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Homepage des
Antipsychiatrieverlags
in: Der Bunte Spleen (Berlin),
Heft 52 (September 2003), S. 7-11
Peter
Lehmann ist seit Ende der 1970er-Jahre in der antipsychiatrischen Selbsthilfe
aktiv. Gemeinsam mit anderen hat er das Berliner Weglaufhaus
konzipiert und zu seiner Realisierung beigetragen. Er ist Sekretär
und Vorstandsmitglied des Europäischen Netzwerks Psychiatriebetroffener,
Autor bzw. Herausgeber u.a. von: "Psychopharmaka
absetzen" (1998, 2002) und "Schöne
neue Psychiatrie" (1996) und Mitarbeiter des Vereins "Für
alle Fälle", der Fortbildungen für Psychiatriebetroffene
und deren UnterstützerInnen anbietet.. Das Interview fand am 15.
August 2003 in den Räumen des Antipsychiatrieverlags
statt.
Der Bunte Spleen:
Hat sich aus Deiner Sicht etwas für die Betroffenen in der Psychiatrie
verbessert?
Peter Lehmann:
Nein. Ich hatte ab 1979 einen Grundsatzprozess auf das Recht auf Akteneinsicht
geführt. Nach wie vor gibt es für Psychiatriebetroffene kein
Recht auf Akteneinsicht. Das zeigt, dass sich ihre Rechtlosigkeit nicht
geändert hat, auch nicht die Feigheit der Psychiater. Im Gegenteil
noch nicht einmal, wenn jemand einen Schadensersatzprozess führen
möchte, haben Betroffene oder ihre AnwältInnen ein Recht auf
Akteneinsicht. Im Streitfall ist vorgesehen, dass es einen sogenannten
Unabhängigen gibt, der in die Akte reinschauen darf. Der soll dann
dem eigenen Anwalt sagen, ob etwas in der Akte steht oder nicht. Das ist
eine himmelschreiende Diskriminierung und rechtliche Ungleichbehandlung.
Andererseits gibt es, im Gegensatz zu sogenannten freiwillig Untergebrachte,
für Zwangsuntergebrachte das Recht auf Akteneinsicht. Das sind zwei
völlig unterschiedliche höchstrichterliche Rechtssprechungen.
Bei einer so auseinander klaffenden Rechtssprechung müsste es an
sich so ist es jedenfalls im Rechtsstaat vorgesehen ein
Konvergenzverfahren geben, das auf höchstrichterlicher Ebene eine
einheitliche Rechtsposition schafft. Aber wir sind ja "nur"
Psychiatriebetroffene, da pfeift man gerne auf Rechtsstaatsprinzipien.
Doch auch andere Sachen haben sich nicht verbessert:
-
Zwangsbehandlung ist immer noch Zwangsbehandlung. Die Leute werden
fixiert und gegen ihren Willen gespritzt. Außerdem gibt es inzwischen
richterliche Auflagen zur ambulanten Zwangsbehandlung, weil die Leute
die Psychopharmaka nicht unbedingt weiterhin nehmen wollen, wenn sie
entlassen sind.
-
Frauen
werden weiterhin gegen ihren Willen mit Psychopharmaka behandelt,
auch wenn sie schwanger sind. Und das, obwohl bekannt ist, dass speziell
in den ersten drei Monaten die Gefahr besteht, dass es dadurch zu
Missbildungen des Kindes kommen kann.
-
In Gefängnissen werden vermehrt Psychopharmaka eingesetzt.
-
Alte Menschen
bekommen vermehrt Psychopharmaka.
-
Kinder
erhalten speziell Aufputschmittel wie z.B. Ritalin, die bei
Kindern paradox (d.h. entgegengesetzt) wirken.
-
Elektroschocks
werden wieder verstärkt angewendet: nicht weil es eine medizinische
Indikation gibt, sondern weil sich psychopharmakabedingt die Sensibilität
von Rezeptoren verändert und Selbstheilungskräfte chemisch
unterdrückt werden. Es würde hier zu weit führen, das
alles ausführlich zu erklären, es ist in meinem Buch "Schöne
neue Psychiatrie" ausführlich dargestellt. Infos darüber
findet Ihr auf meiner Website: www.antipsychiatrieverlag.de.
Auf jeden Fall kann es durch Neuroleptika oder Antidepressiva zu einer
Chronifizierung der ursprünglichen Probleme kommen. Psychiater
glauben dann, die diagnostizierte Krankheit habe sich chronifiziert.
Da sie nur medizinische und keine psychotherapeutischen Mittel haben,
fällt ihnen dann nur noch der besonders brutale Elektroschock
ein.
