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des Antipsychiatrieverlags
in: Ralf Quindel & Ulrich Kobbé (Hg.): "PsychiatrieDesign"
(Psychologie & Gesellschaftskritik [Oldenburg], Nr. 104, 26.
Jg., Heft IV), ISBN 978-3-89806-237-4, Gießen: Psychosozial-Verlag
2002, S. 99-111; und in: Co`med Fachmagazin für Complementär-Medizin
(Sulzbach, BRD), 8. Jg. (2002), Nr. 3, S. 32-34. Letzte Aktualisierung
am 4.7.2023
Peter
Lehmann
Behandlungsergebnis Selbsttötung. Suizidalität
als mögliche Wirkung psychiatrischer Psychopharmaka
»Die Auslese durch den Selbstmord liegt daher
in der Richtung auf eine Stärkung des Lebenswillens
und auf ein heiteres Temperament der Bevölkerung.«
(Fritz Lenz: »Menschliche Auslese und Rassenhygiene«,
1923, S. 23)
Depressionen können durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst
werden: Psychosoziale und politische Umstände, neurologische
Erkrankungen, Stoffwechselstörungen, Altersabbauprozesse,
Viren, toxikologische Substanzen, Medikamente, Psychopharmaka
und vieles mehr. Mediziner befassen sich vor allem mit organisch
oder vermeintlich organisch bedingten Depressionen, gegen die
sie in aller Regel Psychopharmaka und Elektroschocks einsetzen.
Dass insbesondere eine Vielzahl von Psychopharmaka, die sie verabreichen,
Depressionen und Suizidalität bewirken und verstärken
können, fällt ihnen schwer zu akzeptieren. Dabei wird
in der medizinischen und pharmakologischen Fachliteratur häufig
über die depressionsverursachende Wirkung von Psychopharmaka
berichtet. Speziell Neuroleptika, sogenannte antipsychotische
Medikamente, lösen häufig Depressionen aus.
Psychopharmaka-assoziierte
Depressionen und Suizidalität Neuroleptika wirken durch eine Blockade
speziell des Nervenimpulsüberträgerstoffs Dopamin mit dem Ergebnis,
dass sich ein mehr oder weniger subtiles Parkinsonoid einstellt. Dies ist der
Symptomenkomplex der Parkinsonkrankheit, charakterisiert durch gebeugten Gang,
Muskelzittern und verwaschene Sprache. Ein Parkinsonoid entsteht regelhaft durch
die Dopaminblockade. Das Erscheinungsbild des Parkinsonoids ist jeweils dasselbe,
sei es durch Altersabbauprozesse, Bleivergiftung oder Neuroleptika hergestellt.
Die Potenz der Neuroleptika ist definiert durch ihre Kraft, ein Parkinsonoid auszulösen;
es handelt sich also nicht um eine unerwünschte Nebenwirkung, sondern um
die von Psychiatern definierte therapeutische Hauptwirkung.
Das Parkinsonoid, primär eine Erkrankung des Bewegungsapparats,
beinhaltet Veränderungen auch auf der psychischen Ebene.
Neurologen definieren diese als Parkinsonpsyche. Sie ist ein gesetzmäßig
mit dem Parkinsonoid einhergehender Symptomenkomplex, der sich
von Apathie und Willenlosigkeit über Depression und Suizidalität
bis hin zu Verwirrtheits- und Delirzuständen erstreckt (Fünfgeld,
1967, S. 3-25). Auf die Parallelität zwischen emotionaler
parkinsonbedingter Abstumpfung nach einer Hirnerkrankung und emotionaler
Abstumpfung im Rahmen der Neuroleptikawirkung wies der deutsche
Psychiater Hoimar von Ditfurth schon 1955 nach den ersten Verabreichungen
des Neuroleptikaprototyps Megaphen (Wirkstoff Chlorpromazin; derzeit
im Handel als Chlorazin) hin:
»Es hat, so möchten wir glauben, den Anschein,
als ob die psychischen Veränderungen, die das Megaphen vor
allem auf emotionalem Gebiet hervorruft, von gleicher Natur sind,
wie die affektive Abstumpfung und Einengung, die man
bei postencephalitischen Parkinsonisten (Parkinsonkranken nach
Abklingen einer akuten Hirnentzündung, P.L.) so häufig
registriert.« (S. 56)
Depressionen und Suizidalität
stellen also notwendige Auswirkungen von Neuroleptika dar und werden demzufolge
von Psychiatern problemlos hingenommen.
