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des Antipsychiatrieverlags
Korrigierter, ungekürzter und mit Literaturhinweisen versehenes
Manuskript vom 10. Februar 2004. Original in: Surprise
Strassenmagazin (Basel), Nr. 75 (16.2. bis 7.3.2004), S. 12-13 / PDF der
ungekürzten und korrigierten Fassung
Peter
Lehmann im Interview »Vom Kampf gegen die Windmühlen« mit Andy Strässle
Erneut kommt Ritalin in die Schlagzeilen, da es in USA und teilweise
in BRD und der Schweiz sehr viel an Kinder verabreicht wird, ohne
dass die Langzeit-Nebenwirkungen und die Abhängigkeit zweifelsfrei
geklärt sind, wie stehen Sie dazu?
Das Bundesamt für Gesundheit
der Schweiz (BAG) stellte in den letzten Jahren eine massive Ausweitung
der Verwendung von Ritalin® (Methylphenidat) fest. Aufgrund
der alarmierenden Zunahme liess das Bundesamt im Kanton Neuenburg
eine Analyse der Methylphenidat-Verschreibungen zwischen 1996 und
2000 durchführen. Dabei zeigte sich, dass die verschriebene
Gesamtmenge von 1996 bis 2000 um 690 Prozent gestiegen ist, sich
also innerhalb von vier Jahren beinahe versiebenfacht hat. Die Zahl
der Patienten kletterte in derselben Zeit um 470 Prozent, die Dosis
pro Patient um 41 Prozent. Die überwiegende Mehrzahl der Rezepte
betraf Kinder zwischen 5 und 14 Jahren. Laut BAG unterscheidet sich
diese Situation nicht wesentlich von der gesamtschweizerischen (1).
Wir leben in einer Drogengesellschaft. Man lernt von früh
auf, Probleme mit synthetischen psychotropen, das heisst stimmungsverändernden
Substanzen zu »lösen«, sei es Alkohol, Cannabis oder
sonst ein Mittel. Darüber hinaus bearbeiten Pharmakonzerne
gezielt Funktionäre von Angehörigengruppen, Druck auf
Politiker auszuüben, damit diese möglichst viel Geld für
biologische Psychiatrieforschung ausgeben. Es soll nach Wegen geforscht
werden, psychische Probleme sozialer Natur mit Chemie in den Griff
zu bekommen. Ein solches einseitiges Herangehen ist extrem kostentreibend.
Natürliche Wege werden nicht gesucht, nutzerorientierte Alternativen
wie zum Beispiel die geplante »Villa Therapeutica« des
Psychotherapeuten Theodor Itten in St. Gallen verhindert und Probleme
nur kurzfristig künstlich unterdrückt: um den Preis hoher
sozialer und gesundheitlicher Folgekosten und ständig steigender
Krankenversicherungsbeiträge.
Ritalin ist ein Psychostimulans, ein Aufputschmittel, und hat eine
den Amphetaminen vergleichbare Wirkung. Kinder reagieren in der
Regel aufgrund ihrer natürlichen, starken Sensibilität
paradox, das heisst sie werden in ihrer als übermässig
empfundenen Lebendigkeit gedämpft. Die Freunde von Ritalin
definieren nun diese Lebendigkeit als Krankheit und das Psychopharmakon
als Medikament. Dabei kann die kindliche Lebhaftigkeit, auch Zappel-Philipp-Syndrom
oder Hyperaktivität genannt, selbstverständlich extrem
störend sein, insbesondere wenn kombiniert Bewegungsmangel,
Fehlernährung, bornierte Lehrer, stressige Familienverhältnisse
oder Reizüberflutung durch stundenlanges TV-Glotzen hinzukommen.
