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und Dokumentationen von und über Ludger Bruckmann / Peter Lehmann, 14. Juli 2022
Ludger Bruckmann wäre heute, am 14.7.2022, 75 Jahre alt geworden.
Der folgende Text ist die Grundlage für den Lexikoneintrag in: »Biographisches
Archiv der Psychiatrie« https://www.biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/300-bruckmann-ludger Ludger Bruckmann wurde am 14. Juli 1947 in Essen als zweitältester Sohn einer katholischen Bergarbeiterfamilie geboren. Sein Vater Ludgerus starb früh. Die Familie lebte in einfachen Verhältnissen. Die drei Söhne wurden arg religiös erzogen und sollten nach dem Willen ihrer Mutter Dorothea allesamt Klosterbrüder werden. Sexualität galt ihr als Sünde. Und als kleiner Junge war Ludger Bruckmann den Erzählungen von den Schrecken ausgesetzt, die seine Mutter miterlebte, als sie während der Nazizeit als Pflegerin in einem Kloster den Abtransport von Menschen sah, die als geisteskrank galten und zu ihrer Ermordung in psychiatrische Tötungsanstalten gebracht wurden. So hatte Ludger Bruckmann schon in früher Kindheit schreckliche Ängste vor dem Verrücktwerden (Stöckle, 1982, S. 34). Weil er oft krank war und seine Mutter ihn gerne bei sich zuhause behielt, fehlte er immer wieder längere Zeit in der Schule. Dies konnte wegen einer Lungenerkrankung ein komplettes Schuljahr dauern, so dass er laut Entlassungszeugnis der Volksschule vom März 1963 »in den Leistungen zurückbleiben mußte«. Nach acht Hauptschuljahren begann er in Essen beim Tabakwarenhandel Eduard Palm GmbH eine Lehre als Einzelhandelskaufmann, die er 1966 abschloss, um bei dieser Firma als Verkäufer und ab 1971 als Filialleiter zu arbeiten. 1978, nach überstandener erster Psychiatrisierung, zog er nach Westberlin, wo er die Leitung der Palm-Filiale im Bahnhof Zoologischer Garten übernahm. Ab 1982 absolvierte Ludger Bruckmann verschiedene Fortbildungen, unter anderem als Bauschlosser und Fahrradmechaniker. Er suchte einen geeigneten und befriedigenden Arbeitsplatz. Schließlich erarbeitete er sich 1996 in Berlin in dem von ihm mitgegründeten Weglaufhaus einem Schutzraum für Menschen, die vor psychiatrischer Gewalt fliehen für die nächsten zehn Jahre einen festen Arbeitsplatz. 2006 wechselte er in die Altersteilzeit und wurde Hausmeister im Weglaufhaus. 2010 wurde er der erste Rentner in Deutschland, der seine Rente aufgrund einer ordentlichen Angestelltentätigkeit im Bereich der humanistischen Antipsychiatrie erhielt. Am 1. März 2020 erlitt Ludger Bruckmann nach bereits vorgeschädigter
Gesundheit einen schweren Schlaganfall. In der anschließenden Rehabilitationsphase
folgte ein Herzinfarkt, der ihn ins Koma fallen ließ. Aus diesem
erwachte er nicht mehr, er starb am 23. November 2020 in Berlin. Verrücktheit und Psychiatrisierung Gemäß seiner religiösen Erziehung engagierte sich Ludger Bruckmann in der katholischen Gemeinde und wurde als junger Mann Mitglied der Eucharistischen Ehrengarde in Essen (siehe Abbildung) einer dort hochangesehenen Männergemeinschaft, die bei Fronleichnamsprozessionen die Monstranz als eine Art Leibwache in uniformiertem Gehrock mit Zweispitz samt Federbusch, Fangschnüren, Schulterklappen und Offiziersdegen schützen soll. Seine Laufbahn im ehrenamtlichen katholischen Engagement bekam jedoch einen Knacks, als man einem straffällig gewordenen Mitglied dieses Männerbundes nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis die Wiederaufnahme in die Ehrengarde verwehrte. Diese unversöhnliche und seiner tiefen Überzeugung nach konträr zum christlichen Verständnis von Nächstenliebe und Vergebung stehende Haltung ließ Ludger Bruckmann verrückt werden. Es war Mitte der 1970er-Jahre, als ihn sein älterer Bruder