Frank Ayd von der psychiatrischen Abteilung des Franklin Square
Hospitals in Baltimore schrieb 1975:
»Es
besteht nun eine allgemeine Übereinstimmung, dass milde bis schwere Depressionen,
die zum Suizid führen können, bei der Behandlung mit jedem Depot-Neuroleptikum
auftreten können, ebenso wie sie während der Behandlung mit jedem oralen
Neuroleptikum vorkommen können. Diese depressiven Veränderungen der
Stimmung können zu jeder Zeit während depotneuroleptischer Behandlung
auftreten. Einige Kliniker haben Depressionen kurz nach Behandlungsbeginn bemerkt;
andere machten diese Beobachtung Monate oder Jahre nach Behandlungsbeginn.«
(S. 497) In ihrem Buch »Psychiatrische Pharmakotherapie«
äußerten sich die beiden deutschen Psychiater Otto Benkert und Hanns
Hippius zur Frage, ob die Suizidalität eventuell einer zu hohen Dosierung
angelastet werden könne: »Depressionen, Suizidalität,
Erregungszustände und Delirien unter Pharmaka treten im allgemeinen unter
Dosierungen auf, die durch den behandelnden Arzt therapeutisch verordnet wurden.«
(1980, S. 258) Statistische Angaben über neuroleptikabedingte
Suizide sind, wie Psychiater selbst schreiben, aus vielerlei Gründen viel
zu niedrig angesetzt. Solche Behandlungsverläufe würden von Medizinern
nicht als Wirkungen der verabreichten chemischen Substanzen erkannt oder beachtet
(Lehmann, 1996, S. 111). Dass die Dunkelziffer von Suiziden auch in Psychiatrischen
Anstalten immens ist, offenbarte der in der psychiatrischen Universitätsklinik Basel tätige Asmus
Finzen; unkorrekte Zahlenangaben seien allerdings von außen schwer festzustellen,
weil »... in Krankengeschichten und Entlassungsbüchern
oft kein Vermerk über den Tod oder den Suizid der Patienten zu finden war.
Wenn sich der Suizid während eines Urlaubs ereignet hatte, wurde er nicht
selten rückwirkend entlassen. Wenn der Suizidversuch nicht zum sofortigen
Tod geführt hatte, galt er für das Krankenblatt und die Statistik als
verlegt in die Innere oder in die Chirurgische Klinik.« (1988, S. 45)
Die depressive Stimmungsveränderung unter Neuroleptika bei
gleichbleibenden äußeren Bedingungen prüften zwei
englische Psychiater, R. de Alarcon und M.W.P. Carney. Im British
Medical Journal schilderten sie einige unter gemeindepsychiatrischer
Behandlung erfolgte Suizide unter Fluphenazin (im Handel derzeit
als Dapotum, Fluphenazin und Lyogen), um schließlich ausführlich
einen Fluphenazinversuch an einem 39jährigen wiederzugeben,
der bereits einen Suizidversuch unter dieser Substanz hinter sich
hatte. Als den Psychiatern an diesem Mann aufgefallen war, dass
er regelmäßig einige Tage nach seiner 14tägigen
Depotspritze Suizidabsichten entwickelte, wollten sie mit eigenen
Augen die stimmungsverschlechternde Wirkung des Neuroleptikums
miterleben. In der Anstalt beobachtete man den schizophrenen
Mann vier Wochen lang, ohne dass man ihm Neuroleptika verabreichte
und ohne dass etwas Wesentliches an seiner Stimmung auffiel. Dann
erhielt er eine intramuskuläre Spritze à 25 mg:
»Während seines Krankenhausaufenthaltes
wurde er dreimal pro Woche von einem von uns (R. de A.) interviewt. In der Woche
vor der Injektion, als man ihn nicht interviewen musste, erörterte man seinen
Zustand mit dem leitenden Stationspfleger, und die Krankenakten wurden gelesen.
