, prangert die fortschreitende Ökonomisierung
des sozialen Systems an an der Zahl der Erwerbstätigen gemessen
dem drittgrößten Wirtschaftszweig Deutschlands und beleuchtet
seine schrittweise Verschlechterung der letzten 50 Jahre. Illustriert
mit eingängigen Beispielen rechnet er mit dem neoliberalen Zeitgeist
ab, beharrt unter Bezugnahme auf Klassiker der sozialpädagogischen
und erziehungswissenschaftlichen Literatur auf dem eigenen Wert des Sozialen
und plädiert für ethisches soziales Handeln, fachliche Professionalität
und Humanität im sozialen Bereich, wobei er den psychiatrischen Bereich
leider ausspart. Im Mittelpunkt müsse immer die Menschenwürde
stehen, im Kindergarten, Pflegeheim, der Schuldnerberatungsstelle, der
Behindertenwerkstatt. So wie von Diplompädagogen und Sozialarbeitern,
die in Sozialunternehmen oder Verbänden Leitungsverantwortung übernehmen,
betriebswirtschaftliche Kenntnisse erwartet würden, müssten
auch von Betriebs- und Volkswirten, die in der Wohlfahrtspflege tätig
sind, Grundkenntnisse der Charakteristika ethischer Sozialarbeit erwartet
werden. Ein Buch für alle, die im sozialen Bereich arbeiten und intellektuelle
Rückendeckung im Kampf mit der Bürokratie benötigen. Kartoniert,
158 Seiten, ISBN 978-3-86489-079-6. Frankfurt am Main: Westend Verlag
2014. € 13.99 Peter Lehmann
Bettina Schöne-Seifert
/ Davinia Talbot (Hg.): Enhancement Die ethische Debatte
Antworten aller Coleur auf Fragen nach den individuellen und gesellschaftlichen
Folgen von Enhancement-Praktiken (biomedizinische Techniken zur "Verbesserung"
als gesund geltender Menschen). Welche moralischen Probleme können
sich angesichts realistisch gewordener Enhancement-Möglichkeiten
ergeben? Wie problematisch ist die biomedizinische Manipulation von Körpergröße
oder Hautfarbe zwecks Überwindung von Stigmatisierung und Diskriminierung?
Kann das Dopingverbot im Sport als Schutz vor einem normativen Zugzwang
aller Sportler auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen
werden, zum Beispiel das Gehirndoping in der Schule? Wie unmoralisch müssen
kosmetische Schönheitsoperationen begründet sein, damit die
beteiligten Ärzte als Erfüllungsgehilfen abzulehnender Ideologien
zu bezichtigen sind? Verhindert das Ausbleiben durch stimmungsaufhellende
Psychopharmaka unterdrückter Entfremdungsgefühle sowie negative
emotionale Reaktionen nicht die behauptete Förderung von Persönlichkeitsentwicklung
und Authentizität? Oder wird man durch Psychopharmaka authentischer?
Führt die Medikalisierung von Erziehungsaufgaben nicht zu einer Verarmung
der Kindheit, zum Verlust richtigen Lernens, zur Homogenisierung der menschlichen
Temperamente und zur weiteren Steigerung der Leistungsanforderungen? Besteht
der Preis des Anti-Aging-Enhancement nicht in verminderter Lebensqualität?
Der sorgfältig gestaltete Sammelband enthält grundlegende klassische
teils feuilletonistisch, teils wissenschaftlich verfasste
Texte der Enhancement-Debatte aus den letzten zehn Jahren, vorwiegend
aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, insofern spielen sich die Diskussionen
ausschließlich in den westlichen Kulturen ab. Eine Ausnahme stellt
der deutsche Philosoph Jürgen Habermas dar, der in seinem Aufsatz
"Das Gewachsene und das Gemachte" auf den prinzipiellen Unterschied
zwischen erzieherischen Maßnahmen und gentechnischen Manipulationen
verweist: Von den ersten können sich die Betroffenen später
noch distanzieren, letztere bieten diese Option nicht mehr. Eine normative
Bewertung (und Gutheißung) schließe sich aus, solange man
die Perspektive der betroffenen Person nicht einnehmen kann. Für
Einsteiger in die Enhancement-Diskussion ist das Buch eine wahre Fundgrube.
Dabei verhindert die Vielfalt der dargestellten Positionen, dass man sich
allzu leicht von logisch klingenden Begründungen vereinnahmen lässt.
Kartoniert, 411 Seiten, ISBN 978-3-89785-604-2. Paderborn: mentis Verlag
2009. € 38. Peter Lehmann
Bettina Schöne-Seifert /
Davinia Talbot / Uwe Opolka / Johann S. Ach (Hg.): Neuro-Enhancement
Ethik vor neuen Herausforderungen Aus der Sicht eines Psychiatriebetroffenen, dem Psychiater nur mit
brutaler Gewalt ihre Psychopharmaka verabreichen konnten, ist die vorliegende
Problemlage auf den ersten Blick absurd: Andere nehmen psychiatrische
Psychopharmaka von sich aus ein, als Lifestylemedikament, zur Verbesserung
der Laune oder der geistigen Leistungsfähigkeit. Um Neuroleptika
geht es allerdings nicht, die geben höchstens Dressurreiter ihren
Pferden als "Dopingmittel", damit diese die antrainierten Bewegungsabläufe
wiederholen, ohne von der natürlichen Bewegungslust abgelenkt zu
werden. Vielmehr geht es um Antidepressiva wie den Serotoninwiederaufnahmehemmer
Fluoxetin, das aus welchen Gründen auch immer in der
Szene als nicht abhängig machende Glückspille gilt, um Methylphenidat
(Ritalin), das bei Erwachsenen eine den den Amphetaminen vergleichbare
aufputschende Wirkung hat, oder das Stimulanzmittel Modafinil (Vigil,
Provigil), das Mediziner zur Behandlung von Narkolepsie (exzessiver Tagesmüdigkeit)
verschreiben. Dem Beispiel von Medizinern, alle möglichen Medikamente
"off label", also nach Gusto und jenseits der zugelassenen Indikationen
einzusetzen, folgen inzwischen Normalbürger, die als gesund gelten,
jedoch glauben, dass sie Psychopharmaka zwecks Hirndoping einnehmen können.
Da sie dies in zunehmendem Umfang tun und sich nicht mehr auf äußere
chirurgische Eingriffe wie Brustvergrößerung, Penisverlängerung,
Fettabsaugen am Popo, Gesichtsliften, Schamlippen- oder Nasenkorrektur
beschränken, um sich besser zu präsentieren, drängt sich
die Diskussion über das sogenannte Neuro-Enhancement auf: die
vermeintliche Steigerung ("Enhancement") des Lebensniveaus
bei Normalen durch das Schlucken zentralnervös wirksamer Substanzen.
Was beispielsweise rechtfertigt bei der Manipulation des Hirnstoffwechsels
die prinzipiell andere Beurteilung medizinisch-synthetischer Substanzen
als natürliche Mittel? "Zeigt sich nicht schon jetzt",
fragt die Mitherausgeberin Bettina Schöne-Seifert, "dass die
bloße Verfügbarkeit selbst dubioser Aufputscher in unseren
Ellbogen-Gesellschaften ein gewaltiges Zwangspotenzial zum Mitmachen-Müssen
birgt?" Der Sammelband beleuchtet ethische und soziale Aspekte, die
sich aus der Anwendung von Neuro-Enhancement ergeben: neben den grundsätzlichen
Möglichkeiten für Neuro-Enhancement Fragen der Authentizität
und Verantwortlichkeit des Individuums, soziale Folgen mit Blick auf Gerechtigkeit
und Wettbewerbsdruck, zugrunde liegendes ärztliches Aufgaben- und
Rollenverständnis. Das Buch ist ein transdisziplinärer Diskurs
mit Stimmen aus Philosophie, Medizin, Rechts-, Neuro- und Politikwissenschaften.
Kartoniert, 367 Seiten, ISBN 978-3-89785-602-8. Paderborn: mentis Verlag
2009. € 39.80 Peter Lehmann
Judy Schreiber-Mosher: Tincture of Time
Living Through Grief to Hope
The author, Judy Schreiber-Mosher, is the widow of the well-known father
of the Soteria-movement, American psychiatrist Loren Mosher. Judy asked
me to write some valedictory comments for her book. In general for a cover
blurb you can quickly scan through the text (even if your first language
is German as in my case). This was impossible, I got caught by the manuscript
and read it from the first until the last sentence the first English
book I ever read cover to cover. "Judy, this is a death sentence."
With these words Loren informs his wife about the diagnosis of liver cancer
received the year before he dies. It was on July 10, 2004 in Berlin, when
he left our world. Knowing his diagnosis, Judy, an occupational therapist
and later social worker and psychotherapist, began keeping a journal,
after completing two writing courses on Writing the Personal Memory and
Writing the Memoir. After the inescapable death of her spouse she participated
in both a psychotherapy and a bereavement group to explore the emotional
unknown and overcome the deep grief following the loss of "the love
of her life." The result of these efforts is her book, which obviously
helped her to survive Loren's death. She refused suppressing her grief
with psychiatric drugs; not surprising given the critical view on toxic
psychiatric drugs which was so important for Loren's Soteria approach.
Focussing on special topics in 14 chapters, she reports and reflects in
a direct way the deepest personal challenges she and Loren faced; from
the first diagnosis of cancer until the end and the subsequent three years:
becoming the secretary of his death, supervising his ashes, going to a
bereavement group, missing her love's touches and sleeping alone, confronting
his clothes, accepting his not-acceptable death, meeting a man and thinking
about sexual contacts again, etc. But the book is much more than a simple
report of coping with personal problems. Unadorned, with cool humour and
linguistic ease the author articulates the unspeakable: hopes, thoughts
and fears in the face of the fatal illness of her beloved husband
blending passion and sadness with magical moments in the joined life.
The book encourages me to look into the eye of what will happen with deadly
certainty sooner or-hopefully-later to me or to my beloved. How would
or could I act, facing the rest of my life suddenly without my beloved
wife? Or how would or could she go on to live without me? But, thanks
to Tincture of Time, it will be easier to have words for the aftermath
and for communicating about it, and, although inconceivable, to know love
is transcendent and there is a life worth living for those who are left
behind. Thanks to Judy for her courage in being so open-hearted with her
personal thoughts and feelings. Along with the Soteria approach, the book
is a second cornerstone to keep the memory of her husband alive. Review
in the Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy,
Vol. 11 (2011), No. 2, pp. 117-118. Paperback, IX+149 pages, ISBN
978-0-9824023-0-6. San Diego: Soteria Press 2010. £ 11.99 Peter Lehmann
Bruno Schrep: Jenseits der Norm Reportagen über Grenzgänger
und Außenseiter
In 17 kurzen, eindringlichen und angenehm sachlichen Porträts beschreibt
der Journalist Bruno Schrep das Fremdsein in Deutschland. Gestrandete
Seeleute, unkorrekte Lehrerinnen, stehlende Kinder, gemobbte Homosexuelle,
arbeitslose Manager und Prostituierte, die sich auf die Wünsche Behinderter
spezialisieren. So bizarr die Schicksale anmuten, so vertraut sind sie.
Vorwort von Hans Leyendecker. Kartoniert, 191 Seiten, 17 schwarz-weiße
Fotos, ISBN 3-7776-1320-7. Stuttgart: Hirzel Verlag 2004. € 18. Kerstin Kempker
Sonja Schröter: Psychiatrie in Waldheim/Sachsen (1716
1946), Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland
Ich fand das Buch recht langweilig. Die Autorin, eine Psychiaterin aus
der ehemaligen DDR, lässt jede kritische Distanz zum Thema Psychiatrie
vermissen. Die Fakten psychiatrischer Greueltaten zählt sie brav
auf, trennt fein zwischen (kritikwürdigem) Psychiatriemissbrauch
und (tiptop) Psychiatriegebrauch und kommt folgerichtig zum Schluss, der
psychiatrische Massenmord während der Nazizeit sei eher ein Betriebsunfall
der deutschen Psychiatrie als eine logische Konsequenz des von den Nazis
gewährten und den Altvorderen der Psychiatrie herbeigesehnten rechtsfreien
Raums zur uneingeschränkten therapeutischen Betätigung.