Dass Ritalin abhängig machen kann, ist unter Psychiatern und
Ärzten allgemein bekannt. Nach dem Motto »Der Zweck heiligt
die Mittel« argumentierte der Psychiater Paul Wender aus Salt
Lake City, einer der Ritalin-Päpste in den USA:
»Das Problem ist nicht, ob eine Substanz ein Medikament
oder eine Droge ist, sondern ob sie nützlich oder schädlich
ist. (...) Der Zweck der Medikamentengabe ist mehr, als bloss das
Verhalten des Kindes zu kontrollieren und ihm zu ermöglichen,
sich an eine Umgebung anzupassen, die es nicht mag und in der es
schlecht zurechtkommt: an die Schule. Indem es gehorsamer ist (aber
es wird nicht zu einem Roboter!) und weniger herumkommandiert, cooler
in der Stimmung wird und ein besserer Schüler, werden es die
Lehrer, Eltern, Geschwister und Gleichaltrigen mehr mögen.«
Eines der wenigen Mitglieder der institutionellen Psychiatrie,
das sich über eine Abhängigkeitsgefahr bei Kindern Gedanken
machte und von Wenders Plädoyer für eine chemische Herstellung
von Gehorsam offenbar so ohne weiteres nicht beeindrucken liess,
war der Schweizer Psychiater Manfred Bleuler, als er schrieb, die
Gefahr sei bei Kindern nicht so stark ausgeprägt:
»Eine Gewöhnungsgefahr scheint bei Kindern
viel geringer zu sein als bei Erwachsenen. Es soll ihr entgegengewirkt
werden, indem die Medikation zeitweise unterbrochen wird.«
Vielleicht ist diese Geringerschätzung des Risikos aber auch
mit einer fehlenden Lobby von Kindern verbunden. In den USA, ein für
hohe Schadenersatzansprüche bei mangelhafter Aufklärung
bekanntes Land, informiert das offizielle Medikamentenverzeichnis
»Physicians' Desk Reference« über das dortzulande ausschliesslich
für Kinder angebotene Ritalin:
»Chronische missbräuchliche Anwendung kann
zu deutlicher Toleranz und psychischer Abhängigkeit mit unterschiedlicher
Ausprägung abnormen Verhaltens führen. Es können
offen psychotische Episoden auftreten, besonders bei parenteralem
[unter Umgehung des Verdauungstraktes, das heisst per Spritze
oder Infusion vollzogenem] Missbrauch. Sorgfältige Überwachung
ist während des Absetzens notwendig, denn eine ernsthafte Depression
und auch die Folgen einer chronischen Überaktivität können
freigelegt werden.«
Möglicherweise gibt es deshalb so wenig Informationen über
Entzugserscheinungen bei Kindern, weil es diesen aufgrund ihrer
schwachen Rechtsposition kaum gelingt, der Verabreichung von Psychostimulantien
zu entgehen, wenn diese erst einmal verordnet wurden. Bekannt geworden
sind allerdings die Folgerisiken. Werden die Kinder älter und
nimmt ihre Empfindlichkeit ab, verlieren die Psychostimulantien
ihre dämpfende Wirkung, dann putschen sie auf. Psychiater greifen
in dieser Situation gerne zu anderen psychiatrischen Psychopharmaka.
Ein schlimmer Weg ist vorgezeichnet.
Zählen Sie die Eltern von Zappelphilippen zu den Tätern?
Als Erziehungswissenschaftler würde ich dies so nie sagen.
Klar, Eltern haben die Erziehungsgewalt, vor einigen Jahrhunderten
durften sie ihre Kinder noch straffrei totschlagen, bis vor einigen
Jahren noch durchprügeln. Möglicherweise sucht sich die
Gewalt ein anderes Ventil, Familienkonflikte lösen sich ja
nicht in Luft auf durch das Verbot der Prügelstrafe. Manche
gutgewillten Eltern sind möglicherweise schlicht überfordert
oder können den Störeinwirkungen, denen die Kinder von
ausserhalb der Familie ausgesetzt sind, nichts entgegensetzen. Ihnen
hier einen Vorwurf zu machen, wäre absurd. Das schwächste
Glied in der Kette ist das Kind, was nun nicht heissen soll, dass
alle Kinder Engel sind. Glaubenshaltungen von Medizinern, Auffälligkeiten
bei Kindern seien bedingt durch Stoffwechselstörungen, fallen
angesichts drängender Erziehungsprobleme auf fruchtbaren Boden.