An einem Mittwoch um 15 Uhr verabreichte man ihm die Versuchsspritze. Am Nachmittag
des folgenden Tages war er in gedrückter Stimmung, wollte in Ruhe gelassen
werden und hatte kein Bedürfnis, mit irgend jemandem zu reden, zu lesen oder
fernzusehen. Ungefähr um 16 Uhr ging er zu Bett. Nach Meinung der aufsichtsführenden
Schwester stellte er einen Suizidrisikofall dar. Als man ihn am Freitag interviewte,
war die Veränderung seines äußeren Erscheinungsbildes beeindruckend.
Er blickte düster drein, einen Scherz beantwortete er nicht mit einem Lächeln,
und es fand keine spontane Konversation statt. Seine Antworten waren auf das unbedingt
Notwendige beschränkt. Das Vorhandensein irgendwelcher paranoider oder hypochondrischer
Ideen oder irgendwelcher Schuldgefühle verneinte er. Er sagte einfach, dass
er sich sehr minderwertig vorkomme, und wenn er alleine in seiner Bude wäre,
würde er sich das Leben nehmen. Am Freitagabend trat eine Besserung ein,
und als man ihn am Samstag erneut interviewte, hatte er wieder zu seinem gewohnten,
normalen Selbst zurückgefunden. (... de Alarcon und Carney resümierten,
P.L.) dass manche Patienten für einen kurzen Zeitraum nach der Injektion
von Fluphenazin-Enanthat oder -Decanoat schwer depressiv werden können. Bislang
wurden noch keine klaren Strukturen begründet hinsichtlich der Frage, wann
und bei wem dies möglicherweise auftreten kann. Das Fehlen von nachteiligen
Wirkungen in der Vergangenheit ist kein Hinweis darauf, dass diese in der Zukunft
nicht doch vorkommen können. Zum Beispiel erhielt in dem Versuchsfall der
Patient das Fluphenazin-Enanthat länger als sechs Monate, bevor er wiederholt
mit einer schweren Depression auf die Injektion zu reagieren begann, und dasselbe
geschah in anderen Versuchsreihen. « (1969, S. 565f.) Peter
Müller von der psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen fand in seiner placebokontrollierten
Untersuchung bei einem weit höheren Prozentsatz depotneuroleptischer Behandelten
depressive Syndrome hochsignifikant häufiger als bei den Placebobehandelten.
Über die Ergebnisse nach Verminderung oder Absetzen der Neuroleptika schrieb
er: »Bei insgesamt 47 Behandlungsmaßnahmen kam es in
41 Fällen zu einer Besserung der depressiven Verstimmung, nur in zwei Fällen
gab es keine Veränderung, bei vier war der Effekt fraglich. Es war sehr überraschend
festzustellen, dass allein die Reduzierung der neuroleptischen Dosis (in der Regel
auf die Hälfte der bisherigen Gabe) in der überwiegenden Zahl dieser
Fälle schon zur Besserung des depressiven Syndroms führte, allerdings
oft nur zu einer Teilbesserung, die aber immerhin den Patienten schon deutlich
entlastete. Demgegenüber brachte das gänzliche Absetzen bei anderen
Patienten oder bei den gleichen Patienten, bei denen eine Dosisminderung nur zur
geringen Besserung führte, einen sehr eindrücklichen Erfolg hinsichtlich
der Depressionsbesserung. Manche Patienten berichteten, dass sie sich erst jetzt
wieder völlig gesund fühlten wie lange vor der Erkrankung, und die von
manchen Ärzten fast als unveränderlich angesehene depressive Bedrückung,
die eventuell für Vorboten defektuöser Entwicklungen hätte gehalten
werden können, verschwand gänzlich. Der mögliche Einwand, es könne
sich hierbei um psychoreaktive Effekte im Sinne der Erleichterung des Patienten
über das Absetzen der Medikation handeln, ist zu widerlegen, da fast alle
Patienten Depot-Injektionen erhielten und über die Dosis dann nicht informiert
wurden bzw. Placebo-Injektionen erhielten. (...) Die Veränderungen dieser
Patienten waren für sie selbst, für Angehörige und Untersucher
in manchen Fällen recht eindrucksvoll, die Patienten berichteten selbst,
dass sie sich jetzt wieder ganz gesund wie lange vor der Erkrankung fühlten.