Alvis in die Psychiatrische Anstalt brachte, wo man ihn als paranoid schizophren diagnostizierte und ihm das Neuroleptikum der Wahl Haloperidol spritzte. Wie er später oft berichtete, kam er sich mit den neuroleptikabedingt entstellenden Muskelkrämpfen im Gesicht vor »wie Quasimodo«, die Figur des Glöckners in Victor Hugos Roman »Der Glöckner von Notre-Dame«. Nach einem Monat holte ihn seine Mutter aus der Psychiatrie nach Hause; gemeindenah bekam er das Depotneuroleptikum Fluspirilen (Imap) gespritzt. Nachdem er einige Wochen später im gleichen verrückten Zustand wie zuvor war, wurde er dem Amtspsychiater vorgeführt, der ihm für vorläufig drei Monate einen Einweisungsschein in die Psychiatrie ausstellte. Statt sich in die Anstalt zu begeben, zerriss Ludger Bruckmann den Einweisungsschein und schloss sich zuhause ein. Dort fand ihn sein jüngerer Bruder Willibrord in desolatem Zustand vor und nahm ihn 1978 mit nach Berlin, wo er fortan lebte. Allerdings kamen im Folgejahr seine psychischen Probleme zurück. In diesem Zustand stellte er sich einem Polizeiwagen in den Weg und hielt den Polizisten die Bergpredigt, worauf sie ihn in Handschellen und »sensibel wie Baumstämme« in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik verbrachten. Nachdem er bei seinem ersten Freigang die Neuroleptika eigenmächtig abgesetzt und sich sein Zustand für die Psychiater überraschend gebessert hatte, gelang es ihm, diese in zu überzeugen, dass es das Beste ist, die Zwangsunterbringung aufzuheben und ihn freizulassen. Therapie, Selbsthilfe und Widerstand 1979 begann Ludger Bruckmann eine Psychotherapie. Dort wurde er vom
Psychologen Wolfgang Hegenbart für ihn völlig überraschend
nach seiner eigenen Meinung gefragt. Und der Therapeut fragte gar
nach, wenn er etwas nicht verstand. Eine solche Erfahrung hatte Ludger
Bruckmann zuvor nicht gemacht. Im Jahr darauf wechselte er in eine Gruppenpsychotherapie
ins neu gegründete KommRum, ein selbstverwaltetes Kommunikationszentrum
mit humanistischen Psychotherapie-Angeboten in Berlin-Friedenau. Dort
waren auch einige psychiatriekritische und dem Selbsthilfegedanken gegenüber
positiv eingestellte Psychologinnen und Psychologen tätig. Diese
speziell Maria Gardemann förderten proaktiv 1980 die
Gründung einer Selbsthilfegruppe von Psychiatriepatientinnen und
-patienten im KommRum. Ludger Bruckmann war Gründungs- und tragendes
Mitglied dieser heterogenen und von Anfang an autonomen Gruppe, aus der
sich nach kürzester Zeit die antipsychiatrische und zu Beginn recht
undogmatische Irren-Offensive e.V. bildete (Lehmann, 2022a, S. 30). Er
war beteiligt an allen Aktionen der nächsten Jahre, einschließlich
Plena, Einzug in besetzte Häuser, Reisen ins In- und Ausland zu Veranstaltungen,
Gründung der Erfassungsstelle für Selbstmorde in der Psychiatrie,
Erarbeitung eines Mustertextes für ein Psychiatrisches Testament,
Redaktionsgruppe der gleichnamigen Zeitschrift und gemeinsam mit
Mitgliedern des Berliner Psychiatrie-Beschwerdezentrums Entwurf
einer Konzeption für ein Weglaufhaus. Parallel arbeitete er im Beschwerdezentrum
mit, ebenso in der Bürgerinitiative Festes Haus, die sich gegen ein
neues Forensik-Bettenhaus in der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik
engagierte. Von 1989 bis 1990 war Ludger Bruckmann im Treffpunkt der Irren-Offensive in Berlin-Schöneberg angestellt, musste aber deren moralischen Niedergang miterleben. In seinem Interview von 1993 schildert er, wie zu jener Zeit in dieser Gruppe Grabenkämpfe überhand nahmen, Hilfesuchende enttäuscht wegliefen und Gewalt und Zerstörung toleriert wurden (Bruckmann, 1993, S. 376f.). Mit dem Ausscheiden seiner Kollegin und Freundin Tina Stöckle gab er entnervt auch seinen Arbeitsplatz im Treffpunkt auf. Einen solch miserablen Arbeitgeber habe er noch nie in seinem Leben gehabt, teilte er später mit. Auch außerhalb der Psychotherapie und Selbsthilfegruppen strebte Ludger Bruckmann nach Selbsterkenntnis. So besuchte er in Berlin Selbsterfahrungsseminare bei Art Reade, einem Trainer aus Phoenix/Arizona, dessen Arbeitsweise der US-amerikanischen Human-Growth-Bewegung und der Tradition dessen indianischer Vorfahren entstammte. Engagement in der humanistischen Antipsychiatrie 1982 war Ludger Bruckmann Teil einer Reisegruppe, die zu einem Kongress über alternative Psychiatrie in Amsterdam reiste, dort das Weglaufhaus in der Keizersgracht besuchte und nach ihrer Rückkehr in Berlin ebenfalls ein eigenes Zentrum aufbauen wollte. Ein Ver-rücktenhaus, wie er es wollte, in dem ähnlich der Sozialistischen Selbsthilfe Köln, wo er einen Monat lang hospitiert und mitgearbeitet hatte Menschen zusammen leben, arbeiten und gegen die Psychiatrie kämpfen, kam allerdings nicht zustande. Aus dem Umfeld der Irren-Offensive bildete sich die Projektgruppe Weglaufhaus, aus der heraus sich nach der Spaltung der Irren-Offensive 1989 der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. gründete, wiederum mit Ludger Bruckmann als Gründungsmitglied. Befeuert durch eine Millionenspende eines Angehörigen, dessen Sohn in der Psychiatrie zu Tode gekommen war, erreichte der Verein nach jahrelangem Kampf eine Entgeltvereinbarung mit der Berliner Senatsverwaltung für Soziales, so dass 1996 das Weglaufhaus eröffnet werden konnte (Kempker, 1998) mit Ludger Bruckmann als festem Mitarbeiter. 1990 war Ludger Bruckmann zudem Gründungsmitglied der gemeinnützigen Weglaufhaus Investitionsgesellschaft zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt mbH (Berlin) und bis zur Löschung der gGmbH 2002 ihr Gesellschafter. Ein Jahr davor war er auch Gründungsmitglied des Forums Anti-Psychiatrischer Initiativen e.V., einem Zusammenschluss antipsychiatrisch aktiver Personen und Gruppen in deutschsprachigen Ländern. Der (2001 wieder aufgelöste) Verein hatte das Ziel, Alternativen zur Psychiatrie und eine verbesserte Menschenrechtssituation von Psychiatriebetroffenen zu fördern, um Rahmenbedingungen und Möglichkeiten echter menschlicher Hilfeleistung zu schaffen. Als 2001 der Großteil der Gründungsmitglieder des Vereins
zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. den Verein verließ und
den Für alle Fälle e.V. zur Förderung nutzerkontrollierter
Fortbildung und Forschung gründeten, war Ludger Bruckmann wieder
Gründungsmitglied. Allerdings blieb er Mitglied des Weglaufhaus-Trägervereins
und wurde später gar Vorstandsmitglied. 2005 schließlich war
Ludger Bruckmann Gründungsmitglied der Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener
und Psychiatrie-Betroffener (BOP&P) e.V., einem Verein, der Selbsthilfemöglichkeiten
entwickeln, auf Bezirks- und Landesebene als Interessensvertretung von
Psychiatriebetroffenen tätig sein und einen respektvollen Umgang
miteinander im Verein pflegen sollte. Wie zweifelhaft der letztgenannte
Anspruch der Wirklichkeit standhielt, wurde beim Ausschluss des verdienten
BOP&P-Vereinsgründers Reinhard Wojke am 5. August 2021 deutlich
(Lehmann, 2021). Zum Glück musste Ludger Bruckmann diesen Tiefpunkt