Man schaut dann gar nicht mehr, was im Einzelnen an diesen Behauptungen
und Theorien dran ist schliesslich stammen sie von studierten
Weisskitteln. Und Ehrfurcht vor Ärzten, die wir bei ernsthaften
Krankheiten ja als unsere Helfer erleben, ist vielen so in Fleisch
und Blut übergegangen, dass sie ihnen alles glauben, auch wenn
die Chemobehandlung ihren Kindern offensichtlich schadet.
Man darf nicht vergessen: Kinderpsychiater machen sich kaum die
Mühe, mit Kindern zu sprechen, zu spielen oder zu malen, um
ihnen zu helfen, sich von lästigen Verhaltensweisen und Gefühlen
zu befreien. Kinderpsychiater sind naturwissenschaftlich ausgebildete
Mediziner, die gelernt haben, psychologische Probleme sozialer Natur
vorrangig auf Stoffwechsel- oder andere organische Störungen
zurückzuführen und entsprechend mit körperlichen
Behandlungsformen, speziell Psychopharmaka, zu bekämpfen.
Eltern kann man nur raten: Sie sollten sich nicht kirre machen
lassen, wenn von irgendeiner Seite, sei es Lehrer, Hausarzt oder
Schulpsychologin, der Vorschlag kommt, ihr Kind psychiatrisch untersuchen
zu lassen. Sie sollten mit ihrem Kind über seine Probleme,
Ängste und Wünsche sprechen. Und sie sollten auch mit
den anderen Vertrauenspersonen ihres Kindes sprechen, wenn es das
Kind will. Eltern sollten ihren eigenen Wahrnehmungen trauen, denn
in aller Regel kennt niemand ihr Kind besser als sie selbst. Niemand
sollte sich nicht von Diplomen, Titeln und weissen Kitteln beeindrucken
lassen, Eltern nicht und ihre Kinder auch nicht. Wird doch einmal
das Ansinnen an Eltern gestellt, aufgrund von nichtmedizinischen
Problemen ihr Kind dem Arzt oder gar Kinderpsychiater vorzustellen,
dann rate ich, das Ansinnen schlichtweg zurückzuweisen, aus
der möglichen Isolation herauszugehen und sich mit anderen
betroffenen Eltern zusammenzutun, sich an geeigneter Stelle Rat
zu holen, das Kind möglichst nicht alleine zum Arzt oder gar
Psychiater gehen zu lassen, Gespräche und Auskünfte zu
verweigern, wenn diese aktenmässig erfasst werden, Rechtsauskunft
einzuholen über die Notwendigkeit, Therapie- und Behandlungsauflagen
Folge leisten zu müssen, und im Falle der Verschreibung von
Psychopharmaka auf einer umfassenden Aufklärung über alle
nicht auszuschliessenden Behandlungsrisiken und -schäden zu
bestehen und das eigene Recht auf Ablehnung der vorgeschlagenen
Behandlung nicht zu vergessen.
Chemische Antworten die Liste der Medis wird immer länger
scheint es praktisch auf jedes Problem zu geben, von der
Depression und Schlaflosigkeit bis zur einfachen Stimmungshebung
oder eben der Stärkung der Potenz, ist dies ein geschäftlicher
Trend?
Ja, da sind wir wieder bei der Drogengesellschaft. Synthetische
Psychopharmaka sind ein wichtiger Marktfaktor, nicht nur für
die Chemieindustrie, auch für die professionell Tätigen
im Psychobereich. Diese Substanzen haben keine Heilwirkung, sie
verhindern wegen ihrer persönlichkeitsverändernden Wirkung
aufdeckende Psychotherapien. Sie verursachen Abhängigkeit und
produzieren durch ihre Wirkung, die in der Regel in der Herstellung
einer sogenannten therapeutischen Zweitkrankheit zur Unterdrückung
der primären »Hauptkrankheit« besteht, Abhängigkeit
und körperliche Folgeschäden. Ein Heer von arbeitsplatzgefährdeten
Profis mit medizinischer Ausbildung wird diese Art medizinischer
Therapie mit allen Klauen verteidigen, ohne allerdings im Traum
daran zu denken, die zentrale Bedeutung ihrer eigenen wirtschaftlichen
Motive einzugestehen; sie wollen ja »nur unser Bestes«.