Das war bei der neuroleptisch weiterhin behandelten Gruppe überwiegend nicht
der Fall. Diese Befunde sprechen wohl doch eindeutig für pharmakogene Einflüsse
und gegen morbogene Entwicklungen.« (1981, S. 52f., 64) Müller
resümierte:
»Depressive Syndrome nach der Remission der Psychose
und unter neuroleptischer Behandlung sind nicht selten, sondern
treten etwa bei zwei Dritteln der Patienten auf, teilweise auch
noch häufiger, besonders wenn parenteral Depot-Neuroleptika
gegeben werden. Ohne neuroleptische Behandlung finden sich hingegen
nach vollständiger Remission diese depressiven Verstimmungen
nur ausnahmsweise.« (ebd., S. 72)
Müllers eigentlich unübersehbare und
unüberhörbare Aussagen werden von einer Vielzahl von
Kollegen gestützt (Lehmann, 1996, S. 57-87, 109-115). Hier
einige Beispiele: Raymond Battegay und Annemarie Gehring (1968)
von der psychiatrischen Universitätsklinik Basel warnten
nach einem Vergleich von Behandlungsverläufen der vor- und
nachneuroleptischen Ära:
»Im Verlauf der
letzten Jahre wurde verschiedentlich auch eine Verschiebung des schizophrenen
Symptomenbildes nach einem depressiven Syndrom hin beschrieben. Mehr und mehr
zeigen die Schizophrenien einen bland-depressiv-apathischen Verlauf. Es wurde
offenbar, dass unter Neuroleptica oft gerade das entsteht, was mit ihrer Hilfe
hätte vermieden werden sollen und als Defekt bezeichnet wird.« (S. 107f.)
Walter Pöldinger und S. Siebern von der psychiatrischen
Anstalt Wil/Schweiz schrieben:
»Es
ist nicht ungewöhnlich, dass medikamentenverursachte Depressionen durch ein
häufiges Vorkommen von suizidaler Ideation gekennzeichnet sind.« (1983,
S. 131) 1976 teilte Hans-Joachim Haase von der Psychiatrischen
Anstalt Landeck mit, die Anzahl lebensgefährdender depressiver Erscheinungen
nach Anstaltsbehandlung mit Psychopharmaka habe sich seit Einführung der
Neuroleptika mindestens verzehnfacht. Die Steigerung der Suizidrate sei »alarmierend
und besorgniserregend«, so Bärbel Armbruster von der psychiatrischen Universitätsklinik Bonn
1986 im Nervenarzt ohne allerdings die Betroffenen und ihre
Angehörigen oder gar die Öffentlichkeit zu alarmieren. Über
die Entwicklung in Finnland, Norwegen und Schweden informierte 1977 Rolf Hessö
von der psychiatrischen Universitätsklinik Oslo; es scheine klar zu sein, »... dass
der Anstieg sowohl der absoluten Suizidzahlen als auch der relativen im Jahre
1955 begann. Dies war das Jahr, in dem Neuroleptika in den skandinavischen psychiatrischen
Krankenhäusern eingeführt wurden.« (S. 122)
Jiri Modestin schrieb 1982 über seinen Arbeitsplatz, die
psychiatrische Universitätsklinik Bern, sowie die benachbarte
psychiatrische Klinik ünsingen:
»Unsere
Resultate zeigen eine dramatische Zunahme der Suizidhäufigkeit unter den
in der PUK Bern sowie auch PK Münsingen hospitalisierten Patienten in den
letzten Jahren.« (S. 258) Berichte über Depressionen
und Suizidalität aus erster Hand
In dem Buch »Psychopharmaka absetzen« beschrieb Regina
Bellion aus Bremen ihren psychischen Zustand unter gemeindenaher
Behandlung:
»Entlassung
aus der Klinik. Auf nicht absehbare Zeit soll ich Neuroleptika einnehmen, sagt
mir der Klinikarzt, an eine andere Therapieform sei überhaupt nicht zu denken,
ich solle ja nichts ausprobieren.