Kart., 250 S., 13 Abb., Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag 1994. DM 44. Peter Lehmann
Michael Schulz / Gianfranco Zuaboni (Hg.): Die
Hoffnung trägt Psychisch erkrankte Menschen und ihre Recoverygeschichten
Das Buch enthält 25 mehr oder weniger vollendete individuelle Recoverygeschichten
von Autorinnen und Autoren, die zum großen Teil mit den Grenzen,
die sie erlebt oder die sie gelernt haben, ein sie zufriedenstellendes
Leben führen und gleichsam Betroffenen Hoffnung machen, dass auch
ihre Lage sich zum Besseren wenden kann. Die Geschichten entsprechen der
Mainstream-Definition von Recovery und sind Ergebnis der Anstöße
gutwilliger Psychiater oder Therapeuten. Auch wenn die Betroffenen gelegentlich
psychiatrische Gewalt erfahren haben, haben sie teils durch Psychoedukation,
teils durch Ex-In-Fortbildung gelernt, ihre psychischen Probleme
als behandlungsbedürftige Krankheiten zu akzeptieren und dass die
gewaltsame Behandlung nur zu ihrem Besten war. Eine grundlegende Kritik
an den typischen Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie ist somit
nicht von den Autorinnen und Autoren zu erwarten. Dennoch zeigen die Geschichten,
wie wichtig die Botschaften psychiatrisch Tätiger in ihrem Kontakt
mit den Behandelten sind: Während die einen psychiatrisch Tätigen
mit ihrem stupiden Signal der multifaktoriell inkl. genetisch bedingten
Geisteskrankheit und der häufigen Aufforderung, lebenslänglich
Psychopharmaka zu schlucken, die Betroffenen in ein Tal der Hoffnungslosigkeit
stoßen, gibt es die anderen, die Anstöße geben, das Leben
wieder in die eigene Hand zu nehmen und helfen, Wege aus dem persönlichen
und/oder psychiatrischen Schlamassel zu finden. Welche Faktoren für
Letzteres wichtig waren, steht am Ende jeder einzelnen Recoverygeschichte:
sich selbst annehmen, Unterstützung durch Partner und Freunde, Therapie,
Psychopharmaka oder schrittweises Reduzieren, ehrenamtliche Arbeit, sicherer
und bezahlter Arbeitsplatz oder Delegieren von Arbeit, Annahme von angebotener
Unterstützung, Tiere, Schreiben, Engagement im Selbsthilfebereich,
psychiatrische Klinik, Kreativität, Spiritualität, Glaube an
sich selbst, Sport, Gespräche, Natur und Stille, Naturheilkunde,
Töpfern, Hausarzt, Musik, Bücher, Reisen, Yoga, Ex-In-Ausbildung,
Ja- bzw. Nein-sagen können und vor allem Menschen, die an
einen glauben. "Ich meine, das könnte man auch einfacher haben",
schreibt Sibylle Prins in ihrem lesenswerten Vorwort. Wieso die Patientinnen
und Patienten erst demoralisieren, um sie dann zu unterstützen, dass
sie sich mühsam wieder aufrichten können? Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden, 192 Seiten, 25 farbige ganzseitige Portraits
der Autorinnen und Autoren, ISBN 978-3-86739-090-3. Köln: BALANCE
Buch + Medien Verlag 2014. € 24.95 Peter Lehmann
Lisa Schulze Steinmann / Joachim Heimler / Hans Cordshagen / Josef
Claassen (Hg.): Die Zukunft sozialpsychiatrischer Heime "Augen zu vor allen nichtpsychiatrischen Alternativen",
scheint das Motto dieses braven, engagierten Buches zu sein, dem man zugute
halten muss, dass es in der Trennung der "Hilfen" vom Wohnbereich
einen wesentlichen Beitrag zum Einleiten überfälliger Reformen
im Heimbereich sieht. "Augen zu" heißt es zum Beispiel,
wenn es um die Ursachen geht, weshalb Menschen nach der Psychiatrie in
Heime verschubt werden, weshalb sie in psychiatrischen Anstalten keine
Hilfe zur Lösung der Probleme bekommen, die zur Psychiatrisierung
geführt haben. Brav im vorgegebenen gemeindepsychiatrischen Rahmen
verhaftet, schließen die AutorInnen geschlossen die Augen vor der
strukturell ausbleibenden Hilfe in psychiatrisch-medizinischen Einrichtungen.
Engagiert sind die AutorInnen innerhalb ihrer Verhältnisse, und doch,
anstelle die "Kundenzufriedenheit" zum Ausgangspunkt ihres Handels
zu machen, speisen sie sich selbst mit dem Spruch des Gutmenschen Dörner
"Niemand geht freiwillig ins Heim" ab, sprechen mit diesem
aus seinem psychiatrischen Mund zynisch klingenden Spruch den Betroffenen
einen Subjektstandpunkt mit der Berechtigung zur Formulierung eigener
"Verbraucher"-Interessen ab und belassen so die Betroffenen
als Patienten-Objekte sozialpsychiatrischen Handelns. Daran ändert
auch der letzte Artikel des Buches nichts, geschrieben von Klaus Laupichler,
dem einzigen psychiatriebetroffenen Autoren, der sich bedankt für
die Hilfe, die er während seiner Heim-"Karriere" erhielt
und weshalb er nun mit weniger Psychopharmaka ("immer in Absprache
mit dem Arzt!") extramural lebt. Menschen, die mal einen Schritt
ohne Psychiater oder gegen ihn unternehmen, kommen in der Welt der Sozialpsychiatrie
nicht vor, dafür viele viele HeimbewohnerInnen, denen geholfen werden
muss sozialpsychiatrisch. Dass das Buch dennoch das einzige Buch
ist, in dem Vorschläge zur Verbesserung der aktuellen Situation von
HeimbewohnerInnen genannt werden, ist die traurige Krönung eines
besonders traurigen psychiatrischen Kapitels. Kartoniert, 254 Seiten,
ISBN 3-88414-339-5. Bonn: Psychiatrieverlag 2003. € 19.90 Peter Lehmann
Brigitte Schwaiger: Fallen lassen "Mit ihrem Roman "Wie kommt das Salz ins Meer" war
die Autorin vor 30 Jahren in aller Munde. Ebenso lange ist sie in psychiatrischer
Behandlung. Präzise und schonungslos gegen sich und alle beschreibt
sie das Leben in der Psychiatrie (Wien, Baumgartner Höhe, bis 2005)
und in der Krankheit (sie nennt es Borderline, Stimmenhören, Depression).
Wer "den Suizid intus" hat, hat nichts zu verlieren und keinen
Grund mehr zu Rücksicht oder Vorsicht. Wer erfahren will, wie schwer
es sich lebt zwischen "Ich bin eine öffentliche Person"
und "Ich verdiene es nicht zu atmen", entweder psychiatrisch
gedemütigt und zusammengepfercht mit anderen, Feinsinnigen und Grobianen,
missglückten Suiziden und Gewalttätigen, oder aber allein mit
der Angst und Erinnerung in der eigenen Wohnung, sollte dies Buch lesen.
Ein verzweifelter und gleichzeitig hellwacher Text." Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzumschlag, 115 Seiten, ISBN 978-3-7076-0082-7.
Wien: Czernin Verlag 2006. € 19.80 Kerstin Kempker
Rolf Schwendter: Einführung in die Soziale Therapie Der Verlagswerbetext beschreibt das Buch Schwendters: »In seinem
Buch wird Soziale Therapie aufgefasst als Reflexion auf die Gleichzeitigkeit
gesellschaftlicher und psychischer Ursachen bestehender Leidenserfahrungen
und mit einem Ensemble möglicher Interventionen zur Behebung oder
doch Minderung derselben verbunden.« Bei genauem Lesen stellt sich
die »Reflexion« als eine etwas orientierungslose Verhackstückung
aller möglichen sozialen Themen dar. Sehr unangenehm angetan war
ich von der schubladenmentalitätartigen Verarbeitung der Erfahrungsberichte
in "Statt Psychiatrie": Schwendter zählt schlicht ab, wie
häufig die gerade mal 17 Autorinnen und Autoren eines speziellen
Kapitels bestimmte Handlungsweisen in Krisen erwähnen ob man
so der Kernaussage der Autorinnen und Autoren gerecht wird, die sich gegen
jede Verallgemeinerung und Kategorisierung ihrer individuellen Lebenserfahrungen
und Konfliktverarbeitung wenden? Kartoniert, 303 Seiten, Tübingen:
DGVT-Verlag 2000. € 19.80 Peter Lehmann
Eva Schwenk: Fehldiagnose Rechtsstaat. Die ungezählten
Psychiatrieopfer
Das Buch dokumentiert psychiatrische Vergehen und Behördenwillkür
gegen psychiatrisch Behandelte im Umfeld der engagierten Autorin. Sie
wirft der Psychiatrie vor, unwissenschaftlich zu diagnostizieren und folgerichtig
schlecht oder falsch zu behandeln. "Die richtige Diagnose ist die
Voraussetzung dafür, dass die Patienten wieder Vertrauen fassen.
Erst dann werden sie imstande sein, sich ihrem Mitmenschen wieder mitzuteilen."
Durch die 'in der Regel nicht einmal indizierte' Dauermedikamentierung
würden Patienten quasi bei lebendigem Leib begraben. Psychopharmaka
würden, da falsch indiziert, erhebliche Schäden bei den einzelnen
Menschen anrichten. Schade, ein kritisches Lektorat, das es bei Book on
Demand, einem Selbstverlag von Autoren, natururgemäß nicht
geben kann, hätte die Autorin, eine Diplompsychologin, vermutlich
auf den Irrweg hingewiesen, auf den sie in ihrem lobenswerten Engagement
die Leser mit ihrem Hohelied auf die 'richtige psychiatrische Diagnose'
und das 'richtig indizierte Psychopharmakon' schicken kann. Als würden
die Schäden der Psychopharmaka abhängig sein von den Diagnosen,
unter denen sie verabreicht werden. Eine Auseinandersetzung mit dem psychiatrischen
Diagnosesystem, das in aller Regel den Blick auf die wirklichen Probleme
des einzelnen Menschen verstellt, hätte die Qualität des Buches
gestärkt. Kartoniert, 221 Seiten, ISBN 3-8334-1526-6. Norderstedt:
Book on Demand 2004. € 13.40 Peter Lehmann
Dietmar Sedlaczek / Thomas Lutz / Ulrike Puvogel / Ingrid Tomkowiak
(Hg.): "minderwertig" und "asozial" Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher
Aussenseiter
Informatives und gut recherchiertes Buch über die Verfolgung als
asozial etikettierter Bettler, Arbeitsloser, Obdachloser, Prostituierter,
Homosexueller, Sinti und Roma und sozial unangepasster Jugendlicher während
der Nazizeit. Die Beiträge beinhalten eine kulturhistorische Auseinandersetzung
mit der Entwicklung des Begriffs der "deutschen Arbeit" und
der Eugenik und Rassenhygiene als Wegbereiter der Verfolgung. Eigene Kapitel
sind der Haft von Jugendlichen im Jugend-KZ Moringen (Haftgrund "Gemeinschaftsfremder"),
der (auf gemeinsame sozialpsychiatrisch-nazistische Theorien basierende)
Verfolgung der Jenischen in der Schweiz durch das "Hilfswerk für
die Kinder der Landstraße" von 1926 bis 1973 sowie dem nicht
minder traurig stimmenden Kapitel der "Wiedergutmachung" in
Deutschland gewidmet. Wer sich für das Schicksal von Betroffenen
aus deren eigenen Sicht interessiert, sollte evtl. die Bücher der
Jenischen Mariella Mehr (u.a. "Steinzeit", "Kinder der
Landstrasse") lesen, die allerdings im vorliegenden Buch nicht erwähnt
werden evtl. weil keine Betroffenen unter den Autoren sind? Gebunden,
197 Seiten, ISBN 3-0340-0716-7. Zürich: Chronos Verlag 2005. €
24.80 Peter Lehmann
Ute Karen Seggelke: Wir haben viel erlebt! Jahrhundertfrauen erzählen
aus ihrem Leben Ein sehr schön gestalteter Bild- und Textband, in dem zwanzig
Frauen über achtzig aus ihrem Leben erzählen. Beeindruckend
ist, welche Kraft und Schönheit diese Frauen ob Schauspielerin,
Äbtissin, Gärtnerin, Zirkusartistin oder Psychoanalytikerin
ausstrahlen. Sei es die Summe aus Wachheit, Schalk und Herzlichkeit
bei Dorothea Buck, Lucia Westerguard, die mit über neunzig Jahren
hofft, bald ein bisschen kräftiger zu sein, um wieder auf der Straße
Saxophon zu spielen, oder Swetlana Geier, Übersetzerin, in ihrer
Küche, die sagt, wenn sie nicht mehr da ist, tut ihr das Haus leid,
"denn es ist ja so viel mehr als nur ein Gehäuse". Eine spannende
Vergegenwärtigung des letzten Jahrhunderts in Lebensgeschichten und
Bildern. Auffällig häufig haben diese Frauen schon früh
Städte und Länder gewechselt, sind kreativ tätig, betonen
die Bedeutung von Familie und von Natur und würden alles in
allem es noch einmal so machen. Man kriegt Lust, alt zu werden.
Gebunden mit Schutzumschlag, 183 Seiten, über 200 Abbildungen in
Farbe und Duotone, ISBN 978-3-901409-23-3. München: Elisabeth Sandmann
Verlag 2007. € 24.80 Kerstin Kempker
Laura Seidel: Gewalt an alten Menschen Entstehungsfaktoren
für Gewalt an pflegebedürftigen alten Menschen und Lösungsansätze.
Handeln statt Misshandeln (HSM)
Informatives Buch über die diversen Formen der Gewalt an alten Menschen
(direkte Gewalt, körperliche Gewalt, psychische Gewalt, finanzielle
Ausbeutung, Einschränkung des freien Willens, Vernachlässigung,
Gewalt am Pflegepersonal, Gewalt am pflegenden Angehörigen, strukturelle
Gewalt, kulturelle Gewalt), rechtliche Grundlagen der stationären
Altenpflege, Ausbildung des Personals sowie Wege aus der Gewalt. Kartoniert,
116 Seiten, ISBN 978-3-938304-94-5. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008.
€ 12. Peter Lehmann
Holger Senzel: »Arschtritt«
Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben
Nach vier Therapien im Lauf von zehn Jahren wegen Depressionen, einem
Zusammenbruch, einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik mag
der Autor, ein Reporter, nicht weiter in sich gehen, das Kind in sich
betrauern und Ähnliches, was ihm in der Therapie geraten worden sei.
