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des Antipsychiatrieverlags
Rede auf der zentralen Veranstaltung der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) zum »Tag der Gesundheit« am 6. April 2001 in Genf;
in: Ulrike Burgstaller (Hg.): "'Die neue Psychiatrie'. Chancen,
Alternativen, Risiken", Ried (Österreich): Selbstverlag
2002, S. 62-65 /
PDF; gekürzt abgedruckt in: Pro
mente sana aktuell (Schweiz), 2001, Nr. 3, S. 30-31 /
PDF.
Presseerklärung des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V. vom 5. April 2001
/
English
translation
Peter
Lehmann
Ende der Ausgrenzung Habt Mut zum Teilen!
Unter dem Motto »Mental health: Stop exclusion
Dare to care« (»Psychiatrie: Beendet die Ausgrenzung
Traut Euch, kümmert Euch«) waren 2001 erstmals
Psychiatriebetroffene als Redner bei der WHO eingeladen, Marika
Sellgren vom schwedischen Verband RSMH und ich. Einen Vertreter
des Weltverbands von Psychiatriebetroffenen (World Network of
Users and Survivors of Psychiatry; WNUSP) hatte die WHO nicht
eingeladen. Ich war um einen persönlichen Bericht gebeten
worden.
Als sich 1977 meine Lebensprobleme (enormer Stress in Partnerschaft
und Arbeit, Examensarbeit im Studium) potenzierten, wurde ich
verrückt. Meine Freunde und Freundinnen, mit denen ich
im nachhinein diese Situation diskutierte, sagten, sie wären
vermutlich auch ausgerastet, wären sie in der gleichen
Situation gewesen.
Es waren nicht meine Freunde, die mich im Irrenhaus behandelten,
es waren psychiatrisch Tätige Mediziner, und so
verabreichten sie mir eine Reihe von Diagnosen, entkleideten
mich gewaltsam, warfen mich auf ein Bett, banden mich fest und
verabreichten mir Neuroleptika in Hülle und Fülle.
Es dauerte nicht lange, bis man mich einen unheilbar Schizophrenen
nannte, reif für die Chronikerabteilung. Die Psychopharmaka
hatten mich fett gemacht, impotent, parkinsonoid, apathisch
und suizidal, ich hatte eine tardive Dyskinesie (1) entwickelt,
und zwar in Form des Zwangsmümmelns. Aber wen kümmerte
das schon?
Schließlich entlassen, jedoch unter der Wirkung von Depotneuroleptika,
stand ich vor der Entscheidung, entweder ein Leben als Zombie
zu führen oder mich besser gleich umzubringen. Niemals
zuvor hatte ich je an Selbstmord gedacht. Ich entschied mich,
die Neuroleptika wegzulassen. Innerhalb von vier Wochen war
ich wieder gesund nur meine Leber erholte sich bis heute
nicht vollständig von der Behandlung.
Am heutigen Tag will ich nicht klagen, ich sei in der Psychiatrie
nicht ausreichend gepflegt worden. Das Problem war, dass ich
zu viel von dieser Behandlung erhielt, die man psychiatrische
Pflege nennt. Aber wen kümmern all diese Menschen, die
unter den Wirkungen dieser Behandlung leiden? Wen kümmert
zum Beispiel die Tatsache, dass so viele Menschen unter Einfluss
psychiatrischer Psychopharmaka ihrem Leben selbst ein Ende setzen?
Es sollte die WHO kümmern. Selbsttötung ist eine der
häufigsten Todesursachen von Menschen, die als Schizophrene
etikettiert sind und deshalb Neuroleptika erhalten. Mit Einführung
der Neuroleptika ins psychiatrische Behandlungsarsenal in den
frühen Fünfzigern gab es einen dramatischen Anstieg
der Suizidrate psychiatrisch behandelter Menschen eine
Katastrophe, die von einer ganzen Reihe epidemiologischer Studien
nachgewiesen wurde (2).
Millionen von Einzelgeschichten könnte man erzählen,
Tag für Tag, Jahr für Jahr. Wer hört nicht gerne
immer wieder persönliche Geschichten? Aber statt solche
Geschichten unentwegt zu wiederholen, sollten wir eher die Verhältnisse
ändern, lassen Sie uns voranschreiten von der Fürsorge
zum Teilen. Teilen Sie Ihre Macht und Ihre Finanzresourcen mit
Psychiatriebetroffenen. Dieser Schritt von Care zu Share (von
Fürsorge zum Teilen) würde wirklich etwas bewirken.