Allein zu Hause. Dreimal täglich zähle ich meine Haldol-Tropfen
ab. Sonst tue ich nicht viel. Ich sitze auf meinem Stuhl und starre
in Richtung Fenster. Ich nehme nicht wahr, was draußen vor
sich geht. Es fällt mir schwer, mich zu bewegen. Immerhin
schaffe ich es täglich, aus dem Bett aufzustehen. Ich merke
nicht, dass die Wohnung verdreckt. Es kommt mir nicht in den Sinn,
dass ich kochen sollte. Ich wasche mich nicht. Ich frage mich
nicht einmal, ob ich stinke. Meine Verelendung schreitet fort
ich bemerke es nicht.
Hinter meiner neuroleptischen Mauer vegetiere ich vor mich
hin und bin ausgesperrt aus der Welt und aus dem Leben. Die reale Welt ist weiter
von mir weg als Pluto von der Sonne. Meine eigene heimliche Welt ist auch weg
diese letzte Zuflucht habe ich mir mit Haldol zerstört. Dies ist
nicht mein Leben. Dies bin nicht ich. Genauso gut könnte ich tot sein. Eine
Idee nimmt allmählich Form an: Bevor es Winter wird, werde ich mich erhängen.
Vorher will ich ausprobieren, ob mein Leben ohne Haldol anders wird. Ich reduziere
die Tropfen. Weniger und weniger nehme ich davon ein, bis ich bei Null ankomme.
Nach einem Monat bin ich clean. Da merke ich, wie verwahrlost
ich bin. Ich wasche mir die Haare, beziehe das Bett, mache die
Wohnung sauber. Ich bereite eine warme Mahlzeit. Das macht mir
sogar Vergnügen. Ich kann wieder denken.« (Bellion, 2008,
S. 314)
Ähnliche Erfahrungen schilderte eine ebenfalls in Bremen
lebende Betroffene, der man eine Kombination aus Haldol und dem
Antidepressivum Aponal (Wirkstoff Doxepin; im Handel derzeit als
Aponal, Doneurin, Doxe, Doxepin, Mareen, Sinequan und Sinquan)
verordnet und die unter dem Einfluss der psychiatrischen Psychopharmaka
zum Glück ohne Erfolg versucht hatte, ihrem
Leiden durch Suizid ein Ende zu setzen:
»Wieder entlassen, hockte ich stundenlang in meiner
Küche vorm Wasserhahn, durstig, aber unfähig, einen
Becher Wasser zu nehmen oder das hart gewordene Brot zu beißen.
Der Supermarkt war nur wenige Schritte entfernt, ich schaffte
es nicht aufzustehen und wünschte mir nur, einfach tot zu
sein, um endlich Ruhe zu haben. Mit Gott hatte ich gebrochen wegen
dieser Erkrankung. Ich sah sie als Bestrafung an für zwei
dunkle Punkte in meinem Leben. Das Schlimmste aber war der Teufelskreis
des ewig wiederkehrenden psychotischen Denkens. Ich versuchte
immer wieder, wenigstens ein paar Sekunden etwas anderes zu denken
es gelang nicht. Die Gedanken drehten immer wieder ihre
sattsam bekannten gleichen Runden, Hunderte Male am Tag, mal im
Zeitlupentempo, um dann immer schneller werdend das Gehirn zu
malträtieren. Genau das war für mich die Hölle
und das teuflische Spiel. Ich fühlte mich verdammt, von Gott
auf immer verlassen, es gab keine Erlösung. Ich konnte nichts
tun, als diesen fiesen Film liegend zu ertragen. Ich wusste, ich
muss wieder glauben lernen, aber es ging nicht, und so versuchte
ich, das Leben zu beenden.« (Marmotte, 2008, S. 142)
Selbst Clozapin, der Prototyp sogenannter atypischer Neuroleptika,
scheint suizidale Auswirkungen zu haben, wie der Bericht der Österreicherin
Ursula Fröhlich in »Schöne neue Psychiatrie«
zeigt:
»Seit Beginn der Leponex-Einnahme habe ich keine
Lust mehr auf Sex, keine Lust an der Bewegung und keine Freude
am Leben. Ein Leben ohne Freude ist jedoch ärger als der
Tod. Alles, war mir geblieben ist, ist das Fernsehen, wo ich seit
sieben Jahren anderen zusehe, wie sie leben. Ich bin zwar biologisch
noch am Leben, doch meine Sinne sind schon längst tot, alles,
was mir früher Freude gemacht hat, kann ich nicht mehr machen.