Und Mediziner verstärken noch den Trend. Hanfried Helmchen
etwa, vormals Psychiater an der Berliner Universitätsklinik,
beschrieb 1978 das Wirken in den Chemielaboren von Pharmafirmen:
»Werden im allgemeinen für bekannte Krankheitsbilder
Medikamente gesucht, so werden hier für interessante Substanzen
Indikationen gesucht. Solche 'Indikationen' mögen durchaus
ausserhalb konventioneller psychiatrischer Nosologien [Krankheitslehren]
liegen: z.B. Erschöpfungszustände bei überarbeiteten
Managern oder berufstätigen Müttern, 'Schulmüdigkeit',
Konzentrationsstörungen, aggressive Zustände bei Strafgefangenen,
schizoide [kontaktarme, ungesellige] oder zyklothyme
[durch ausgeprägte Stimmungswechsel charakterisierte]
Persönlichkeitsstrukturen, Empfindlichkeit gegen Geräusche,
leichter Schlaf (...). Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Welt
immer künstlicher, 'menschengemachter' werden wird, gleichzeitig
die Anforderungen der Leistungs- und Massengesellschaft an unsere
psychische Stabilität immer grösser werden, muss dann
nicht jede mögliche chemische Beeinflussung psychischer Funktionen
auf ihre eventuelle soziale Brauchbarkeit hin untersucht werden?«
Für diese Worte wurde er nicht etwa kritisiert; man wählte
ihn zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde.
Natürlich sind nicht alle Mediziner derart psychopharmakaorientiert.
Es gibt Ausnahmen. In der Schweiz wirkt zum Beispiel der Arzt, Therapeut
und Fachbuchautor
Marc Rufer, der in Zürich lebt. Aber wenn dieser sich als
»Rufer in der Wüste« bezeichnet, weiss er sicher
selbst am besten, wie er die Wirkung seiner Warnungen bei Kollegen,
in den Medien und der desinformierten Öffentlichkeit einzuschätzen
hat.
Wie schätzen Sie denn die gesellschaftlichen Folgen dieses
Verhaltens ein, kommen da nicht ungeahnte »Nebenwirkungen«
auf uns zu?
Mit den Langzeitfolgen der Bewältigung von Erziehungsproblemen
mittels psychotroper Substanzen beschäftigten sich Salvatore
Mannuzza und Kolleginnen des Long Island Jewish Medical Center in
New Hyde Park, New York. Wie sie 1993 in den Archives of General
Psychiatry mitteilten, wirkt sich die frühe Verabreichung
von Psychostimulantien an Kinder in ihrem weiteren Leben so aus,
dass sie mit dem Älterwerden in erhöhtem Ausmass gefährdet
sind, auf andere Drogen überzugehen. Untersucht wurden 103
Personen, die man als Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf
Jahren unter der Diagnose »Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung«
zumeist mit Psychostimulantien gedämpft hatte und die inzwischen
16 bis 23 Jahre alt geworden waren, und eine ungefähr gleich
grosse Kontrollgruppe, deren Erziehung ohne psychotrope Substanzen
stattgefunden hatte. Während sich bei dieser ein Missbrauch
von (nichtalkoholischen) Drogen nur bei 3% herausstellte, lag die
Drogenrate bei den früher psychiatrisch Behandelten bei 16%.
In einer Folgeuntersuchung sieben Jahre später war die Drogenabhängigkeitsrate
bei den vormals mit Ritalin Behandelten immer noch viermal so hoch
wie bei der Kontrollgruppe. Eine ähnliche Langzeitstudie von
Gabrielle Weiss und Kollegen in der Psychiatrischen Abteilung des
Montreal Children's Hospital brachte 1988 entsprechende Ergebnisse,
als es um Alkoholkonsum ging. Die Psychiater verfolgten das Schicksal
von 61 Kindern, die unter der Diagnose »Hyperaktivität«
mutmasslich mit Methylphenidat behandelt worden waren, und einer
41köpfigen nichtdiagnostizierten und unbehandelten Kontrollgruppe.