Statt dessen will er sich nun nach seiner Meinung konträr
zu Ratschlägen in therapeutischen Kreisen um die Erledigung
alltäglicher Aufgaben kümmern, quasi das Haus bauen, in dem
sich die Seele dann drin wohlfühlen kann. Dazu macht er einen Vertrag
mit sich selbst: Vier Wochen lang in aller Entschiedenheit unter anderem
auf Tabak und Alkohol verzichten, sich gesund ernähren, Sport treiben,
auf Fernsehen, Frustkäufe und Restaurantbesuche verzichten, persönliche
Briefe schreiben, Kulturangebote wahrnehmen, die Haushaltliste abarbeiten,
Freunde einladen, gute Bücher lesen, abnehmen und bei einem
Verstoß stur wieder von vorne anfangen. Knapp 50 ist er, als er
nach 88 Tagen diverser vergeblicher Anläufe seinen Vertrag endlich
erfüllt hat. Jetzt hat er seine innere Ausgeglichenheit gefunden,
kann Durchhänger und Rückfälle wegstecken und hat eine
Frau, mit der er glücklich ist. Sich selbst einen Arschtritt versetzen,
" einfach mal vier Wochen sich selbst besiegen und stark sein",
so lautet sein Motto. Ganz einfach war es nicht, wie aus dem feuilletonistisch
geschriebenen und gelegentlich wie in Zeitungsartikeln mit blickfangenden
Zitaten illustrierten Buch hervorgeht, aber bei ihm hat diese Methode
letztlich funktioniert. Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzeinschlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-517-08653-8.
München: Südwest-Verlag 2011. € 16.99 Peter Lehmann
Charles A. Shamoian (Hg.): Psychopharmacological Treatment Complications
in the Elderly
Aussagekräftige Artikel von Mitgliedern der institutionellen Psychiatrie
über die besondere Gefährdung älterer Menschen durch Antidepressiva,
Neuroleptika, Tranquilizer und Cholinergika. Beispiel: »Neuroleptic
malignant syndrome in the elderly« von Gerard Addonizio, einem Psychiater
des Cornell University Medical College in New York City. Angesichts der
bekanntgewordenen Todeszahlen infolge des Malignen Neuroleptischen Syndroms
(laut David Hill bis 1992 weltweit mindestens 190.000) ist für alle,
die an der Neuroleptika-Verabreichung an alte Menschen beteiligt sind
und sie eventuell stoppen können, die Kenntnis dieser tückischen
Neben-Wirkung von besonderer Bedeutung. Denn oft genug sind
deren Symptome kaum von normalen altersbedingten Beschwerden zu unterscheiden.
Die anderen Artikel: »Adverse cognitive effects of tricyclic antidepressants
in the treatment of geriatric depression: fact or fiction?« »Cardiac
risks of antidepressants in the elderly«. »Neurological side
effects of psychotropic medications in the elderly«. »Problems
associated with long-term benzodiazepine use in the elderly«. »Efficacy
and side effects of cholinergic drugs used in the treatment of Alzheimer's
disease«. Clinical Practice Nr. 23, geb., 140 S., Washington: American
Psychiatric Press 1992. Bestelladresse: Eurospan-Group, Am. Psych. Press,
3 Henrietta Street, Covent Garden, London WC2E 8LU, England. GPD 20.50 Peter Lehmann
Stanley Siegel / Ed Lowe: Der Patient, der seinen Therapeuten heilte.
Einblicke in die Psychotherapie
12 novellenartig vom Journalisten Lowe aufbereitete Fallgeschichten aus
der Praxis des Familientherapeuten Siegel, der so seine Worte
in seiner Privatpraxis in New York versucht, Achtung des Patienten und
Gleichberechtigung zu praktizieren. Siegel, der sich gezielt von psychiatrischen
Krankheitsmodellen absetzt: »Werfe ich nachträglich einen Blick
auf meine Interventionen, so muss ich feststellen, dass ich die Neigung
habe, ein gegebenes Muster zu zerstören, um eine gewissen Verwirrung
zu erzeugen, wodurch dann die Akteure aufgefordert sind, noch mehr Phantasie
aufzubringen als bisher.« Er sieht sich als Priester, Magier oder
Schamane und ist sich sicher, dass er seinen KlientInnen helfen konnte.
Hoffen wir, dass sie tatsächlich aus der von Siegel geschaffenen
Verwirrung wieder herausgefunden haben. Aus dem Amerikanischen, geb.,
195 S., München: Buchreihe Irisiana beim Hugendubel Verlag 1995.
DM 28. Peter Lehmann
Wolfgang Siegel: Tut mein Therapeut
mir gut? Das Begleitbuch für die Psychotherapie
Das Buch soll helfen, Psychotherapie optimal zu nutzen, heiß es
in der Ankündigung. Ohne jedoch irgendwann eine klare Haltung zu
beziehen, wägt der Autor die Pros und Contras aller möglicher
Faktoren von Psychotherapie ab. Dabei bleibt er allerdings derart schwammig,
dass eine eigene Orientierung kaum möglich wird, im Gegenteil, alle
Fragen bleiben offen, immer soll der orientierungslose Leser dann "seinen"
Therapeuten nach dessen Meinung und Urteil fragen. Mit einem kritischen
Blick auf Psychotherapie ist durchaus denkbar, dass diese Verunsicherung
beabsichtigt ist. Das Urteil des (vermeintlichen) Fachmannes, dann im
eigenen Kopf, führt zwar zu einer klaren Haltung. Aber es ist die
des Profis, das Ergebnis bloßer Beeinflussung des Menschen in abhängiger
therapeutischer Position. Im Anhang nennt der Autor Anlaufstellen, allerdings
keine Beschwerdestellen für Psychotherapieschäden, wie sie derzeit
überall im Aufbau sind, sondern Ärztekammern sowie das sogenannte
"Kompetenznetz Depression". Dieses schreibt auf der von Siegel
empfohlenen Website: "Bei Patienten mit schweren Depressionen, bei
denen zahlreiche medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungsversuche
fehlgeschlagen sind, ist die Elektrokrampftherapie (EKT) das erfolgreichste
Verfahren. Ein kurzer elektrischer Stromstoß löst eine künstlichen
epileptischen Krampfanfall aus. Die Behandlung wird unter Kurznarkose
durchgeführt, so dass sie den Patienten in der Regel nicht belastet.
Zudem werden muskelentspannende Medikamente gegeben, um stärkere
Muskelkrämpfe während des epileptischen Anfalls zu vermeiden.
Den eigentlichen elektrischen Stimulationsvorgang und den Krampfanfall,
der 20 bis 30 Sekunden dauert, bemerkt der Patient nicht. Der Patient
erhält, verteilt über etwa drei Wochen, neun bis zwölf
Anwendungen. Bei der Mehrzahl der therapieresistenten Patienten kann die
EKT depressive Phasen durchbrechen, die zum Teil schon seit Monaten oder
Jahren andauern. Viele von ihnen erleben das Abklingen ihrer Depression
nach der EKT wie das Erwachen aus einem langen Alptraum..." Entweder
hat Siegel schlecht recherchiert, wenn er solcherart vorsätzliche
und fortgesetzte Körperverletzung übersieht, oder er steht hinter
dieser Empfehlung. Da der Autor in der Psychiatrischen Abteilung eines
Krankenhauses arbeitet, ist allerdings letzteres anzunehmen. Doch egal
ob fahrlässig oder vorsätzlich, beidesmal kann die Lektüre
des Buches dazu führen, dass dem Alptraum einer psychiatrisch gewollten
Hirnschädigung mittels Stromschlägen geholfen wird, Wirklichkeit
zu werden. Geb., 238 S., Stuttgart & Zürich: Kreuz Verlag 2003.
€ 19.90 Peter Lehmann
Aruna Meike Siewert: Natürliche
Psychopharmaka Ganzheitliche Medizin für die Seele Heilpraktiker (ob Mann oder Frau) ist nicht gleich Heilpraktiker,
das wird an diesem Buch deutlich. Manche grenzen sich von tendenziell
toxischen Psychopharmaka ab, wie sie in der Psychiatrie (und der Allgemeinmedizin)
verwendet werden, manche ordnen sich bereitwillig der psychiatrischen
Ideologie und ihrer Verordnungspraxis unter. Zu letzteren zählt offenbar
die Autorin. Als erstes in ihrem Buch benennt sie eine Reihe von psychischen
Problemen (Störungen), wie sie im psychiatrischen Diagnoseklassifikationssystem
"ICD 10" gelistet sind. Ausgerechnet dieses Buch empfiehlt sie
als einziges Psychiatriebuch, das weiterhelfe. Entsprechend sieht sie
die Ursachen psychischer Probleme in einem Ineinandergreifen von Umweltfaktoren
und Veränderungen im Neurotransmittersystem. Dann listet sie erst
mal synthetische Psychopharmaka auf; für viele Menschen mit schweren
psychischen Störungen seien sie ein Segen, auch bei mittelschweren
Störungen seien sie sinnvoll. Hinweise auf die erhebliche Frühsterblichkeit
bei Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, an der Neuroleptika nicht
unbeteiligt sind, fehlen. Neuere, sog. atypische Neuroleptika, seien zudem
wesentlich besser verträglich als die herkömmlichen. Unerwünschte
Wirkungen könnten in zunehmendem Maße umgangen werden, da diese
Substanzen gezielter wirken würden. Worin deren gezieltere Wirkung
besteht, vergaß die Autorin leider zu erwähnen. Dass Neuroleptika
nicht abhängig machen, ist eine weitere typische mainstreamkonforme
(Fehl-) Information der Autorin. Auch Antidepressiva würden "normalerweise"
nicht abhängig machen, unerwünschte Wirkungen würden meist
im Laufe der Behandlung abklingen. So steht es auch in den Werbung für
Antidepressiva. Dem Kapitel über synthetische Psychopharmaka folgt
eine Darstellung psychotherapeutischer Verfahren, und endlich, Seite 33,
beginnt sie mit der Auflistung von Heilpflanzen wie Baldrian, Echtes Eisenkraut,
Engelwurz, Ginkgo, Hafer, Hopfen u.v.m. jeweils mit Infos zur Herkunft,
den verwendeten Pflanzenteilen, dem Haupteinsatzgebiet, der Wirkung auf
Psyche und Körper, unerwünschten Wirkungen, Kontraindikationen
und Darreichungsformen. Es folgen exotische Pflanzen, Bachblüten,
Heilreisen, und zuletzt benennt die Autorin psychische Symptome und mögliche
naturheilkundliche Herangehensweisen zu ihrer Linderung und Überwindung.
Unter dem Stichwort "Depressive Verstimmung" lese ich, man solle zum Arzt,
wenn der Zustand über zwei Wochen anhalte, dabei fällt mir die
kürzlich erfolgte Änderung in der Diagnosefibel "DSM-5"
ein (durch Einfluss der Pharmaindustrie wurde die Frist einer akzeptablen
Trauer bzw. Depression beispielsweise nach einem Todesfall auf zwei Wochen
reduziert, dann wird die Trauer zur absatzträchtigen Störung
bzw. Krankheit), und ich sehe mich jetzt endgültig außerstande,
das Buch von Frau Siewert wenigstens mit Einschränkungen zu empfehlen.
Wer weniger abträgliche Informationen zum Thema sucht, findet sie
zum Beispiel in "Alternative Heilmittel für die Seele" von Günter
Harnisch (Schlütersche Verlagsgesellschaft). Rezension
im BPE-Rundbrief. Klappenbroschur, 127 Seiten, ca. 55 farbige Abbildungen,
ISBN 978-3-8338-4562-8. München: Gräfe & Unzer Verlag 2015.
€ 12.99 Peter Lehmann
Fritz Simon: Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Zur Selbstorganisation
der Verrücktheit
Der Autor ist Psychiater, Psychoanalytiker und einer der Gründer
des Heidelberger Instituts für systemische Forschung, Therapie und
Beratung. Mit einer psychiatriekritischen Haltung bringt er, so der Klappentext
des Buches, »... eine erste umfassende Ordnung in das sich stürmisch
entwickelnde Feld der systemischen Theorie und Therapie.« Kapitelüberschriften,
die für sich selbst sprechen: Das Modell der Selbstorganisation;
Die Rolle des Beobachters; Menschliche Kommunikation; Verrücktes
Denken; Unterschiede, die Unterschiede machen; Verrückte Kommunikation;
Die Funktion der Gefühle; Verrücktes Fühlen; Der Prozess
der Individuation; Familiäre Wirklichkeiten; Chaos und Ordnung
Ein formales Modell der Entwicklung von Normalität und Verrücktheit;
Wenn das Weltbild nicht zur Welt passt Erkenntnistheoretische Irrtümer
und Fallen. Kart., 295 S., 31 Abb., 4., korr. Aufl., Heidelberg: Carl
Auer Verlag 1993. DM 39.80 Peter Lehmann
Rainer Sobota: Leitfaden Persönliches
Budget Das Buch ist herausgegeben vom BdB (Bundesverband der Berufsbetreuer/-innen)
e.V., führt aus der Sicht von Betreuern in die Leitideen
und Grundlagen des Persönlichen Budgets ein, thematisiert Antragshemmnisse
und methodische Handlungsempfehlungen und liefert Vorlagen und Materialien
für die Umsetzung der Budgetassistenz. Ein sinnvolles Buch für
alle, die das Persönliche Budget wirksam nutzen wollen. Kartoniert,
94 Seiten, ISBN 978-3-86739-079-8. Köln: BALANCE Buch + Medien Verlag
2012. € 19.95 Peter Lehmann
Linda Solanki: Verdammter Paul Dem Schweizer Zytglogge-Verlag gilt das Buch als "süffiger
Coming-of-Age-Roman". Früher sagte man Entwicklungsroman zu
einer fiktiven Geschichte, die die Entwicklung des Menschen von der Kindheit
hin zum Erwachsensein zum Inhalt hat. Linda Solanki, Kolumnistin der Gratiszeitung
Blick am Abend, beschreibt das Leben des 20jährigen Sebastian.