»Die Entwicklung innovativer und umfassender, speziell
psychiatriepolitischer Strategien unter Einbeziehung aller Beteiligten
einschließlich der Betroffenen und der Pflegekräfte
sowie die Beachtung der Beiträge von Nichtregierungsorganisationen
(NGO) und von Bürgern« ist eines der neun Schlüsselprinzipien,
die auf dem Kongress »Ausgewogene Förderung von psychischer
Gesundheit und psychiatrischer Betreuung« als zentrales
und gemeinsames strategisches Ziel ausgemacht wurden. Der Kongress
war in Brüssel vom 22. bis 24. April 1999 von WHO und Europäischer
Kommission veranstaltet worden. Andere nicht nur in Europa
wichtige Schlüsselprinzipien sind die Förderung
der Selbsthilfe und die Entwicklung neuer, nichtstigmatisierender
(nichtpsychiatrischer) Ansätze sowie einer Psychiatriegesetzgebung,
welche auf den Menschenrechten basiert und die Freiheit der
Wahl unter verschiedenartigen Behandlungsangeboten betont.
Es würde mich glücklich machen, wenn ich diese Prinzipien
bei jedem Treffen der WHO bestätigt und weiterentwickelt
sähe. Wir Psychiatriebetroffenen brauchen dieselben Rechte
wie andere Menschen; Mediziner müssen auf einen Teil ihrer
Macht und ihres Einflusses verzichten, sie müssen Macht
und Einfluss mit uns teilen, Finanzmittel ebenso.
Ich halte nichts vom überkommenen Konzept der psychischen
Krankheit und des Bedarfs an synthetischen Psychopharmaka, speziell
wenn sie über lange Zeit oder gar lebenslänglich verordnet
werden. Das kann natürlich nicht heißen, die Augen
zuzumachen vor den realen Problemen, die viele Menschen haben.
In Übereinstimmung mit Karl Bach Jensen, Mitglied des WNUSP-Interimkomitees,
will ich darauf hinaus, dass man Menschen, wenn sie verrückt
werden, nicht etwa einsperren und sich nicht mehr um sie kümmern
sollte. Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer
Dienste bestünde darin, Menschen bei der Bewältigung
ihrer Probleme zu helfen unter anderem durch gegenseitige
Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative Medizin, gesunde Ernährung
und natürliche Heilverfahren. Die alternative Arzneimittelkunde
hat beispielsweise ein großes Wissen über die Wirkung
von Kräutern und Homöopathika, die dem Körper
und der Psyche helfen können, Entspannung zu finden und
das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Mit solchen Dingen
kann man möglicherweise nicht so viel Geld verdienen, doch
sie sind es, die Zukunft haben. In diesem Feld können Psychiatriebetroffene
eine wichtige Rolle als MitarbeiterInnen und RatgeberInnen spielen,
denn sie haben das Wissen darüber, was ihnen geholfen hat.
Solche mit einer positiven Subkultur-Identität und Würde
verbundenen Dienste können von der Allgemeinheit zur Verfügung
gestellt werden oder, mit öffentlicher finanzieller Unterstützung,
von der Betroffenenbewegung selbst, wobei Menschen einfach ein
Ort gegeben würde, sich zu treffen und ihr eigenes Leben
zu gestalten. Falls Menschen eingesperrt werden müssen,
um ihnen das Leben zu retten oder um sie davon abzuhalten, anderen
ernsthaften Schaden zuzufügen, sollte niemand das Recht
haben, ihnen irgendeine Art von Behandlung aufzuzwingen. Zum
Schutz vor Zwangsbehandlung sollten Psychiatrische Testamente
oder andere Vorausverfügungen (in denen steht, welche Form
der Behandlung eine Person wünscht oder nicht wünscht,
falls es zu einer Zwangseinweisung kommt) in allen Staaten und
Ländern rechtskräftig werden.
Alternative Systeme und dezentrale Dienste müssten sich
um die Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen
in einer Weise kümmern, dass der Gebrauch von synthetischen
und giftigen psychiatrischen Psychopharmaka minimiert und auf
lange Sicht überflüssig wird.
Einen integrierten Teil eines zukünftigen, ökologisch
und humanistisch ausgerichteten Gesellschaftssystems stellt
der Verzicht auf toxische Stoffe in der Natur, im Wohnbereich,
in der Ernährung und in der Medizin dar. Der Verzicht auf
den Einsatz chemischer Gifte im psychosozialen Bereich könnte
unter folgenden Gesichtspunkten entwickelt werden:
-
In der Öffentlichkeit, bei Professionellen wie bei
Betroffenen ist ein Bewusstsein über das inhumane,
gefährliche und schädliche Kosten-Nutzen-Verhältnis
chronischer Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka zu schaffen.
-
Internationale Empfehlungen und nationale Gesetze, die
psychiatrische Zwangsbehandlung und speziell juristisch
verfügte Auflagen zur Dauereinnahme im ambulanten Bereich
ermöglichen, müssen bekämpft und verhindert
werden.
-
Es ist wichtig, Wissen über Entzugsprobleme und darüber,
wie diese gelöst werden können, zu sammeln und
zu verbreiten.
-
Spezielle Hilfsprogramme und Einrichtungen für Menschen
mit Abhängigkeitsproblemen müssen entwickelt werden.