Mein Leben existiert eigentlich gar nicht mehr, ich komme mir
so leer und so unbedeutend vor. Am schlimmsten ist es am Morgen.
Jeden Tag nehme ich mir vor, am nächsten Tag mit einem gesunden
Leben zu beginnen, die Medikamente wegzuschmeißen, viele
Vitamine und Fruchtsäfte zu trinken und mit einer täglichen
Fitnessroutine zu beginnen. Durch die Neuroleptika entsteht ein
Gefühl, als ob es mir gelingen würde, am nächsten
Tag mit einem ganz anderen, einem neuen Leben zu beginnen. Wenn
ich dann aber in der Früh aufwache, bin ich wie zerschlagen
und komme vor 9 Uhr nie aus dem Bett, meine Depressionen sind
so arg, dass ich jeden Tag an Selbstmord denke.« (zitiert
nach: Lehmann, 1996, S. 70f.)
Psychiatern ging es bei ihren Selbstversuchen im Prinzip nicht
anders. 1954 und 1955 veröffentlichten Hans Heimann und Peter
Nikolaus Witt (1955) von der psychiatrischen Universitätsklinik
Bern ihre an Radnetzspinnen und Kontrollpersonen sowie in drei
Selbstversuchen und neun weiteren Experimenten an ebenso vielen
Psychiatern und Pharmakologen gewonnenen Erfahrungen mit einer
einmaligen Einnahme von Largactil, dem Neuroleptika-Prototyp Chlorpromazin.
Sehr deutlich wurde das unter Largactil ausgeprägte Gefühl
der Minderwertig- und Leistungsunfähigkeit, strukturelles
Bestandteil der neuroleptikabedingten Parkinsonpsyche, an den
folgenden Auszügen:
»Ich fühlte mich regelrecht körperlich
und seelisch krank. Auf einmal erschien mir meine ganze Situation
hoffnungslos und schwierig. Vor allem war die Tatsache quälend,
dass man überhaupt so elend und preisgegeben sein kann, so
leer und überflüssig, weder von Wünschen noch anderem
erfüllt ... (Nach Abschluss der Beobachtung): Riesengroß
wuchsen vor mir die Aufgaben des Lebens auf: Nachtessen, in das
andere Gebäude gehen, zurückkommen und das alles
zu Fuß. Damit erreichte der Zustand sein Maximum an unangenehmem
Empfinden: Das Erlebnis eines ganz passiven Existierens bei klarer
Kenntnis der sonstigen Möglichkeiten ...« (S.
113)
Suizidregister als Vorbeugemaßnahme
In Deutschland forderte der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener
e.V. im Februar 2000 von der Bundesministerin für Gesundheit
die Einführung eines Suizidregisters unter besonderer Berücksichtigung
von beteiligten Psychopharmaka/Elektroschocks, vorangegangener
Fixierung und anderen Formen vorangegangener psychiatrischer Zwangsmaßnahmen
(Lehmann, 2001, S. 46). Das Fehlen einer flächendeckenden
Registrierung von Suiziden in Zusammenhang mit psychiatrischen
Behandlungsmaßnahmen sei ein großer Missstand; solche
Daten seien eine elementare Voraussetzung für die Ursachenforschung
sowie eine wichtige Basis für die Vorbeuge- und Früherkennungsarbeit.