Paul McCartney singt immer wieder die Zeile "Hey Jude, don't make
it bad" aus dem Beatles-Songs "Hey Jude" in Sebastians
Kopf. Vermutlich stellt sie sich Stimmenhören so vor. Sebastians
Leben ist bestimmt durch Drogen, Verfolgungsängste, Halluzinationen,
Ablehnung psychiatrischer Behandlung, Obdachlosigkeit, Suppenküche,
unkontrollierte Ausbrüche u.v.m. Gleichzeitig erzählt die Autorin
rückblickend Sebastians Kindheit und Jugend: sensibles Gemüt,
fehlender Vater, lieblose Mutter, Mobbing- und Gewalterfahrung in der
Schule, Energydrinks und erste Anzeichen einer beginnenden "Schizophrenie"
die stärker wird, als Sebastians Großvater stirbt. In einem
späteren Interview sagt sie, einer ihrer Verwandten sei Arzt, ein
anderer Psychiater, beide hätten ihr Manuskript gegengelesen, "damit
die Fakten stimmen". Es handelt sich also um einen Roman, der der
herrschenden psychiatrischen Weltsicht folgt. Die Sprache klingt teilweise
recht klischeehaft und hölzern (Beispiele: "Ich konsumiere das
erworbene Suchtmittel noch auf der Tanzfläche." / "Eines
Tages entschied ich, meine Dynamik wiederzuholen."). Ich wundere
mich, dass ein Verlagslektor solche Formulierungen durchgehen lässt.
Gebunden mit Schutzeinschlag, 202 Seiten, ISBN 978-3-7296-0927-3. Basel:
Zytglogge Verlag 2016. € 32. Peter Lehmann
Andrew Solomon: Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression
Meine bevorzugte Methode, ein Buch zum Thema Depression einzuschätzen,
ist der Blick darauf, was der Autor zum Elektroschock sagt. O-Ton Solomon:
"... die Elektrokrampftherapie schient jedoch in fünfundsiebzig
bis neunzig Prozent der Fälle Maßgebliches zu bewirken. Etwas
die Hälfte derer, bei denen sie eine Besserung herbeiführt,
fühlen sich auch noch ein Jahr später gut, während andere
die Behandlung wiederholt oder sogar regelmäßig benötigen.
Der Eingriff wirkt rasch. Vielen Patienten geht es schon nach wenigen
Tagen deutlich besser: ein großer Vorteil gegenüber dem langwierigen
Verfahren der Medikation. Besonders gut eignen sich Elektrokrampftherapien
für akut selbstmordgefährdete Patienten die sich häufig
selbst verletzen, also dringend schneller Hilfe bedürfen..."
Wenn sich Solomon dafür entscheidet, dass es besser sei, depressiven
Menschen Stromschläge durchs Gehirn zu jagen, vorsätzliche epileptische
Anfälle auszulösen und unspezifische Hirnverletzungen herbeizuführen,
dann sinkt bei mir die Lust, auch nur einen Satz weiterzulesen, und ich
entscheide mich, das Buch umgehend dahin zu befördern, wohin es gehört:
in die Ramschkiste. Geb., 576 S., ISBN 3-10-070402-9. Frankfurt am Main:
S. Fischer Verlag 2001. € 24.90 Peter Lehmann
Sozialhilfe SGB XII / Grundsicherung für Arbeitssuchende SGB
II. Textausgabe mit Inhaltsverzeichnis
Mit dem Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch,
das zum 1. Januar 2005 in Kraft treten wird, wird das Sozialhilferecht
reformiert und zugleich in das Sozialgesetzbuch als dessen Zwölftes
Buch eingeordnet. Parallel zum neuen SGB XII wird das künftige SGB
II in Kraft treten. Dieses wird die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
für erwerbsfähige Hilfeempfänger zum so genannten Arbeitslosengeld
II zusammenführen. Wie eine Sprecherin des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Arbeit am 12. April .2004 in Berlin bestätigte, werden
am 1. Januar 2005 einen rund 500.000 der knapp 2,2 Millionen BezieherInnen
von Arbeitslosenhilfe am jegliche Arbeitslosenunterstützung verlieren.
Die Zahl entspreche den Berechnungen der Arbeitsgruppe "Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe"
der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen, erläuterte die Sprecherin.
Die Kommission hatte die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
vorbereitet. Danach werde bei etwa 23% der Betroffenen das Haushaltseinkommen
wegen des Einkommens weiterer Familienangehöriger über der Sozialhilfegrenze
liegen. Damit entfalle der Anspruch auf das Arbeitslosengeld II. Nach
einem dem Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung entfällt
in Ostdeutschland sogar für 31% der Langzeitarbeitslosen der Anspruch
auf das Arbeitslosengeld II. Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen-
und Sozialhilfe wird mit Beginn 2005 an Langzeitarbeitslose das Arbeitslosengeld
II ausgezahlt. Dieses liegt auf Höhe der Sozialhilfe. Die Textausgabe
mit Inhaltsverzeichnis nach Paragraphen- und Seitenangaben enthält
die aktuellen Vorschriftentexte des SGB XII und des SGB II (Stand 1. Januar
2004) als schnelle Orientierung für Sozialämter, Jugendämter,
Job-Center in Gemeinden, Städten und Landkreisen. Übersichtlich,
nicht ganz preiswert, aber nötig für alle, die sich vorab informieren
wollen, was im Einzelnen auf sie zukommt. Kartoniert, 88 Seiten, ISBN
3-415-03305-8. Stuttgart: Boorberg Verlag 2004. € 8. Peter Lehmann
Helmut F. Späte / Klaus-Rüdiger Otto:
Irre irren nicht
Helmut Späte, bis 1984 Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses
für Psychiatrie und Neurologie in Bernburg und dann bis 1993 Inhaber
des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg, hat gemeinsam mit seinem Kollegen Klaus-Rüdiger
Otto, ab 1975 Chefarzt der Psychiatrischen Klinik im Bezirkskrankenhaus
für Psychiatrie und Neurologie Bernburg und seit 1981 niedergelassener
Nervenarzt in Potsdam, ein Buch über die Geschichte der DDR-Psychiatrie
inklusive Dokumentation von Reformbestrebungen verfasst. Das Buch enthält
außerdem Auszüge aus Psychiatrieakten und Beschwerdebriefe
und -aktionen Psychiatriebetroffener hinsichtlich menschenverachtender
Zustände in den psychiatrischen Kliniken. Der Verlag Ille & Riemer
bewirbt das Buch, es sei »eine kritische Liebeserklärung an
die Psychiatrie und die von ihr Betroffenen«. Zum Glück ist
von dieser Liebeserklärung an eine Psychiatrie voller Menschenrechtsverletzungen
im Buch nichts zu spüren. Welchen Teufel den Verlag geritten haben
mag, derart gedankenlos für das Buch zu werben, ist nicht nachvollziehbar.
Sei's drum, das Buch enthält viele Dokumente darüber, wie
parallel zur Psychiatrie-Enquete in der BRD und in Kenntnis kritischer
Schriften, beispielsweise »Asyle« von Irving Goffman oder »Irrenhäuser
Kranke klagen an« von Frank Fischer Psychiater in der
DDR versucht haben, das Psychiatriesystem zu reformieren. Dies zeigen
die wiedergegebenen »Rodewischer Thesen« (1963), die »Neun
Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« (1974) und die »Brandenburger
Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« (1976) . Dass die Ausgangsbedingungen
für Psychiatrie-Reformen in einem stalinistischen System der DDR
ungleich schlechter waren als die im kapitalistischen System der BRD,
versteht sich von selbst. Diese für das Verständnis der DDR-Psychiatrie
und nach der Wiedervereinigung weiterhin wirksamen Reformbestrebungen
nehmen ungefähr die Hälfte des Buches ein. In der anderen Hälfte
finden wir jede Menge Dokumente resistenter Psychiatriebetroffener, die
sich in Briefen an die Obrigkeit, den Staatsrat, Walter Ulbricht, die
behandelnden Psychiater beschwerten und die Eingang in die Psychiatrie-Akten
fanden, beispielsweise: »Und dann geschah mit mir etwas Grausiges.
Ich bekam Elektroschocks (ich glaube 6 mal). Die Bewusstlosigkeit oder
das Einschlafen war nicht schlimm, man merkte nichts. Aber das Aufwachen.
Man fand sich selbst nicht mehr zusammen. Die Gedanken gehorchten nicht.
Außerdem hatte ich als junges Mädel mal Menschen gesehen, die
geschockt waren. Herr Dr. Späte, man schleppte mich jedes Mal wie
zur Schlachtbank. Ich kann das nicht vergessen.« Eine Betroffene
schrieb Herrn Späte: »Hoffe sehr, dass es Ihnen gesundheitlich
gut geht. Das kann ich auch von mir sagen, es geht mir blendend ohne
Medikamente. Muss Ihnen gestehen, dass ich keine einnehme. Ich
bekomme von denen Verhaltensstörungen und ich bin dann so weltfremd.
Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mich entlassen haben.« Wie den
vielen zitierten Aussagen und den Berichten zu entnehmen ist, wurden in
der DDR die Betroffenen wurden in vergleichbarer Weise zusammengespritzt,
geschockt, gedemütigt, und sie wehrten sich im Rahmen der DDR-spezifischen
Möglichkeiten. Den beiden Autoren ist zu verdanken, dass das heute
gelegentlich aufscheinende Bild der obrigkeitshörigen oder angepassten
Patientinnen und Patienten in der ehemaligen DDR nachhaltig zurecht gerückt
wird. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 204 Seiten, ISBN 978-3-936308-08-2.
Leipzig / Weißenfels: Verlag Ille & Riemer, 4. Auflage 2013
(Originalausgabe 2010). € 19.95 Peter Lehmann
Brigitte Speck: Zappelphilipp Hyperaktive
Kinder richtig ernähren Ein schön aufgemachtes Kochbuch mit Fotos, die Appetit machen,
und Vollwert-Gerichten, die nicht nur Kindern schmecken: Brotaufstriche,
Vegetarisches, Hauptgerichte mit Fleisch oder Fisch, Desserts und Gebäck.
In einer kurzen Einführung wird eine Umstellung der Ernährung
Verzicht auf Zucker, Milch etc., Einführung von Dinkel, Nüssen
etc. erläutert, knapp, übersichtlich und undogmatisch.
Ein 2-Wochen-Menüplan lädt dazu ein, mit dem praktischen Teil
zu beginnen. Gebunden, 96 Seiten, 84 farbige Fotos, ISBN 3-935407-13-0.
Weil der Stadt: NaturaViva Verlags GmbH 2003. € 17.90 Kerstin Kempker
Kai Spiegelhalder / Jutta Backhaus / Dieter Riemann:
Schlafstörungen Da Schlafstörungen schon so manchen in den Wahnsinn oder die
Psychiaterpraxis getrieben haben, sind Bücher zur Linderung und zum
Verständnis von Schlafstörungen für Psychiatriebetroffene
extrem wichtig. Das vorliegende, für Profis geschriebene Buch beschreibt
die vielen unterschiedlichen Formen und Ursachen von Schlafstörungen,
wozu auch "Neben"-Wirkungen diverser Psychopharmakagruppen zählen.
Aus unerfindlichen Gründen werden Neuroleptika als Verursacher von
Schlafstörungen nicht erwähnt, obwohl diese laut "Rote
Liste" bei vielen Vertretern dieser Substanzgruppe auftreten können.
Es folgen Erläuterungen zur Physiologie des Schlafes, dann wendet
sich die Autorengruppe den Behandlungsmöglichkeiten zu, sowohl synthetischen
als auch naturheilkundlichen Psychopharmaka. Dabei wird vor einer sich
möglicherweise entwickelnden Abhängigkeit von Benzodiazepinen
gewarnt, eine mögliche Abhängigkeit von Antidepressiva allerdings
in Abrede gestellt. Nichtsdestotrotz favorisiert die Autorengruppe kognitiv-verhaltenstherapeutische
Methoden (Stimuluskontrolle, Schlafrestriktion, Gedankenstopp, Schlafhygiene
usw.) sowie progressive Muskelentspannung und weitere Entspannungstechniken.
Im anschließenden Vergleich weist die Autorengruppe nach, dass therapeutischer
Verfahren langfristig wirksamer sind als das Einwerfen von Pillen. Eine
Anleitung zur progressiven Muskelentspannung, der Pittsburgher Schlafqualitätsindex,
womit man seine Schlafqualität ermitteln kann, samt Auswertungsbogen
sowie eine Vorlage für ein Abend- und Morgenprotokoll schließen
das Buch ab. Kartoniert, VI + 82 Seiten mit 2 Einsteckkarten (Checkliste
und Kurzscreening Insomnie), ISBN 978-3-8017-2345-3. Göttingen: Hogrefe
Verlag, 2., überarbeitete Auflage 2011. € 19.95 Peter Lehmann
Adelheid Margarete Staufenberg: Zur Psychoanalyse
der ADHS Manual und Katamnese
Dieses Fachbuch, eine Dissertation am Fachbereich I Humanwissenschaften
der Uni Kassel bei den Gutachtern Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf
Haubl, richtet sich an Kinderpsychotherapeuten, die Ritalin einigermaßen
skeptisch gegenüberstehen, und beleuchtet die Schwierigkeiten, Notwendigkeiten
und Möglichkeiten analytischer Kinderpsychotherapie in der Tradition
der Freudschen Psychoanalyse bei der Behandlung von Kindern mit ADHS-Diagnose.