Es gäbe noch mehr zu sagen: Es wird immer noch strukturell ohne
ausreichende informierte Zustimmung behandelt. Die Verursachung von Selbsttötungen
durch Neuroleptika wird nach wie vor tabuisiert. Es gibt keine institutionellen
Hilfen für Menschen, die Neuroleptika oder Antidepressiva absetzen
wollen. Wer sich ein wirklich gutes Bild über verschiedenste Psychiatrieentwicklungen,
z.B. biologische, gemeindenahe oder psychologisch-daseinsanalytische Psychiatrie
machen möchte, dem bzw. der empfehle ich das zauberhafte Buch von
Kerstin Kempker, "Mitgift
Notizen vom Verschwinden", meiner Meinung nach das aussagefähigste
Buch über Psychiatrie überhaupt darüber, wie man
darin untergehen kann und welche Heerscharen von Schutzengeln man braucht,
um dieses krankmachende System systematischer Vorenthaltung von Hilfeleistung
zu überleben.
Eine der wesentlichen Neuerungen sind die
sogenannten atypischen Neuroleptika, die es seit den 60er-Jahren des
letzten Jahrhunderts gibt und nun, wo neue Varianten entwickelt wurden,
als der letzte Schrei gelten. Ihre Schädlichkeit ist auf den ersten
Blick nicht mehr so gravierend, weil auf breiter Ebene die Rezeptoren
unterdrückt werden. Das bedeutet, dass Störungen gleichzeitig
produziert und deren Entäußerungen kaschiert werden. Psychiater
wie Hans-Joachim Haase beurteilen die Leponex-ähnlichen Neuroleptika
wie z.B. Zyprexa nicht als neu, sondern vergleichen deren Wirkung lediglich
mit der Kombination aus typischen Neuroleptika wie z.B. Haldol und Antiparkinsonmitteln
wie z.B. Akineton. Es sind schon eine Reihe gravierender Schäden
von sogenannten atypischen Neuroleptika bekannt geworden, wie chronische
Muskelstörungen z.B. bei Risperdal. Einzelne Substanzen sind bereits
wieder vom Markt genommen worden, z.B. wegen tödlicher Blutbildschäden.
Aber von Leponex abgesehen sind diese Mittel neu, und sie sind vor allem
teuer. Die Patente bestehen, die Substanzen können sehr teuer verkauft
werden und tragen ihren Teil dazu bei, dass die Gelder im Gesundheitswesen
rar werden und speziell für Selbsthilfe überhaupt kein Geld
da ist. Von der Chronifizierung psychischer Probleme durch unterlassene
angemessene psychosoziale Hilfe, die Produktion körperlicher Langzeitschäden
durch Psychopharmaka und horrende Kosten durch Frühpensionierung
und Betreuungsbedarf will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Für
Deutschland ergibt sich im internationalen Vergleich eine extrem beschämende
Situation der Selbsthilfe. Es gibt nahezu kein Geld oder höchstens
Almosen im Vergleich zu den Milliarden die in der Gesundheitsindustrie
verpulvert werden. Im Ausland, z.B. in Großbritannien, wird Selbsthilfe
auf breiter Basis finanziell unterstützt, dort gibt es Betroffenenforschung,
viele bezahlte Vollarbeitsplätze für Psychiatriebetroffene,
deren Insiderwissen durch die Regierung anerkannt und genutzt wird.
Der Bunte Spleen:
Stichwort Behandlungsvereinbarung: Glaubst Du, dass die Betroffenen dadurch
ein Mitspracherecht und damit Einflussmöglichkeiten auf ihre Behandlung
erhalten?
Peter Lehmann:
Die Frage ist, wo haben sie Mitspracherecht? Haben sie ein Mitspracherecht,
wenn neue Substanzen getestet und bewertet werden? Haben sie ein Mitbestimmungsrecht
bei der eigenen Behandlung? Die Behandlungsvereinbarung ist rein rechtlich
gesehen nur eine Goodwill-Erklärung der Beteiligten. Für den
Fall, dass Betroffene in die Psychiatrie kommen und Psychiater mit ihrer
Behandlung nicht warten wollen und welcher tatkräftige Psychiater
wartet gerne mit aufgezogener Spritze , können Betroffene im
voraus festlegen, ob sie zuerst fixiert und dann gespritzt und dann isoliert
werden oder anders herum.