Eine staatenübergreifende Meldepflicht für Psychiatrie-
und Psychopharmaka-assoziierte Suizide könnte dafür
sorgen, dass Vorsorgemaßnahmen möglich und endlich
verlässliche Studien durchgeführt werden, die den Zusammenhang
insbesondere zwischen Psychopharmakawirkungen und Suizidalität
weiter erforschen. Nicht nur Neuroleptika, wie dargelegt, sondern
auch Antidepressiva (Healy, 2001; Lehmann, 1996, S. 194-204) und
Elektroschocks (Frank, 1990) sind sehr sorgfältig zu beobachten.
Berichte von Betroffenen, die durch eine traumatisierende Behandlung
mit Psychopharmaka, Elektro- und Insulinschocks zur Suizidalität
geradezu getrieben werden (siehe zum Beispiel Kempker, 2000), dürfen
nicht weiter ignoriert werden. Instanzen, die Kenntnis von diesem
Zusammenhang haben und untätig bleiben, trifft eine Mitschuld
an psychopharmakabedingten Suiziden. Insbesondere Mediziner und
Angehörige müssen über das Risiko psychopharmakogener
Depression und Suizidalität informiert werden. Und die Betroffenen
natürlich ebenso, damit sie eine wohlabgewogene und informierte
Entscheidung über die Einnahme oder Nichteinnahme eines angebotenen
Psychopharmakons treffen und gegebenenfalls weniger riskante Maßnahmen
gegen ihre Depression treffen können.
Die Tatsache, dass sich psychiatrische Autopsiestudien retrospektiv
mit Diagnosen und den zugrunde liegenden psychischen Zuständen
befassen (siehe zum Beispiel Hell, 2005, S. 20), nicht aber mit
der jeweils konkreten Behandlung zum Zeitpunkt des Suizides, sagt
alles über die Unwilligkeit von Psychiatern, sich im Rahmen
von Suizidprophylaxe-Überlegungen kritisch mit den (möglichen)
Folgen der eigener Tätigkeit auseinanderzusetzen. Eine psychiatrische
Argumentation, es gebe eine Vielzahl von möglichen Ursachen
bei Suiziden, also sei eine von niemandem auch nur im Ansatz
behauptete Unikausalität auszuschließen, mag
für uninformierte Menschen erstmal plausibel klingen. Ein
vergleichbares Krebsregister wäre mit demselben Argument
ebenfalls abzulehnen, man denke an durchsichtige Argumentationsstränge
hinsichtlich Datenerhebungen über gehäufte Leukämiefälle
nahe Atomkraftwerken oder die Argumentation mit nichtspezifischen
Einzelfällen bei Missbildungen zu Beginn der Contergan-Ära.
Welcher Verursacher von gesundheitlichen Schäden gibt schon
gerne seine eigene Beteiligung zu?
Hinweis
(Zuletzt am 26.4.2010 überarbeiteter) Unverlangter Beitrag
zur Konferenz »Bewältigung von stress- und depressionsassoziierten
Problemen in Europa«, veranstaltet von der Weltgesundheitsorganisation,
der Europäischen Kommission und dem Ministerium für
soziale Angelegenheiten, öffentliche Gesundheit und Umwelt
(Belgien). Brüssel, 25.-27. Oktober 2001. Abgedruckt in:
Psychologie & Gesellschaftskritik (BRD), Nr. 104 [= 26. Jg.
(2002), Heft IV], S. 99-111; außerdem in: Co`med
Fachmagazin für Complementär-Medizin, 8. Jg. (2002),
Nr. 3, S. 32-34. English
translation / Traduzione
Italiana
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Health Organization / European Commission meeting«, Broschüre
MNH/NAM/99.2, Brüssel 1999; siehe www.peter-lehmann-publishing.com/articles/others/consensus.htm
Copyright by Peter Lehmann 2002-2023
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