Die Autorin geht ausgesprochen differenziert auf die Problematik der ADHS-Diagnose
ein, diskutiert sowohl die Frage des kulturellen Hintergrunds wie auch
das Spezifikum des gemutmaßten Krankheitswerts. Anschließend
beschäftigt sie sich, illustriert anhand von Fallvignietten, mit
psychoanalytischen Konzepten der ADHS-Problematik und kommt über
das Manual der psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung von Kindern
zu einem speziellen Fall, einem Jungen namens Alex, der im Verlauf von
drei Jahren 210 Stunden Psychotherapie genoss und dessen motorischen Probleme
nun beispielhaft psychoanalytisch gedeutet werden. Es geht unter anderem
um die "ins Leere laufende Suche nach dem Vater und nach der Männlichkeit",
die durch ein Übermaß an Bewegung kompensatorisch selbst befriedigt
werde. Über die Treffsicherheit solcher Deutungen kann man sich wohl
streiten, unzweifelhaft ist aber sicher die Tatsache, dass 210 Therapiestunden
Zuwendung von Seiten einer engagierten Therapeutin über drei Jahre
zweifelsohne bessere Ergebnis bringt als drei Jahre Verabreichung von
Ritalin. Die abschließende Katamnesestudie weist die Wirksamkeit
analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie bei ADHS nach und
schließt einen Vergleich mit verhaltenstherapeutisch und ritalinbehandelter
Kinder ein, um zum Schluss zu kommen, dass eine psychoanalytisch-psychotherapeutischen
Behandlung von Kindern mit der Diagnose ADHS durchaus indiziert sein kann.
Wie eingangs gesagt, es ist ein Fachbuch für Kinder- und Jugendpsychotherapeuten.
Die Handvoll fremdsprachige Zitate sind nicht übersetzt, Englischkenntnisse
werden offenbar vorausgesetzt. Jenseits dieses kleinen Mankos enthält
das Buch eine wertvolle Fülle sorgfältig ausgearbeiteten Materials,
um sich für die Diskussion mit Mainstreamtherapeuten, Kinderärzten
und Kinderpsychiatern zu wappnen, wenn es um die Diskussion gehen sollte,
ob ADHS-Kindern und Jugendlichen tendenziell eher Ritalin oder eher therapeutische
Zuwendung verabreicht werden oder im Lauf der Therapie vielleicht bereits
verordnetes Ritalin wieder abgesetzt werden soll. Kartoniert, 317 Seiten,
ISBN 978-3-86099-696-6. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag
2011. € 29.90 Peter Lehmann
Elisabeth Stechl / Elisabeth Steinhagen-Thiessen
/ Catarina Knüvener: Demenz mit dem Vergessen leben. Ein Ratgeber
für Betroffene Vielseitiger Ratgeber für Menschen mit Demenz im Frühstadium
und für Angehörige mit Informationen über Demenz, die Probleme
der Betroffenen und Angehörigen, illustriert an einer Vielzahl von
Selbstaussagen. Mit (auf Deutschland begrenzten) Adressen von Beratungsstellen
für Menschen mit Gedächtnisstörungen sowie von Gedächtnisambulanzen.
2008 rezensierte ich die erste Auflage und schrieb: "Störend
ist einzig die einseitige Information über Psychopharmaka, wonach
viele Menschen mit Unruhe und Depressionen die Einnahme psychiatrischer
Medikamente 'als Erleichterung erleben'. Kein Wort zur katastrophal um
sich greifenden psychopharmakologischen Ruhigstellung in Alteneinrichtungen,
zu gefährlichen Arzneimittelreaktionen bei alten Menschen, zum psychopharmakologisch
erhöhten Risiko von Altersverwirrtheit bei mangelnder Flüssigkeitszufuhr,
zu altersbedingt veränderter Aufnahme und Verarbeitung psychopharmakologischer
Substanzen im Körper, zu herabgesetzter Magen-Darm-Beweglichkeit,
vermindertem Blutfluss, verminderter Magensäureproduktion, verminderter
Rezeptordichte und herabgesetztem Dopamingehalt im Gehirn mit massiven
Auswirkungen hinsichtlich einer drastisch erhöhten psychopharmakogenen
Sterblichkeit. Es ist zu hoffen, dass der Mabuse-Verlag darauf dringt,
dass diese eklatante Schwachstelle in einer nachfolgenden Auflage behoben
wird." Ein Blick in die jetzt vorliegende 3. Auflage zeigt, dass
der Appell vergeblich war. Informationen über die drastisch erhöhte
Sterblichkeit besonders bei psychiatrischen Patientinnen und Patienten,
die "Nebenwirkungs"-belastete Psychopharmaka meist in Kombinationen
erhalten, wurden von den Autorinnen ignoriert. Völlig kritiklos preisen
sie weiterhin Neuroleptika und Antidepressiva als hilfreich an. Kein Wort
einer Warnung. Vorschlag: Der Ignoranz der Autorinnen angemessen begegnen,
ihr Buch ignorieren. Kartoniert, 130 Seiten, ISBN 978-3-86321-299-5. Frankfurt
am Main: Mabuse-Verlag, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage 2015.
€ 19.95 Peter Lehmann
Benjamin Stein: Die Leinwand
Benjamin Steins Roman, in dem es um die Veränderlichkeit des Erinnerns
geht, kann man wahlweise von hinten als auch von vorne lesen. In der Mitte
treffen sich die Handlungsstränge der beiden Ich-Erzähler. Der
eine ist der jüdisch-orthodoxe Psychoanalytiker Amnon Zichroni, der
Minsky, einen angeblichen Überlebenden eines NS-Vernichtungslagers,
dazu ermutigt, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Der andere ist der
gleichfalls orthodox lebende Journalist Jan Wechsler, der Minskys Erinnerungen
als gefälscht entlarvt. Egal wo man anfängt, die jeweils andere
Darstellung wird eine völlig neue Sicht auf die Dinge werfen, Wahrheit
erweist sich als bloße Frage des Standpunkts. Der Roman spielt vor
dem Hintergrund des tatsächlich in den 1990er-Jahren stattgefundenen
Skandals um Binjamin Wilkomirskis gefälschte KZ-Erinnerungen (siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Binjamin_Wilkomirski).
Im Kern geht es um die Unsicherheit von Identität und Erinnerung.
Gelegentlich bricht des Autors Sinn für Unheimliches und Bizarres
hinter der Fassade der Normalität durch, was den Roman zusätzlich
lesenswert macht. Spannend, ungewöhnlich, lesenswert, und mit Ausführungen
wie dieser über die herrschenden Wissenschaftlichen hier auch ausgesprochen
kritisch: "So kurz ihr Bandmaß auch sein mag, sie vermessen
alles. Es wird kategorisiert, sortiert, bewertet und in Tabellen gepresst.
Und das scheint vernünftig und sehr sinnvoll und ganz im Sinne des
Erkenntnisgewinns. Nur halten sie leider ihre ausschnitthaften Vermessungen
für eine Kartographisierung des Universums und bestehen darauf, ihre
Theorien als verbürgte Wahrheit zu betrachten, solange nicht eine
neue Theorie daherkommt, der es gelingt, sich zur nächsten verbürgten
Wahrheit aufzuschwingen." Denkt man hier nicht zuallererst an die
Mainstreampsychiatrie mit ihren ständig neuen Nachweisen für
die Ursachen von "Geisteskrankheiten", die sie in diesem Teil
des Gehirns oder jener Gensequenz gefunden zu haben wähnt? Gebunden
mit Schutzumschlag, 416 Seiten, ISBN 978-3-406-59841-8. München:
C. H. Beck Verlag, 3. Auflage 2010. € 19.95 Peter Lehmann
Vera Stein: Abwesenheitswelten. Meine Wege durch die Psychiatrie
Vera Stein (Pseudonym) ver-lebte 4 Jahre ihrer Jugend auf Geschlossenen
Abteilungen. Trotz verheerender Neuroleptika-Auswirkungen (u.a. Sprachverlust)
und ständigem Kampf zwischen Flucht, Zwang und Verzweiflung beobachtet
sie ihre Umgebung ungeheuer scharf und oft liebevoll. Spannender, detailreicher
und erschreckender Bericht aus dem Innern der Psychiatrie der 1970er-Jahre.
194 Seiten, 8 Abbildungen, Tübingen: Attempto Verlag 1993. DM 29.80.
Sehr empfehlenswert! Kerstin Kempker
Holger Steinberg: Kraepelin
in Leipzig. Die Begegnung von Psychiatrie und Psychologie Weshalb man den in der Verlagsvorschau angekündigten Untertitel
»Beginn einer Sternstunde der Psychiatrie und Psychologie« verwarf,
wird nicht erwähnt. Schade, hatte doch Emil Kraepelin, der laut Steinberg
»zu den bedeutendsten historischen Persönlichkeiten auf dem
Gebiet der Psychiatrie« zählt, 1918 in seinem richtungsweisenden
Aufsatz »100 Jahre Psychiatrie« den Gipfel der Psychiatrie förmlich
herbeigeschrieben: »Ein unumschränkter Herrscher, der geleitet
von unserem heutigen Wissen, rücksichtslos in die Lebensgewohnheiten
der Menschen einzugreifen vermöchte, würde im Laufe weniger
Jahrzehnte bestimmt eine entsprechende Abnahme des Irreseins erreichen
können.« Sein Wunsch nach rücksichtslosem Vorgehen und
»Abnahme des Irreseins« ging schon 15 Jahre später in Erfüllung.
Das zu erleben war dem Psychiater nicht mehr vergönnt. Er starb 1926,
also kann sich der Autor so meint er wohl um die Konsequenzen
der Kraepelianischen Visionen herummogeln. Laut Steinberg wird Kraepelin
»allgemein als Begründer der modernen klinischen Psychiatrie
betrachtet«. Steinberg zeichnet nach, wie dieser ein von seinen Kollegen
freudig nachgeahmtes System diagnostischer Schubladen entwickelte. Um
diese Schreibtischarbeit ungestört vollziehen zu können, verabreichte
Kraepelin »seinen Patienten« vorzugsweise Schlafmittel und steckte
sie ins Bett (»Alle frisch Erkrankten gehören zunächst
und unter Umständen für längere Zeit ins Bett«) oder
in abgedeckte Badewannen, durchaus über mehrere Tage. Hierzu hätte
der Rezensent gerne wenigstens die Spur einer kritischen Bemerkung gelesen.
Doch dass Kraepelin die Behandelten unendlich gequält haben könnte,
kommt dem Autor offenbar nicht in den Sinn handelt es sich bei
den Behandelten doch lediglich um »Fälle«, so die Begrifflichkeit
des Psychiatrieverlagsbuches. Menschen kommen in dem Buch aber auch vor:
Kraepelins Lehrer, Kollegen, Schüler. Viel erfährt man über
Kraepelins Drang, als Psychiater Karriere zu machen, und darüber,
welche Briefe er diesem und jenem Kollegen geschrieben hat. Der Archivar
Steinberg hat sie aus Archiven ausgegraben und zitiert daraus. Darin,
dass dies interessant sein soll, kann ich dem Autor leider nicht folgen.
Wo laut neuem Untertitel »die Psychologie« denn nun »der
Psychiatrie« begegnet ist, hat Steinberg vergessen zu erwähnen.
Oder meint er die »Genialität« des Emil Kraepelin, welcher
das Unbegreifliche die Psyche verrückter, andersartiger Menschen
mit einem Verzeichnis von Fachbegriffen bewältigt habe? Ein
Autor, der dies als Leistung anpreist, hat nicht begriffen, welches Leiden
auf Seiten von Psychiatriebetroffenen geschaffen und verstärkt wird,
wenn sie in Krisen diagnostiziert und ruhiggestellt werden statt Verständnis
oder zumindest Beistand zu erhalten. So kann das Urteil des Rezensenten
zu Steinbergs seelenlosem und inhaltlich seichtem Buch nur lauten: mangelhaft.
Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden, ISBN 3-88414-300-X, 381 S., Bonn: Psychiatrieverlag
2001. DM 49.80 Peter Lehmann
Inge Stephan: Die Gründerinnen der Psychoanalyse. Eine Entmythologisierung
Sigmund Freuds in zwölf Frauenportraits
Die Autorin, Professorin am Literaturwissenschaftlichen Institut der Uni
Hamburg, gruppiert zwölf Opfer oder Gefolgsfrauen um Meister
Freud: Martha Bernays, Bertha Pappenheim, Emma Beckstein, Sabina Spielrein,
Hermine Hug-Hellmuth, Lou Andreas-Salomé, Marie Bonaparte, Hilda
Doolittle, Helene Deutsch, Karen Horney, Melanie Klein, Anna Freud. Ob
der Anspruch der Entmythologisierung damit eingelöst ist? Geb., 334
S., 60 Abb., Stuttgart: Kreuz Verlag 1992. DM 39.80 Peter Lehmann
Thomas Stompe / Hans Schanda (Hg.): Schizophrenie
und Gewalt
Schizophrenie sei die psychische Erkrankung, die in der Bevölkerung
am häufigsten mit dem Thema Gewalt assoziiert werde, schreibt der
Herausgeber Thomas Stompe von der medizinischen Universitätsklinik
Wien. Allerdings sei die Tatsache weniger präsent, dass Mitglieder
dieser Personengruppe häufiger Opfer der Aggression Dritter werden.
(Der Tatsache gegenüber, dass der eigene psychiatrische Berufsstand
Gewalt gegen Menschen mit der Diagnose "Schizophrenie" verübt, sind
die Autoren blind.) Es gehe darum, die kleine Hochrisikogruppe zu erkennen
und "einer angemessenen Behandlung zuzuführen", so Stompe. Diesem
Thema sind die diversen Buchbeiträge gewidmet. Gewidmet ist das Buch
auch dem Mitherausgeber Hans Schanda aus Wien zu dessen Abschied aus dem
Berufsleben. Im längsten Kapitel des Buches darf dieser noch einmal
so richtig vom Leder ziehen und die Richter des deutschen Bundesgerichtshofs
als ahnungslose medizinische Laien und Anhänger überkommener
antipsychiatrischer Vorurteile beschimpfen, da sie in ihrem Urteil von
2011 die Zwangsverabreichung von Neuroleptika an forensisch Untergebrachte
erschwert hätten. Im gleichen Tonfall versucht Schanda, den UN-Sonderberichterstatter
für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe, Juan Méndez, ins Lächerliche zu ziehen,
da sich dieser gegen jegliche psychiatrische Zwangsbehandlung ausgesprochen
hatte. Der forensische Psychiater Norbert Nedopil aus München
und Kolleginnen berichten in ihrem Beitrag, die Diagnose Schizophrenie
stelle zwar einen Risikofaktor für Gewalthandlungen dar, allerdings
sei das Risiko derart diagnostizierter Straftäter, nach der Entlassung
aus der Forensik eine erneute Gewalttat zu verüben, durch konsequente
Betreuung (vermutlich meint er überwachte Verabreichung von Neuroleptika
auf Dauer) deutlich niedriger als bei sog. nichtschizophrenen Patienten.