Im Grunde ist das eine vorauseilende Zustimmung zur Zwangsbehandlung
und schwächt für einen möglichen Streitfall die Rechtsposition,
die so wie so schon katastrophal ist. Die Behandlungsvereinbarung ist
eigentlich nur
für diejenigen sinnvoll, die Psychiatern vertrauen. Ich gehöre
nicht dazu. Ursprünglich sollte die Behandlungsvereinbarung "Behandlungsvertrag"
heißen. Als sich aber herausgestellt hatte, dass keinerlei Rechtswirksamkeit
vorhanden ist, hat man das ganze, auch nach Einwänden des BPE, in
"Vereinbarung" umbenannt.
In der ursprünglichen Form gab es eine einzige verpflichtende Erklärung
der Psychiater, nämlich dass sich Anstaltssozialarbeiter um den Erhalt
der Wohnung kümmern, sollte jemand in die Psychiatrie kommen. Dazu
gab es ein Rechtsgutachten, wonach Regressansprüche drohen, sollten
Sozialarbeiter nicht entsprechend einer solchen Vereinbarung tätig
werden und die Wohnung futsch geht. Daraufhin wurde diese Passage wieder
herausgenommen. Ich bevorzuge ein Psychiatrisches
Testament, eine Willenserklärung, wo ich reinschreibe, was ich
will. Ich will den Schutz meiner Menschenrechte, wie sie auch durch die
Verfassung und durch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen
geschützt sind zumindest auf dem Papier. Ich will, dass mein
Recht auf körperliche Unversehrtheit geschützt ist. Ich sehe
bei Psychiatern im allgemeinen nicht, dass sie die Menschenrechte schützen,
denn jede Behandlung ohne informierte Zustimmung ist an sich
eine strafbare Körperverletzung. Ich möchte das Recht haben
auf angemessene Hilfe, sollte ich Probleme haben und Hilfe wollen.
Im allgemeinen sehen das andere Betroffene auch so. Wer im Fall des Falles
zwangsbehandelt werden will, kann sich dies ja durch eine Vorausverfügung
vorher wünschen. Dies ist im übrigen die Rechtslage in der Medizin,
und wer immer von Gleichstellung von sogenannten psychisch Kranken redet,
sollte sich zuerst einmal um eine rechtliche Gleichstellung kümmern.
Aber mit medizinischen Mitteln lassen sich keine psychischen Probleme
sozialer Natur lösen, das kann vom Ansatz her nicht funktionieren.
Da wünschte ich mir schon, dass Psychiater die Begrenztheit ihrer
Möglichkeiten sehen, ich weiß, es ist ein frommer Wunsch, oder
vielleicht eher, dass Politiker das sehen und vorhandene Gelder umwidmen
für Selbsthilfe Alternativen zur Psychiatrie und nichtpsychiatrische
Hilfen.
Zur Psychiatrieentwicklung der Zukunft gab es 1999 in Brüssel eine
Konsensuskonferenz der Weltgesundheitsorganisation, der Europäischen
Kommission und verschiedener europäischer und nationaler Regierungen
und Verbänden. Ich war als Vertreter des Europäischen Netzwerks
Psychiatriebetroffener dabei. Dort wurde beschlossen, dass in der Psychiatrieentwicklung
verschiedene Punkte berücksichtigt werden sollen:
-
Förderung von Selbsthilfe
-
Entwicklung nichtpsychiatrischer Alternativen
-
Stärkung der Menschenrechte durch Sicherstellung von Wahlmöglichkeiten.
Ich habe dieses Konsensuspapier von Brüssel ins Internet gestellt,
Ihr findet es auf im Internet unter www.peter-lehmann-publishing.com/articles/others/consensus.htm.
Der Bunte Spleen:
Stichwort Empowerment: Was hältst Du davon?
Peter Lehmann:
Empowerment ist das Schlagwort, das die zentralen Interessen der Psychiatriebetroffenen,
die mit der bestehenden Psychiatrie unzufrieden sind, am besten wiedergibt.
Zu übersetzen ist "Empowerment" mit "Selbstermächtigung".
Betroffene sollen die Kompetenz über ihr eigenes Leben erhalten oder
wiedergewinnen. Es ist das Kriterium, das Psychiatriebetroffene weltweit
anlegen, wenn sie alternative oder emanzipatorische psychosoziale Einrichtungen
charakterisieren, seien es psychiatrische Einrichtungen oder Selbsthilfegruppen.
In Deutschland ist nicht nur der Begriff relativ fremd, sondern auch die
Idee und speziell die Praxis. Zumeist geht es hierzulande lediglich um
eine andere Behandlung, also immer noch um eine Subjekt-Objekt-Beziehung,
um einen anderen Behandlungsort, um andere psychiatrische Psychopharmaka,
um einen anderen Elektroschock oder schlicht um die Forderung, mit Psychiatern
an einem Tisch sitzen zu dürfen, wo sich dann, sobald geschehen,
manch ein Betroffener einlullen lässt.