-
Die Aufklärung über schädliche Wirkungen
und Abhängigkeitsrisiken ist bereits vor der Erstverabreichung
psychiatrischer Psychopharmaka sicherzustellen.
-
Die Verursacher psychopharmakabedingter Schmerzen, Leiden
und Behinderungen sind zur Zahlung von Schmerzensgeld zu
verpflichten.
-
Es müssen Methoden, Systeme, Dienste und Institutionen
einer kurz-, mittel- und langfristigen Hilfe und Unterstützung
entwickelt werden, die in keiner Weise auf der Verabreichung
von synthetischen Psychopharmaka aufbauen.
Ich möchte die WHO an die genannten Schlüsselprinzipien
erinnern, die auf der Brüsseler Konferenz verabschiedet
wurden. Und ich bitte um Unterstützung von WNUSP und des
Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen (ENUSP)
gegen das »White Paper on the protection of the human rights
and dignity of people suffering from mental disorder, especially
those placed as involuntary patients« (3). Diese Ethikerklärung
wurde Anfang 2000 von einer in geheimer Zusammensetzung tagenden
Arbeitsgruppe des Steering Committee des Europarats als Diskussionsgrundlage
entworfen und soll Mindeststandards für nationale Regelungen
festlegen. Sollte der Entwurf vom Europarat angenommen werden,
würden Psychiater ermuntert, ihre gewaltsame Behandlung
sowohl in den Anstalten wie auch darüber hinaus in den
Gemeinden zu vollziehen. Das White Paper würde sie zur
gewaltsamen Verabreichung von Elektroschocks ermuntern, es würde
die Unterbringung auch ohne richterliche Genehmigung erlauben,
nicht einmal die Zwangssterilisation würde es verbieten.
Ich möchte Sie dazu aufrufen, Ihren Einfluss zum Schutz
unserer Menschenrechte sofern sie überhaupt schon
existieren geltend zu machen.
Und ich möchte Sie ermuntern, für die Integration
von WNUSP Sorge zu tragen. Diese demokratische Organisation,
die 2000 von der International Disability Foundation finanziell
unterstützt wurde, wird im Juli 2001 in Vancouver formell
gegründet. Es ist die einzige NGO, die Psychiatriebetroffene
weltweit vertritt. Eine Bemerkung nebenbei: Als ich zu diesem
Treffen in Genf eingeladen wurde, musste ich als »WHO-Berater«
eine Erklärung unterzeichnen, dass ich kein Geld von der
Tabakindustrie erhalten habe. Weshalb eigentlich entwickelt
man keine Übereinkunft, wonach Leute, denen die Pharmaindustrie
Geld zukommen ließ zum Beispiel Familienorganisationen
und so manch ein Psychiater nicht gleichzeitig WHO-Berater
sein können? Wenn Sie wieder einmal über Menschenrechte
diskutieren, würden sich die WNUSP-Vertreter über
eine Einladung freuen. In dieser Organisation gibt es einen
riesigen Schatz an Erfahrung und Wissen.
Um mit einem guten Beispiel des Teilens des Teilens
von Geld zu enden, möchte ich die Finanzmittel ansprechen,
die das deutsche Gesundheitsministerium dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener
gewährte, um eine Internet-Website zu entwickeln. Es ist
nur ein bescheidenes Beispiel, kein Patentrezept zur Lösung
aller Probleme. So können Psychiatriebetroffene an den
Möglichkeiten der sich entwickelnden Technik teilhaben.
Freier Internetzugang in psychiatrischen Einrichtungen würde
es den Insassinnen und Insassen ermöglichen, ihre Erfahrungen
mit der Welt außerhalb zu teilen ihren Freundinnen
und Freunden, ihren Eltern, Kindern und anderen Interessierten.
Hierbei mag es sich um Zukunftsmusik handeln. Derzeit können
Sie, die WHO-Vertreter, zumindest schnell Kontakt zu den unabhängigen
Organisationen von Psychiatriebetroffenen finden:
WNUSP lädt die Organisationen Psychiatriebetroffener ein,
Mitglied zu werden. Wenn Sie solche Verbände kennen, speziell
in den sogenannten Entwicklungsländern, bitten wir Sie,
den Kontakt zu WNUSP zu vermitteln. Und, sehr wichtig, einer
der kritischsten Punkte von ENUSP und WNUSP sind die Finanzmittel,
die diesen NGO ständig fehlen, weshalb Ideen, wie wir diese
Lücken schließen können, immer willkommen sind.
Lassen Sie uns verstärkt an Ihrer Macht teilhaben, an
Ihrem Geld, an Kongressen und Treffen wie diesem. Vielen Dank
für die Hand, die Sie mir gereicht haben. Ich werde sie
nicht loslassen. Neben mir stehen Millionen Psychiatriebetroffener.
Sehen Sie ihre Hände, die nach sozialer Integration und
nach Menschenrechten greifen wollen!
Anmerkungen