Diese Maßnahme möchte das Autorenteam gerne als Modell für
alle Menschen mit der Diagnose Schizophrenie ansehen, die aus der Klinik
entlassen werden. Andere Kapitel handeln von "Schizophrenie
und Suizid", "Das Verschwinden der Kranken aus den Behandlungskontexten",
"Prädiktoren für Gewaltdelikte bei Schizophrenie"
und " Tatmerkmale der Tötungsdelikte von Patienten mit Schizophrenie",
doch irgendwie ist mir inzwischen das Interesse am Buch abhanden gekommen.
Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 184 Seiten, 38 Tabellen und Abbildungen,
ISBN 978-3-95466-375-0. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
2018. € 39.95 Peter Lehmann
Tina
Stöckle: Die Irren-Offensive Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation
von Psychiatrieüberlebenden
Wege entstehen beim Gehen. Bei Tina Stöckles Buch handelt es sich
um einen Klassiker der Recovery und Empowerment Bewegung. Unter dem ironisch-kritischen
Namen Irren-Offensive hatte sich 1980 in Berlin eine Gruppe von Psychiatriebetroffenen
zusammengeschlossen, die sich vor allem durch ihre radikale Ablehnung
der Anstaltspsychiatrie auszeichnete: Selbsthilfe und Selbstverständigung
gingen hier Hand in Hand mit dem Willen, sich politisch vernehmbar zu
machen. Das musste auch bedeuten, die eigenen Ängste, die Scham vor
weiterer Stigmatisierung zu überwinden und mit eigener Stimme in
der Öffentlichkeit aufzutreten, um die Misshandlungen der Anstaltspsychiatrie
anzuklagen und Abhilfe einzufordern. Wer auf so radikale Weise gegen massive
gesellschaftlichen Widerstände einen neuen Weg bahnen will, braucht
nicht nur irre viel Power, sondern muss sich auch innere Räume erschließen.
Räume, in denen die eigene, nicht kontaminierte Sprache, ein eigenes
Selbstbewusstsein sich entwickeln können. Die Untersuchung von Tina
Stöckle die sich selbst seit 1980 intensiv am Aufbau der Irrenoffensive
beteiligt hat arbeitet mit viel Sensibilität an dieser Selbst-Artikulation,
die nicht nur ein Prozess nach Innen ist, sondern notwendig immer auch
Abwehr von Fremdzuschreibung und Verobjektivierung durch psychiatrische
oder andere gesellschaftliche Institutionen. Der Autorin gelingt es, die
Probleme beim Aufbau der Irren-Offensive sehr genau zu beschreiben und
zu analysieren. Der schwierigen Frage, wie die Prozesse innerhalb der
Initiative darzustellen wären, ohne das diese Beschreibung selbst
zu einer verobjektivierenden Kraft würde und den "Professionellen"
unfreiwillig neues Material lieferte, dieser Frage begegnet sie, indem
sie ihre Aussagen und Forschungsergebnisse ganz bewusst innerhalb der
Initiative diskutiert und die Ergebnisse dieser Diskussion in die Arbeit
selbst einfließen lässt. Damit hat Tina Stöckle in ihrer
Pilot-Arbeit Grundlagen der nutzerkontrollierten Forschung geschaffen,
die noch heute Gültigkeit beanspruchen können. Dieses Buch ist
ein Lehrbuch zur Solidarität und Empowerment, jenseits jeder modischen
Vereinnahmung, und meine große Empfehlung. Kartoniert, VIII + 300
Seiten, 36 Abbildungen, Faksimiles, ISBN 978-3-925931-33-8. Berlin: Peter
Lehmann Antipsychiatrieverlag, Neuausgabe 2005 (erweiterter Nachdruck
der Originalausgabe). € 23.90 Benjamin Sage
Philomena Strasser: Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als
Trauma für Kinder
Die österreichische Psychologin und Therapeutin Philomena Strasser
widmet sich in ihrem Buch »Kinder legen Zeugnis ab Gewalt
gegen Frauen als Trauma für Kinder« einem ebenso wichtigen wie
vernachlässigten Thema. Wie erleben und verarbeiten Kinder die Gewalt
ihrer Väter gegen ihre Mütter? Die Autorin, die zehn Jahre im
Frauenhaus gearbeitet hat, befragte Kinder, Jugendliche und ihre Mütter,
die in österreichischen autonomen Frauenhäusern Zuflucht gefunden
hatten. Eingebettet in eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen
familiärer Gewalt untersucht sie die vielschichtige Bedeutung der
ZeugInnenschaft von Gewalt für die Kinder. Philomena Strasser ist
es gelungen, eine äußerst fundierte feministische Forschungsarbeit
in einer Sprache zu verfassen, die durch Klarheit und Wärme beeindruckt.
Sie gibt den Kindern, ihren Aussagen und Bildern den Raum, den sie in
ihrem Leben wie in der Literatur nie hatten. Kartoniert, 310 Seiten, 11
farbige und 31 Schwarz-Weiß-Zeichnungen, ISBN 3-7065-1453-2. Innsbruck
/ Wien / München: Studien-Verlag 2001. € 29.90 Kerstin Kempker
Gerhard Strate: Der Fall Mollath
Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie
Alles über den "Fall Gustl Mollath" und die bezeichnenden
Praktiken von Psychiatrie und Justiz, mit Esprit, Akribie, Witz und Engagement
verfasst von Gustl Mollaths Verteidiger von 2012 bis 2014, der im Wiederaufnahmeverfahren
am Landgericht Regensburg für Mollaths Freispruch sorgte. Präzise
und in klaren Worten zeigt der berühmte Strafverteidiger auf, wie
Mollath mit konstruierten Beweisen psychiatrisiert wurde, welche Schande
das Unterbringungsurteil ("Justizmord") des Landgerichts Nürnberg-Fürth
2006 für den Rechtsstaat darstellt auch und besonders für
die forensische Psychiatrie, die, so Strates Worte, "mit einer omnipotenten
Weltsicht jede Regung des Andersseins als 'Auffälligkeit' registriert
und zu jeder Einflüsterung von Krankheitsbildern in die Ohren vorurteilsstarker
Richter bereit ist." Eingeflossen in Strates brillante justizhistorische
Dokumentation sind Reflexionen über das deutsche Justizsystem, seine
Verfassungsbrüche, seine Rechtsbeugungen und ihre Gehilfen, insbesondere
die psychiatrischen "Sachverständigen". Das Buch ist ein
Glücksfall: Ein Fachmann, der alle Fakten und Beteiligten kennt,
nennt diese beim Namen und zeigt anhand der Aktenlage mit jeweils kurzen
Verweisen auf die Rechtslage detailliert und nachvollziehbar die Lügen
der Beteiligten auf, ihre Rechtsbeugungen und Betrügereien, ihre
sprachlichen Tricksereien mit sich wissenschaftlich gebenden Diagnosen,
ihre Omnipotenzfantasien und ihren "Pathologisierungswahn".
Und wie angesichts der geplanten Zwangsbehandlung wegen angeblicher Einwilligungsunfähigkeit
das humane Vorgehen eines einzigen vernünftig gebliebenen Gutachters,
des bayerischen Psychiaters Johann Simmerl, den Grundstein für Mollaths
letztendliche Rettung legte. Ein absolut empfehlenswertes Buch. Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzeinschlag, 271 Seiten, 1 farbige
Abbildung, ISBN 978-3-280-05559-5. München: Verlag Orell Füssli
2015. € 19.95 Peter Lehmann
Susan Swedo / Henrietta Leonard: Alles nur psychisch? Die körperlichen
Ursachen falsch diagnostizierter Beschwerden
Ein auf den ersten Blick interessantes Buch: Die Autorinnen, zwei US-Psychiaterinnen,
beschreiben ausführlich psychische und zentralnervöse Veränderungen,
die Folgen aller möglicher organischer Erkrankungen sein und leicht
mit »psychischen Krankheiten« verwechselt werden können.
Letztlich bleibt dies aber eher ein diagnostisches Problem für die
Psychiater; für die Betroffenen gibt es häufig wie gehabt
Psychopharmaka aller Art, nicht etwa naturheilpraktische Mittel,
sondern Tranquilizer, Lithium, Neuroleptika und Antidepressiva, entsprechend
dem Zeitgeist vorzugsweise Fluoxetin, bekannt unter den Handelsnamen Prozac
und Fluctin. Auch Medikamente und Psychopharmaka als Verursacher von psychischen
Problemen sind benannt; entsprechend der psychiatrischen Ideologie, wonach
Antidepressiva und Neuroleptika vor allem heilen, klafft hier jedoch ein
großes Loch der Desinformation. Depressionen beispielsweise als
Auswirkungen von Neuroleptika sie treten selbst nach psychiatrischen
Aussagen immerhin in 2/3 aller Behandlungsfälle auf werden
ebenso unterschlagen wie paradoxe Wirkungen von Tranquilizern und Antidepressiva.
Ein Buch, das zu folgenreichen Fehleinschätzungen konkreter Probleme
führen kann. Geb., 344 S., Frankfurt/Main: Campus Verlag 1998. DM
48. Peter Lehmann
Thomas S. Szasz: Geisteskrankheit
ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen
Verhaltens
Der Carl Auer Verlag hat die 1960 im amerikanischen Original erschienene
Grundsatzkritik "The Myth of Mental Illness" des Psychiaters
Thomas Szasz (1920-2012) an der moralischen und wissenschaftlichen Grundlage
der Psychiatrie in neuer Übersetzung wiederaufgelegt. Szasz wendet
sich in überzeugender Weise gegen den Glauben seiner Kollegen, dass
das, was sie psychische Krankheiten nennen, diagnostizierbare gesundheitliche
Störungen des Gehirns seien. Dass diese Behauptung auf wissenschaftlichen
Erkenntnissen basiere, sei eine bloße Lüge, ein Irrtum oder
ein naiver Rückgriff auf die somatische Prämisse der längst
diskreditierten Theorie der Körpersäfte. Wegen einer nicht existierenden
Krankheit nehme man vielen Menschen Freiheit und Eigenverantwortung, was
eine schwere Verletzung grundlegender Menschenrechte sei. "Geisteskrankheiten"
seien nicht medizinisch einzuordnen, sondern als begründete Verhaltensweisen
in einem konkreten sozialen System anzusehen, somit höchstens moralische
Probleme. Der Neuausgabe seines Buches hat Thomas Szasz ein Vorwort "Fünfzig
Jahre nach The Myth of Mental Illness" vorangestellt, in dem
er sich der Rezeption seines Buches widmet und in einem Unterkapitel einmal
mehr dagegen verwehrt, als Antipsychiater bezeichnet zu werden. Dies ärgert
ihn, er fühlt sich diffamiert, denn seine Sichtweise entspringe dem
gesundem Menschenverstand, Antipsychiatrie dagegen sei nur eine neue Spielart
der Psychiatrie mit neuen Zwangsmitteln. Antipsychiater seien dieselben
Betrüger wie Psychiater, und ihm sei kein Antipsychiater bekannt,
der das Prinzip, niemals Gewalt anzuwenden, beherzigen würde. Dass
sich "die Antipsychiatrie" seit den 1960er-Jahren von einer
eher akademisch orientierten Disziplin zu einer neuen, im wesentlichen
von Psychiatriebetroffenen getragenen Bewegung entwickelte, in deren Mittelpunkt
die Forderung nach nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten Alternativen
zur Psychiatrie steht und nach Verzicht auf toxische Substanzen, dass
es weltweit noch mehr psychiatriekritische Psychiater gibt als die beiden
von ihm erwähnten (und verachteten) David Cooper und Ronald Laing,
ist Thomas Szasz leider entgangen kein Wunder, hat er sich die
letzten Jahrzehnte weniger in nichtpsychiatrischen Alternativprojekten
engagiert als vielmehr in seiner Kommission für Verstöße
der Psychiatrie gegen Menschenrechte, einer Untergruppe der Scientologen-Sekte.
Aber trotz seiner obskuren Freunde, trotz seiner typisch amerikanischen
Nabelschau und trotz seiner nicht minder typisch akademischen Ignoranz
gegenüber nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten nichtpsychiatrischen
Alternativen bleibt die Bedeutung seines Buches als zeitgeschichtliches
Dokument erhalten. Das Buch ist gerade auch angesichts der sich
zunehmend ausbreitenden Neuromythologie nach wie vor lesenswert,
und daran ändert auch der exorbitante Preis nichts. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 331 Seiten, ISBN 978-3-89670-835-9.