in der Berliner Selbsthilfebewegung nicht mehr miterleben. 2006 ging Ludger Bruckmann in die Altersteilzeit und war bis zu seiner Pensionierung als Hausmeister des Weglaufhauses tätig. Anschließend wechselte er in den Vorstand des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V., dem er bis zu seinem Tod 2020 angehörte. In diesem Verein engagierte er sich bis zu seinem Schlaganfall auch in einer Selbsthilfegruppe, die sich mit dem Absetzen ärztlich verschriebener Psychopharmaka beschäftigte. »Ich bin großartig groß und artig« war Ludger Bruckmanns Selbsteinschätzung nach den Selbsterfahrungsseminaren bei Art Reade, wobei er das »Groß« auf seine imposante Körperstatur bezog und das »Artig« auf seine Friedfertigkeit. Beides, wie auch seine Unerschrockenheit und Schlagfertigkeit, machten ihn zu einem beliebten Mitarbeiter im Weglaufhaus. Besonders beliebt war er bei den Bewohnerinnen und Bewohnern, sie schätzen seine Hilfsbereitschaft, Direktheit und Geradlinigkeit. Ganz Kind seiner Zeit konnte er komisch wie Heinz Erhardt sein; allerdings auch stur, wenn er von einer Position überzeugt war. Dieser Charakterzug, der ihn in seinem Lebensweg trotz vieler Misserfolge immer wieder aufstehen und weitermachen ließ, fand seine Würdigung, als ihm dem »Weglaufhaus-Mitarbeiter mit dem größten Durchhaltevermögen und dem dicksten Schädel« 2004 stellvertretend für den Trägerverein und das Team des Weglaufhauses der Ingeborg-Drewitz-Preis der Humanistischen Union Berlin überreicht wurde (Lehmann, 2022, S. 299) Öffentlichkeitsarbeit und Reflexionen Schon vor seiner Psychiatrisierung war Ludger Bruckmann in spezieller Weise kreativ. Mit einfachsten Mitteln stellte er Kurzfilme im Super-8-Schmalfilmformat her, die er in privaten Kreisen zeigte, beispielsweise »Die Raubritter von Seldeneck«. Die Videodateien zu seinem Spielfilm »Ver-rückt Jenseits der Normalität«, den er mit Teammitgliedern des Weglaufhauses drehte und wo er verschiedene, mit einfachsten Mitteln gedrehte Teilsequenzen übereinander blendete, um originelle Spezialeffekte zu erzielen, fanden sich in seinem Nachlass. Sie wurden von dem Berliner Filmemacher Zoran Solomun, einem Freund Ludger Bruckmanns, posthum in digitalisierter Form fertiggestellt und erstmals bei einer Gedenkveranstaltung im Weglaufhaus mitsamt seinem Kommentar zum Film öffentlich gezeigt. Gerne gab Ludger Bruckmann Interviews, vertrat die Gruppen, in denen
er sich engagierte, an Ständen bei Straßenfesten oder auf dem
Evangelischen Kirchentag, und sprach bei Tagungen im In- und Ausland.
Als Nicht-Akademiker hatte er keinerlei Scheu, bei Veranstaltungen an
Universitäten Psychiater wegen der Verblödung ihrer Studentinnen
und Studenten zu kritisieren, wenn sie ihre Psychopharmaka anpriesen (Arnulf
& Haase, 1983). Gleichzeitig genoss er es, wenn er wie zum
Beispiel 2010 anlässlich des Kongresses des Europäischen Netzwerks
von Psychiatriebetroffenen in der Aristoteles-Universität von Thessaloniki
seitens Kostas Bairaktaris das Interesse an seinem Lebensweg und
seinen jahrzehntelangen Erfahrungen im Bereich der humanistischen Antipsychiatrie
erfuhr, das er verdiente. Kritisch, auch selbstkritisch, reflektierte Ludger Bruckmann immer wieder Chancen, Grenzen und Fallstricke im Selbsthilfe- und Reformbereich. So positiv, wie er für sich selbst in seinem Artikel »Was hilft mir, wenn ich verrückt werde« die Möglichkeiten individueller Selbsthilfe einschätzte und für eine Abkehr vom Wiederkäuen von Leidensgeschichten hin zur Übernahme von Selbstverantwortung für den weiteren Lebensweg plädierte, so kritisch sah er die häufig fehlende Selbstkritik in Psychiatriebetroffenenkreisen sowie den Expertenmonolog so mancher akademischer Besserwisser. Nach der Pensionierung Ludger Bruckmanns führte ihn sein Freund Wolfgang Fehse, ein Berliner Autor, in die Gesellschaft für neue Literatur Berlin ein, wo er einen weiteren Freundeskreis aufbaute und bis zu seinem Schlaganfall immer wieder eigene kurze gesellschaftskritische Texte vortrug. Quellen
Beiträge und Dokumentationen von und über Ludger Bruckmann / Traueranzeige, Nachrufe & Widmungen
Traueranzeige, Nachrufe & Widmungen
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