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Zum Gedenken an Ulrich Lindner

Ich trauere um Ulrich Lindner. Ulrich war psychiatriebetroffener Theologe, Philologe und Historiker, ein ganz besonderer Mensch: zugewandt, begeisterungsfähig, humanistisch orientiert, hilfsbereit, uneigennützig, kritisch gegenüber Obrigkeiten.

Ich traf auf ihn im Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. 1994 war ich in den Verband eingetreten. Gleich in den Vorstand gewählt, lernte ich Ulrich als Vertreter des BPE-Landesverbands Baden-Württemberg im Gesamtvorstand kennen. Wir verstanden uns von Anfang an blendend. Er wohnte in Unterreichenbach Kreis Calw, meine geschätzte Patentante war in Oberreichenbach zuhause gewesen. Die schwäbischen Wurzeln verbanden uns, ich bin in Calw geboren.

Dass Ulrich eigentlich aus Hamburg kam, wusste ich seinerzeit nicht. Vermutlich waren andere Gemeinsamkeiten wichtiger.

Mit ihm zusammen moderierte ich Mitte der 1990er-Jahre bei BPE-Jahrestagungen die AG »Absetzen von Psychopharmaka / Und was danach?«. Ich weiß allerdings noch, dass ich von einigen schräg angesehen wurde, dass ich mit einem Pfarrer gemeinsam eine AG mache. Klar, unter Psychiatriebetroffenen sind auch einige, die schlechte Erfahrungen mit ›der Kirche‹ gemacht haben. Jedoch predigte Ulrich nicht in der AG, sondern vertrat gemeinsam mit mir die Ansicht, dass es beim Absetzen von Psychopharmaka darum gehe, die Substanzen nicht einfach wegzulassen, sondern Selbstverantwortung zu übernehmen und ihnen ein konstruktives Gegengewicht entgegenzusetzen.

Ulrich Lindner
Ludger Bruckmann, Maria Wagner, Peter Lehmann, Ulrich Lindner Beim 28. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 18. Juni 1999 in Stuttgart
Vorne von links: Maria Wagner, Peter Lehmann, Ulrich Lindner
Hinten links: Ludger Bruckmann

Wie er dies selbst praktiziert hatte, beschrieb er unter dem anfangs noch verwendeten Pseudonym »Pirmin Reichenstein« in seinem Beitrag »Ich laufe um mein Leben« in meinem 1998 herausgegebenen Buch »Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern«. Seine Geschichte kann man in den übersetzten Ausgaben des Buches in vielen Sprachen nachlesen: Nach drei Jahrzehnten seelischer Leiden, Suizidversuchen und der Verabreichung aller Arten von Psychopharmaka hatte der tiefgläubige Ulrich eine Vision, wie ihm Jesus erschien, den er immer wieder um Hilfe angefleht hatte. Ulrich hörte ihn sagen: »Was du selbst tun kannst, kann ich dir nicht abnehmen.« Da begriff er, so seine Worte, dass seine Frömmigkeit oft bloße Flucht vor der Selbstständigkeit gewesen war.

Auch in seinem Beitrag »Von der Heilung einer angeblich unheilbaren Depression« in dem von Andreas Knuf und Anke Gartelmann ein Jahr zuvor herausgegebenen Bucn »Bevor die Stimmen wiederkommen« hatte Ulrich unter dem fast gleichen Pseudonym »Pirmin von Reichenstein« betont, alle wahre Hilfe sei Hilfe zur Selbsthilfe.

Also war Ulrich aktiv geworden, hatte seine Psychopharmaka abgesetzt, zu joggen begonnen, und schließlich waren seine Depressionen auf Dauer verschwunden. Ulrich Bartmann nahm in seinem Buch »Joggen und Laufen für die Psyche. Ein Weg zur seelischen Ausgeglichenheit« (5. Aufl. 2009) seine Geschichte als anschauliches Beispiel für den therapeutischen Wert des langsamen Dauerlaufs auf.

Ulrich gründete die »Selbsthilfe für seelische Gesundheit Nordschwarzwald (SGN)«, eine christlich orientierte Gruppe, meines Wissens die einzige religiöse psychiatriekritische im deutschsprachigen Bereich. »Gesundheit und Glück bedeuten ein harmonisches Gleichgewicht durch Selbstheilungskräfte auf dem leiblichen, seelischen, geistigen, sozialen, künstlerischen und geistlichen Gebiet« – das war seine erste These bei dem Referat »Wie können wir unsere Selbsthilfekräfte zum Einsatz bringen?«, das er 2004 vor seiner Gruppe gehalten hatte.

Mit seinem Gebot der Nächstenliebe kam er beim BPE mit der Zeit nicht mehr klar, insbesondere als dort auf Vorstandsseite der Ton immer rauer wurde, auch ihm gegenüber.

Wir blieben jedoch in Kontakt: Gemeinsam betreuten wir Infostände beim evangelischen Kirchentag. Er unterstützte die Schwester meiner Mutter, die auch Probleme mit der Psychiatrie hatte, und kam zu den Beerdigungen meiner Eltern. Er vermittelte den Kontakt zu Horst Pollmann aus Bad Liebenzell, der 2009 mit der Übersetzung von »Psychopharmaka absetzen« ins Französische begann, was neun Jahre später zur Publikation von «Psychotropes, Réussir son Sevrage – Se désaccoutumer avec succès des neuroleptiques, antidéprésseurs, thymorégulateurs, psychostimulants et tranquilisants» beim Verlag Editions Résurgence (Marco Pietteur) führte. Und er schlug mich 2010 – erfolgreich – dem Calwer CDU-Bundestagsabgeordneten für das Bundesverdienstkreuz vor, das mir tatsächlich im Jahr darauf verliehen wurde.

An seinem 75. Geburtstag, zu dem Ulrich mich eingeladen hatte, gab er seinen Freundinnen und Freunden die Hochzeit mit der fünfzehn Jahre älteren Maria bekannt, die er zuvor nach vielen Jahren des Wartens auf die formale Scheidung von seiner ersten Ehefrau gefeiert hatte.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Ulrich in einem Alten- und Pflegeheim in Calw-Hirsau. Jetzt ist er am 6. Januar 2025 im Alter von 88 Jahren friedlich in die Ewige Heimat gegangen, wie es in der Trauerkarte steht.

Ich weiß, was ich an Ulrich hatte, und werde ihm für immer für seine Freundschaft dankbar sein.

Peter Lehmann
Berlin, 15. Januar 2025


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