Heidelberg: Carl Auer Verlag 2013. € 44. Peter Lehmann
Thomas S. Szasz: Grausames Mitleid. Über die Aussonderung unerwünschter
Menschen
Rezension siehe Kerstin Kempker
Szondi-Institut (Hg.): Sexualität, Macht, Geld. Ethische Fragen
in der Psychotherapie
Das Szondi-Institut, Lehr- und Forschungsinstitut für Schicksalspsychologie
und Allgemeine Tiefenpsychologie in Zürich, hat im November 1994
eine Tagung zum Missbrauch in Psychotherapien durchgeführt, die Referate
finden sich in diesem Sammelband. Sie kreisen um die Themen: Ethische
Verantwortung, Verführung, sexueller, finanzieller und Machtmissbrauch,
Standesregeln und rechtliche Konsequenzen. Angenehm fand ich beim Lesen,
dass die AutorInnen nicht nur Schicksals- und andere AnalytikerInnen sind,
sondern auch Juristin, Seelsorger, Ärztin, Mitglied der Ethik-Standeskommission,
Verhaltenstherapeuten, Mitarbeiterin des Nottelefons. Die KlientInnensicht
fehlt allerdings wieder mal. Immerhin, es wird offen gesprochen, nicht
nur über sexuellen Missbrauch, sondern auch über den sicher
viel häufigeren Missbrauch der Macht. Regina Kesztler berät
bei der Ärztegesellschaft Frauen nach ärztlichen Übergriffen.
Sie beschreibt den ganz gewöhnlichen Missbrauch, so den narzisstischen:
»Ein selbstunsicherer Therapeut wird nach Möglichkeit eine bestimmte
Auswahl von Klienten treffen. Er wird fügsame, eher Ich-schwache
Patienten vorziehen, welche ihm das Gefühl von Stärke und Überlegenheit
vermitteln.« Oder: »Wohin gehört beispielsweise der Psychoanalytiker,
welcher die Deutungen wie eine Waffe benutzt? Und wo wäre jene Körpertherapeutin
zuzuordnen, welche eine junge Frau mit einer schweren Inzestproblematik
mit dem Satz nötigte, weiterhin in die Therapie zu kommen: Das
kennst du doch, wenn es schwierig wird, läufst du davon.«
Es ist auch vom Geld die Rede, vom Rahmenvertrag, von der auf ihre Art
missbrauchenden Analytikerin, von der Notwendigkeit einheitlicher Standesregeln
und von rechtlichen Konsequenzen. Bezugsrahmen ist bei allem die Schweiz.
Als bunter Einstieg in ein brisantes Thema eine lohnende Lektüre.
Kart., 117 S., Schriftenreihe aus dem Szondi-Institut, 1995, Heft 3. DM
20. Kerstin Kempker
Richard Taylor: Alzheimer und Ich »Leben
mit Dr. Alzheimer im Kopf«
Das Buch ist eine vehemente und mit viel Humor vorgetragene scharfsinnige
Auseinandersetzung des Autoren mit seiner beginnenden Demenz und gleichzeitig
eine zornige Abrechnung mit der bevormundenden und entwürdigenden
Reaktion seiner Umwelt. Der Autor ist US-amerikanischer Psychologieprofessor,
Kommunikationswissenschaftler, praktisch-klinischer und Organisationspsychologe,
zuletzt Hochschullehrer, verheiratet, Vater und Großvater. Wie viele
andere, wird ihm die Diagnose "beginnende Demenz" gestellt,
basierend auf Alzheimer-Erkrankung. Zu diesem Zeitpunkt ist er 58 Jahre
alt. Mit der Diagnose wird nichts mehr im Leben so sein wie zuvor. Auf
für ihn beginnt ein neuer, angstbesetzter Lebensabschnitt, am Ende
wartet die Dunkelheit. Doch so weit ist es noch lange nicht. Schreiben
wird ihm die wichtigste Stütze, um die Veränderungen an sich
selber zu beobachten und zu kontrollieren. Dabei wird der Prozess seiner
Persönlichkeitsveränderungen und der unterschiedlichen Verluste
überaus deutlich. Ausführlich referiert er über Symptome,
Unsicherheiten bei der Diagnose, Ursachen, Wirkungen und Möglichkeiten
bei der Behandlung und Begleitung. Taylor schreibt, kommuniziert und gewährt
tiefe Einblicke in seine eigenen Erfahrungen, woraus sich viele Vorschläge
für den Umgang mit Alzheimerbetroffenen ergeben, auch wenn sich die
jeweilige Situation durchaus individuell unterschiedlich darstellen mag.
Als grundsätzlich sinnvolles Verhalten erweist sich: zuhören,
begleiten, vertrauen, den Menschen sehen und nicht den Symptomträger,
sich Zeit nehmen, direkt und klar kommunizieren. Kartoniert, 261 Seiten,
ISBN 978-3-456-84862-4. Bern: Hans Huber Verlag, 2., durchgesehene und
ergänzte Auflage 2010. € 22.95 Peter Lehmann
Frauke Teegen: Wenn die Seele vereist Traumatische
Erfahrungen verstehen und überwinden
Die Autorin zeigt anschaulich und kompetent, was Menschen Schreckliches
widerfährt, wie sie durch Unfälle, Katastrophen, Geiselnahme
oder Vergewaltigung um Leib und Leben fürchten müssen, wie ihre
Seele schwere Verletzungen ein Trauma erleidet. Albträume,
Erinnerungsattacken, Konzentrationsstörungen, Depressionen sind häufig
die Folgen. Wie entstehen traumatische Erfahrungen, wie erkennt man sie,
was meint man für körperliche und neurobiologische Änderungen
erkennen zu können, welche Wege können zur Linderung und Heilung
führen? Anhand von eindrucksvollen Fallbeispielen auch Prominenter
wie Monika Seles oder Viktor Frankl zeigt die Autorin, die an der
Universität Hamburg Psychologie lehrt, wie selbst schwere Schicksalsschläge
gut bewältigt werden können. Weshalb sie traumatische Erfahrungen
durch psychiatrische Gewalt systematisch ausklammert, wo doch psychiatrische
Maßnahmen, Antidepressiva incl., durchaus Thema ihres Buches sind,
und bekanntermaßen insbesondere viele psychiatrisierte Frauen in
der Psychiatrie traumatisierende Gewalt erfahren, die sie auf vergleichbare
Weise (gewaltsames Entkleiden, gewaltsames Niederwerfen ins Bett, gewaltsame
Manipulationen am Körper) in ihrer Kindheit und Jugend bei Missbrauchserfahrungen
kennen lernen mussten, sagt die Autorin leider nicht. Vielleicht muss
man darauf warten, dass ein Promi nachhaltig in die Mühlen der Zwangspsychiatrie
gerät und ähnlich drastisch wie weiland Klaus Kinski berichtet.
Neben vielen sinnvollen Maßnahmen empfiehlt die Autorin Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
als unterstützend für die psychologische Traumatherapie: sie
seien dafür zugelassen, wirksam und würden nur bei Jugendlichen
das Suizidrisiko erhöhen. Dass diesen Substanzen aufgrund
ihrer gelegentlichen paradoxen Wirkung auch bei Erwachsenen ein
erhöhtes Suizidrisikos in sich tragen, ist leider ebenso wenig Thema
im Buch wie das Risiko der Entwicklung einer Abhängigkeit von diesen
synthetischen Antidepressiva. Mit drei Seiten Internet-Ressourcen. Gebunden,
318 Seiten, 5 Abbildungen, ISBN 978-3-7831-3041-6. Stuttgart: Kreuz Verlag
2008. € 19.95 Peter Lehmann
Margaret Thaler Singer / Janja Lalich: Sekten Wie Menschen
ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können
Informationen über politische, spirituelle, okkultische, psychotherapeutische
und sonstige Sekten leider hauptsächlich nur US-amerikanische.
Differenzierte Aussagen über Techniken der Anwerbung, der Beeinflussung
und Persönlichkeitsveränderung, den Umgang mit Betroffenen und
den Ausstieg sowie mögliche Entzugserscheinungen und therapeutische
Hilfsmöglichkeiten. Mit vielen Adressen deutschsprachiger Sektenberatungsstellen.
Kart., 407 S., Heidelberg: Carl Auer Verlag 1997. DM 58. Peter Lehmann
Peet Thesing: Feministische Psychiatriekritik Peet Thesing wer das ist, geht aus dem Buch nicht hervor
hat ein Buch über Psychiatrie aus feministisch-antipsychiatrischer
Sicht geschrieben, so die eigene Standortbestimmung. Die Autorin verortet
sich im Lager derer, die den Krankheitsbegriff in Frage stellen, ein Recht
auf Wahnsinn postulieren sowie eine politische Analyse der Gesellschaft
fordern. Neu ist das alles nicht. Es ist die alte Position der akademischen
Antipsychiatrie und tut sich schwer, Erkenntnisse und Entwicklungen der
humanistischen, betroffenenorientierten Antipsychiatrie zur Kenntnis zu
nehmen und sich daran zu orientieren. Feministische Psychiatriekritik
gibt es schon lange, eine herausragende Vertreterin ist die kanadische
Sozialwissenschaftlerin Bonnie
Burstow, die schon vor 30 Jahren gemeinsam mit dem Psychiatriebetroffenen
Don Weitz das Buch »Shrink Resistance. The Struggle Against Psychiatry
in Canada« herausgegeben und 1992 mit »Radical Feminist Therapy:
Working in the Context of Violence« das erste feministische Buch
über Psychotherapie mit eindeutiger antipsychiatrischer Ausrichtung
geschrieben hat. Die Zusammenfassung erschien 1993 unter dem Titel »Ethischer
Kodex feministischer Therapie« in »Statt
Psychiatrie« im Antipsychiatrieverlag. Eine weitere, von Peet
Thesing ebenso ignorierte Publikation ist »Frauen
gegen Gewalt in Gesellschaft und Psychiatrie Eine feministische
Analyse psychiatriebetroffener Frauen«. Diese Philippika von
sieben Frauen aus Kanada und den USA gegen die männlich dominierte
Psychiatrie und Psychotherapie stammt aus dem Jahr 1983, auch in »Statt
Psychiatrie« in deutscher Übersetzung publiziert. Wird die
Autorin an der eigenen Forderung gemessen, Psychiatriebetroffenen zuzuhören
(und vermutlich auch deren Aussagen ernst zu nehmen), stellt sich die
Frage, wieso diese beiden von grundsätzlicher Bedeutung bestimmten
Publikationen ignoriert wurden. Vielem in Peet Thesings Buch lässt
sich zustimmen, beispielsweise der Kritik an der patriarchalisch ausgerichteten
psychiatrischen Diagnostik und der Kritik an psychiatrischer Zwangsbehandlung.
Doch, wie gesagt, hier wiederholt die Autorin nur, was andernorts schon
1000 mal gesagt ist. Elektroschocks, eine brutale psychiatrischen Maßnahme,
die sich weltweit bevorzugt gegen Frauen richtet, kommt im Buch nur einmal
als Wort ohne inhaltliche Aussage vor, die Kritik an Psychopharmaka konzentriert
sich auf deren ruhigstellende Wirkung; abhängigkeits- und chronifizierungsfördernde
Wirkungen sind ebenso wenig Thema wie die um zwei bis drei Jahrzehnte
reduzierte Lebenserwartung von Menschen mit ernsten psychiatrischen Diagnosen.
Dabei werden drei Viertel aller Psychopharmaka an Frauen verschrieben.
Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 82 S., ISBN 978-3-89771-2. Münster:
Unrast-Verlag 2017. € 7.80
Peter Lehmann
Konrad Thome: Nährstoffe zum Über-Leben
und ihre Bedeutung für Körper, Seele und Geist. Gesunde Ernährung
für jeden Das Bauchhirn als 2. Intelligenz Orthomolekulare
Medizin für psychisch Kranke und bei ADHS
"Nährstoffe sind sicherlich nicht alles, aber ein wichtiger
Baustein im Überleben." Wer diesen Satz aus dem Vorwort des
Heilpraktikers Konrad Thome beherzigt (und sein soziales Umfeld nicht
außen vor lässt), für den ist das ausgesprochen informative
Buch eine Fundgrube hinsichtlich verschiedenster Möglichkeiten, sein
Leben auch über den Weg einer veränderten Ernährungsweise
zu verändern, unter anderem mittels der sogenannten orthomolekularen
Medizin, womit Mikronährstoffe wie Vitamine, Spurenelemente, Enzyme
und dergleichen gemeint sind. Thome führt ein in die Fragen des Ernährungstyps,
der beispielsweise bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten eine wichtige
Rolle spielt, um anschließend die Grundprinzipien einer gesunden
Ernährung und einzelne besonders gesunde Nahrungsmittel sowie die
Wirkungsweise des "Bauchhirns" zu erläutern. Dies ist ein
Nervengeflecht im Darm, das nicht nur für das Immunsystem, sondern
auch die Psyche von Bedeutung ist. Im zweiten Teil des Buches geht Thome
auf die Anwendung der orthomolekularen Medizin bei als psychisch krank
oder aufmerksamkeitsgestört geltenden Menschen ein. Entsprechend
der Tradition der orthomolekularen Medizin verwendet Thome den Krankheitsbegriff,
er beruft sich auf das biochemische Psychosenverständnis Carl Pfeiffers,
der die orthomolekulare Medizin wesentlich geprägt hat. Allerdings
und das macht Thomes Buch besonders wertvoll entwickelt
er seine alternativen Behandlungsvorschläge mit klarem Blick auf
die Gefahren und Risiken psychiatrischer Psychopharmaka mit ihren speziellen
Be- und Überlastungen der Entgiftungsorgane. Pflanzenheilkunde, Homöopathie,
biochemische Maßnahmen nach Dr. Schüßler, Bachblütentherapie
und natürlich orthomolekulare Medizin sind konsequenterweise Thomes
Alternativen zu neurotoxischen psychiatrischen Psychopharmaka. Erfahrungsberichte
und Adressen, wo man die empfohlenen Substanzen beziehen kann, schließen
das Buch ab. Und nicht vergessen: Eingangs steht Thomes Anschrift incl.
Festnetztelefonnummer für den Fall, dass man weitere Fragen an ihn
hat. Kartoniert, 150 Seiten, 4 Abbildungen, 23 Tabellen, ISBN 978-3-921271-44-5.