Es gibt ja in allen Ländern Probleme, wenn sich Vertreter von Psychiatriebetroffenen
mit nichtssagenden Zugeständnissen zufrieden geben und sich auf gleicher
Augenhöhe mit Psychiatern wähnen, wenn diese mal huldvoll auf
ihre Katzentische herunterblicken. Durch die Schaffung einer eigenen Definitionshoheit
wollen Sozialpsychiater das emanzipatorische Potential der Empowermentidee
zunichte machen. Empowerment, so die Definition von Betroffenen selbst,
bedeutet etwas ganz anderes. Empowerment heißt:
-
Zugang zu Informationen und Finanzmitteln haben
-
ein Spektrum an Wahlmöglichkeiten haben nicht bloß
ja oder nein
-
das Gefühl haben, dass der oder die Einzelne etwas ändern
kann
-
mit der eigenen Stimme sprechen
-
die eigene Identität neu und selbst definieren
-
die eigenen Möglichkeiten und die Entscheidungsmacht haben
-
Verhältnis zu institutionalisierter Macht neu definieren
-
begreifen, dass eine Einzelperson Rechte hat
-
Wut lernen und lernen, ihr Ausdruck zu verleihen
-
Veränderung bewirken, im persönlichen Bereich und in der
Gemeinschaft
-
ein positives Selbstbild entwickeln und Stigmata überwinden
Während einige Psychiatriebetroffene die Entmachtung, die der Empowerment-Idee
vorausgeht, von vornherein ablehnen und deshalb auch sämtliche Konzepte
der Wiederbemächtigung, versuchen sozialpsychiatrisch Tätige,
sich der Idee zu bemächtigen, wobei sie Definitionen Psychiatriebetroffener
zur Idee des Empowerments völlig verschweigen oder sie für ihre
Zwecke uminterpretieren. "Geld und Rechte", darauf kommt es
an, daran misst sich ein echter Fortschritt. Dagegen ist alles andere
nur Worte.
Der Bunte Spleen:
Wie könnte denn die psychiatrische Behandlung verbessert werden?
Peter Lehmann:
1995 befragte der BPE seine Mitglieder, wie ein veränderter psychosozialer
Bereich aussehen soll. Der BPE unternahm für die Zeitschrift Sozialpsychiatrische
Informationen eine Umfrage
zur Qualität der psychiatrischen Behandlung und ihrer Einführung
bzw. Verbesserung. Über 100 BPE-Mitglieder nahmen an der Umfrage
teil. In den Antworten wurde der bestehenden Psychiatrie eine nahezu vernichtende
Absage erteilt. Denn nur 10% der Antwortenden gaben an, dort Hilfe zur
Lösung der Probleme gefunden zu haben, die zur Psychiatrisierung
geführt hatten. Häufig kam es zur Verletzung der Menschenwürde.
Es gab keine wie rechtlich vorgeschrieben umfassende Aufklärung
über Behandlungsrisiken. Folgende grundlegende Kriterien müssten
laut Aussagen von BPE-Mitgliedern erfüllt sein, um von einer qualitativ
akzeptablen Psychiatrie sprechen zu können:
-
Beachtung der Menschenwürde,
-
Wärme und menschliche Zuwendung,
-
individuelle Begleitung,
-
angstfreies Vertrauensverhältnis.
Vieles an der Psychiatrie sei überflüssig: Für eine Reihe
von Psychiatriebetroffenen ist die Psychiatrie samt Psychiatern insgesamt
überflüssig. BPE-Mitglieder, die von einer Reformierbarkeit
der Psychiatrie ausgingen, fanden folgende Faktoren überflüssig:
Gewalt, den Einsatz von Psychopharmaka, Zwangsmaßnahmen, Elektroschocks,
Fixierung. Überflüssig seien Ärzte, die besser über
ihre Patienten Bescheid zu wissen glauben als diese selbst. Und Alternativen
seien wichtig, um den Betroffenen Wahlmöglichkeiten zu geben. Was
die Frage betrifft, wie diese Alternativen aussehen sollen, wurden unter
anderem folgende Vorschläge und Ideen genannt: alternative Psychopharmaka,
z.B. homöopathische Mittel, Selbsthilfe, Weglaufhäuser, Alternativen
nach Mosher und Laing, weiche Zimmer à la Soteria.
Ich bin gespannt, was der Vorstand des BPE unternimmt, um im
Rahmen seiner Möglichkeiten die Forderungen der Mitglieder
des Verbands umzusetzen, auch und insbesondere die psychiatriekritischen.
Der Bunte Spleen:
Herzlichen Dank für das Gespräch.
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