Kelkheim: Optimal-Verlag 2006. € 14.80 Peter Lehmann
Katharina Tillmann: Geht es dir zu gut? Bipolare Störungen und
meine persönliche Lösungsstrategie
Die unter einem Pseudonym schreibende Autorin will mit ihrem Buch Vorurteile
gegen "Psychisch Kranke" abbauen. Sie beschreibt ihre Vorstellungen
von ihrer Krankheit, wie sie diese erlebt hat, welche unangenehmen Wirkungen
Psychopharmaka bei ihr hatten, dass sie aber doch die Kooperation mit
ihren behandelnden Ärzten gewählt hat, dass sie ein Phasenprophylaktikum
zur Vorbeugung nimmt, dass es ihr wichtig ist, Frühwarnzeichen zu
erkennen, um dann für ausreichenden Schlaf, Entspannung und Abstand
von stressenden Situationen zu sorgen. So weit so gut, könnte man
sagen. Dass sie aber ungebrochen von sich auf andere schließt, denen
sie ebenfalls zur Einnahme von Psychopharmaka rät, und dass sie zuallerletzt
auch noch Familienaufstellungen anpreist, in denen unabhängig
von ihren möglichen Verfehlungen die Vorfahren auch noch geehrt
werden müssen (was sehr nach Hellingerscher "Gehirnwäsche")
klingt), ist allerdings weniger schön. "Es ist Zeit, einen Schritt
weiter zu gehen. Mich einzulassen auf das Leben, mich zu öffnen",
schreibt die Autorin am Ende. Dafür ist ihr alles Gute zu wünschen.
Kartoniert, 48 Seiten, ISBN 978-3-902458-03-2. Selbstverlag 2008. Bestelladresse:
katharina.tillmann[at]gmx.net.
€ 6.50 Peter Lehmann
Achim Tischer: Brauchen wir ein Mahnmal? Zur Erinnerung an die Psychiatrie
im Nationalsozialismus in Bremen.
Beiträge von Dorothea Buck, Marie Luise Büssenschütt, Gerda
Engelbracht, Hans Haack, Rainer Habel, Helmut Hafner, Helmut Haselbeck,
Marikke Heinz-Hoek, Annelie Keil, Peter Kruckenberg, Via Lewandowsky,
Raoul Marek, Frieder Schnock, Renata Stih, Yuji Taeoka, Timm Ulrichs,
Katerina Vatsella und Christine Wischer. Das Buch dokumentiert eine seit
über zehn Jahren in Bremen und weit über die Stadtgrenzen
hinaus reichende öffentlich geführte Diskussion. Die
Beiträge reflektieren aus der Perspektive von Betroffenen, von Kultur-
und Gesundheitswissenschaft, Politik, Bildender Kunst sowie Psychiatrie
den heutigen Umgang mit dem Massenmord der Psychiater unter den Freiräumen
des Nationalsozialismus und die Frage nach den ehtischen Grenzen in der
Medizin damals wie heute. Mit dem Artikel »Die Tragödie
der Euthanasie« von Dorothea Buck. Gebunden, 41 teilweise
farbige Abbildungen, 141 Seiten, Bremen / Rostock: Edition Temmen 2000.
DM 19.90 Peter Lehmann
Igor Tominschek / Günter Schiepek: Zwangsstörungen
Ein systemisch-integratives Behandlungskonzept
Buch über Therapiekonzepte zur Behandlung von Zwangsstörungen,
welches verhaltenstherapeutische Interventionen mit systemischen Modellen
und Techniken verbindet und psychologische und neurobiologische Erklärungsansätze
zu verbinden versucht. Anhand von Fall-Beispielen wird der Stellenwert
sozialer Beziehungen und der individuellen Biografie der Betroffenen für
die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Zwangsstörungen beleuchtet.
Das Buch stellt zudem das Windacher Behandlungsmodell vor. Verhaltenstherapeutische
und systemische Interventionen ermöglichen in diesem Modell sowohl
eine Symptomreduktion als auch die Bearbeitung der Hintergründe der
Problematik bei Patient und Angehörigen. Zahlreiche klinische Beispiele
zeigen in den Augen der Autoren, wie systemische Techniken, z.B. bildliche
Darstellung der Familiengeschichte mit jeweiligen Problemen der einzelnen
Familienmitglieder ("Genogramme"), idiographische Systemmodellierung,
Skulpturen, zusammen mit verhaltenstherapeutischen Techniken zu Synergieeffekten
führen können. "Abschließend wird ein Ausblick auf
die Möglichkeiten des computerbasierten Real-Time Monitorings von
Therapieverläufen und dessen Stellenwert im Rahmen eines synergetischen
Prozessmanagements gegeben." Dieser Schluss lässt einen leicht
schaudern, ebenso wie der hier und da empfohlene Einsatz von Antidepressiva
und Neuroleptika, möchte man doch eigentlich in der Psychotherapie
eher mit Menschen zu tun haben als mit technologischen Herangehensweisen,
Chemie und Computern. Kartoniert, VIII+164 Seiten, ISBN 978-3-8017-1888-6.
Göttingen: Hogrefe Verlag 2007. € 24.95 Peter Lehmann
Dieter Trautmann: Endlich ohne
Antidepressiva Wie und wann du sie absetzt. Was du stattdessen
tun kannst Der Psychiater und Psychotherapeut Trautmann hat ein Buch über
Maßnahmen gegen Depressionen geschrieben. Viel Platz nehmen die
Seiten über Depressionen, psychotherapeutische und sonstige Maßnahmen
ein (z.B. den inneren Schweinehund überwinden, Denkmuster verändern,
Johanniskraut). Auch darüber, wer Antidepressiva "wirklich" braucht
und was in seinen psychiatrischen Augen sinnvolle Dosierungen sind. Seine
Meinung basiert auf einer über 30-jährigen Tätigkeit als
Psychiater, seit 2006 in eigener Praxis, dort hantiert er mit Antidepressiva.
Auch das Neuroleptikum Quetiapin (Handelsnamen Seroquel) empfiehlt er
als von vielen auch in höheren Dosierungen gut vertragenes
Medikament, in der Regel recht problemlos abzusetzen, so der Autor. Hier
könnte man das Buch gleich in die Ecke werfen, öffentlich gemachte
Berichte über Entzugsprobleme bei Quetiapin ignoriert der Mann offenbar.
Antidepressiva können schädlich sein, so Trautmann im vorderen
Buchteil, wo er Vertrauen aufbauen will, durchgängig duzt er seine
Leserschaft.
Es sei bequemer, Psychopharmaka zu schlucken, anstelle sich aktiv mit
der eigenen Lebenssituation auseinanderzusetzen. All das ist nicht neu.
Schon der Schweizer Psychotherapeut Josef
Giger-Bütler hat sich in seinen vier im Beltz-Verlag erschienenen
empfehlenswerten Büchern mit depressiven Reaktionsmustern, Wegen
aus der ständigen Überforderung und der Anleitung zur Selbsthilfe
beschäftigt. Ohne gleichzeitig Antidepressiva anzupreisen beschreibt
er, wie der Ausstieg aus der Depression ohne diese Substanzen gelingt,
und benennt die Schritte, anhand derer depressive Menschen wieder zu sich
selbst finden und die Depression hinter sich lassen können.
Zurück zum Psychiater Trautmann: Schädlich können Antidepressiva
seiner Meinung nach sein, wenn die "Nebenwirkungen" ganz im Vordergrund
stünden. Offenbar passiert ihm dies selten, denn insbesondere die
neuen Antidepressiva hätten bei den meisten Patienten relativ wenig
unerwünschte Wirkungen. Sexualstörungen? Panikattacken? Suizidalität?
Übelkeit? Blutdruckstörungen? Gibt es nicht in Trautmanns Seiten
über Antidepressiva-Wirkungen. Man werfe besser einen Blick in die
"Aufklärungsbögen Antidepressiva" einiger rheinland-pfälzischer
Kliniken (siehe www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/pdf/aufklaerung-ad.pdf,
dann weiß man sofort, was Trautmann alles unter den Tisch kehrt.
Ganz am Buchende, Seiten 161-168, kommt er zum Absetzen. Dabei drängt
sich der Eindruck auf, dass er seit seiner Approbation keine Fachliteratur
zu Toleranzbildung, Wirkungsverlust, Behandlungsresistenz und Supersensivitätsstörungen
gelesen hat, die das Absetzen so schwer machen können. Behandlungsresistenz
ist bei ihm bloße Wirkungslosigkeit von Antidepressiva, nicht aber
die Gewöhnung des Körpers an ihre Wirkung. Dass diese Psychopharmaka
körperlich abhängig machen können, bestreitet er vehement
ganz im Duktus der Pharmaindustrie. Wenn Probleme beim Absetzen
auftauchen, sind dies einzig die ursprünglichen Probleme, die mit
Antidepressiva unterdrückt waren und jetzt wieder zum Vorschein kommen.
Oder man war zu schnell vorgegangen. Das war's. Lange anhaltende oder
verzögert auftretende Entzugsprobleme? Maßnahmen gegen Entzugsprobleme
außer dem bekannten Vorschlag, zur vorherigen Stufe zurückzukehren
und dann etwas langsamer zu reduzieren? Anhaltende Supersensivitätsstörungen
im Nervensystem? Alles Fehlanzeige.
Zum Schluss noch etwas Freundliches zum Buch: Es enthält keinen Vorschlag,
sich elektroschocken zu lassen. Immerhin. Man freut sich schon über
kleine Dinge. Rezension
im Newsletter Seelische Gesundheit. Kartoniert, 184 Seiten, 6 Abbildungen,
ISBN 3-8426-4238-6. Hannover: Humboldt Verlag 2022. € 19.99 Peter Lehmann
Werner Tschan: Missbrauchtes Vertrauen
Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen
und Folgen
Übersichtlich, nüchtern und knapp, aber keineswegs oberflächlich
oder unparteiisch, führt der Autor Schweizer Psychiater und
Psychotherapeut durch historische, juristische, psychologische
und traumatologische Aspekte von "PSM", sexuellem Missbrauch
in professionellen Abhängigkeitsverhältnissen. Ob im Krankenhaus,
der Kirche, dem Militär, in der Therapie, dem Kinderheim oder dem
Sportverein, im weiten Feld zwischen Belästigung und Vergewaltigung,
wo die Grenzen gerne verwischt werden, helfen Klarheit und Differenzierung.
Aus der Perspektive der Opfer schreibt der Autor und widmet sich dabei
ebenso eingehend den Tätern, denn "Täterbehandlung ist
Opferschutz". Kartoniert, XXII + 336 Seiten, 19 Abbildungen, ISBN
3-8055-7804-0. Basel usw.: Karger Verlag, 2., neu bearbeitete und erweiterte
Auflage 2005. € 58.50 Kerstin Kempker
Christioph Türcke: Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn
der Vernunft
Christoph Türcke zeigt als ein hervorragender Kenner des Nietzscheanischen
Gesamtwerkes dessen Zwiespalt von Vernunft und Wahnsinn zugleich als sein
identisches Streben. Das kann nach Nietzsche nur ein gewaltiger Kraftakt
des Denkens gegen seine notwendige Krankheit, gegen seine sinnliche Herkunft
sein. Die Vernunft müßte über ihren eigenen Schatten springen,
um ihre Wahrheit im Wahnsinn zu erlangen, würde sie wirklich vollzogen.
So aber bedeutet sie ihm die Beschränkung des Vermögens, als
Mensch wahr zu sein, und zugleich die Unmöglichkeit des Menschen,
vernünftig zu sein. Indem der Mensch "Gott abgeschafft" hat, hat
er zugleich seine unendliche Widersinnigkeit bloßgelegt, die nur
der Tolle, der Irre auf dem Marktplatz zu formulieren vermag, der dort
am hellichten Tag mit einer Laterne umherläuft und ausruft: "Ich
suche Gott! Ich suche Gott!" Die Gottessuche am Schauplatz des Alltags
verschreckt das nüchterne Treiben in der Ernüchterung seines
plakativen Atheismus: "Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne
losketteten?" Nietzsches Traum vom Übermenschen, der ewig geträumt
sein muss wie ein Zwang zum Überleben des Menschlichen, ist die versuchte
Menschwerdung Gottes in der Vernunft, die zugleich nur darin bestehen
kann, dass viele Schwache die Stärke des Übermenschlichen nähren,
wie sie auch seine Bedrohung darstellen. Denn nur das Schwache hat die
Kenntnis der Lebenskräfte, die das Starke, einer Drohne gleich, in
sich aufsaugt und für das Geistige und Schöne vertut. Das Nietzscheanische
Dilemma ist das des bürgerlichen Individuums, das von seinen Besitztümern
seine Enteignung zu fürchten hat. Der Wille zur Macht, zu dem es
sich entschließt, ist zugleich seine Ohnmacht, seine morbide Antinomie,
die Widersinnigkeit seiner Ästhetik, welche die Dichter und Denker
von rechts bis links so fasziniert hat (z.B. Levi Strauss, Horkheimer,
Foucault, Thomas Mann). Die solchermaßen verbliebene Radikalität
des Bürgerlichen, welche sich auch im Zusammenbruch der bürgerlichen
Werte äußert, verharrt jedoch nicht im Menschen als Schicksal
Faschisten finden in ihrem Staat allemal die Mittel, dem Willen
zur Macht zu seiner vernichtenden Wirklichkeit zu verhelfen. So ist denn
Nietzsche in der Tat der letzte Philosoph des Bürgertums, jener,
der seine Identität auch wirklich und letztendlich zu formulieren
versuchte und dem Fürchterlichsten diente, dem er zu widersprechen
suchte: Dem "menschlich allzu Menschlichen" im Heilsversprechen des Vernichtungswillens,
der dem Übermenschen inne wohnt. Kartoniert, 176 Seiten, Lüneburg:
Zu Klampen Verlag, 3. Auflage 2003. € 14. Wolfram Pfreundschuh
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