Nach 15 Jahren war die Alkoholmissbrauchsrate bei den zwischen 21
und 33 Jahre alt gewordenen ehemaligen »Hyperaktiven«
mit 68% mehr als doppelt so hoch wie bei der Kontrollgruppe mit
33%.
Die Quellen und Berichte über mögliche ritalinbedingte
Störungen können Sie in meinem Doppelband »Schöne
neue Psychiatrie« von 1996 nachlesen. Dort finden Sie zu
Berichte über psychische und zentralnervöse Störungen
als Folge von Ritalin, zum Beispiel Verdrossenheit, Weinerlichkeit,
Traurigkeit, Verlust des Selbstwertgefühls, Depressivität,
Schlaflosigkeit, Aggressivität, Halluzinationen, Angstzustände,
Konzentrationsmangel, Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen,
Lethargie, EEG-Veränderungen, epileptische Anfälle, Alpträume);
Stoffwechsel-, Organ- und Muskelstörungen, zum Beispiel Angina,
Hautausschlag, Fieber, Gelenkschmerzen, Appetitlosigkeit, Magenschmerzen,
Wachstumsverzögerungen und verminderte Gewichtszunahme (gerade
für Kinder eine dramatische Auswirkung!), Hormonstörungen,
Körpertemperaturstörungen, Herzjagen, Blutdruckerhöhung,
Schleimhautstörungen, Durchfall, Verstopfung, Erbrechen, Verminderung
der Blutplättchen, Ödeme am Hodensack, Sehstörungen,
Bindehautentzündung, Muskelzuckungen, Sprachstörungen
sowie Toleranzbildung. Der Platz hier ist zu knapp, um dies alles
auszuführen. Mehr Informationen siehe auch in meinem Internet-Artikel
zu Ritalin
Sie weisen seit Jahren auf die Gefahren und Nebenwirkungen von
Psychopharmaka hin, ein Kampf gegen die Windmühlen der Industrie?
Ich bin einer der relativ wenigen, die warnen. Ich tue, was ich
kann, mehr geht nicht. Ich studiere medizinische Fachliteratur und
gebe dann in allgemeinverständlichen Worten wieder, was dort
auf Fachchinesisch an Schadensberichten steht. Immerhin kann ich
mein Leben mit Bücherschreiben und Vorträgen finanzieren.
Meine Bücher erleben teilweise fünf bis sechs Auflagen.
Mein letztes Buch »Psychopharmaka
absetzen Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva,
Lithium, Carbamazepin und Tranquilizer« ist schon in der
zweiten Auflage erschienen [2008 in der dritten Auflage] und Pirkko
Lahti, die Präsidentin des Weltverbands Psychosozialer
Hilfsvereine, hat dafür ein freundliches Vorwort geschrieben.
Das Buch kommt im März 2004 in
englischer Übersetzung [inzwischen erschienen] und im August
2008
in griechischer Übersetzung [inzwischen erschienen] heraus,
ich vertreibe die Bücher weltweit. Das Internet bietet viele
preiswerte Kommunikationsmöglichkeiten. Allerdings kann ich
mit normalen Verlagen und ihren Pro-Psychopharmaka-Büchern
nicht mithalten. Ein im deutschen Psychiatrie-Verlag erschienenes
Buch des Basler Psychiaters Asmus Finzen konnte man zum Beispiel
gratis bei einem Pharmaunternehmen in Deutschland bestellen. Solche
Marketing- und Vertriebswege habe ich nicht, und wenn ich sie hätte,
dann sollte ich mir ernsthaft Gedanken machen, was da falsch läuft.
Aber eine solche Sorge ist unbegründet.
Ein Wort zu Alternativen, was wäre eine Alternative zu
den Medikamenten?
Das ist eine im Grunde nicht zu beantwortende Frage, wenn Sie sich
die Breite der Indikationen anschauen. Alleine Neuroleptika, sogenannte
antipsychotische Medikamente, können von Asthma bis »Schizophrenie«,
von Bettnässen bis Neurose, von Juckreiz bis Depression eingesetzt
werden. Dabei werden Sie von drei Psychiatern auf die Frage, was
Schizophrenie denn nun sei, sechs verschiedene Antworten bekommen.
Der Däne Karl Bach vom Weltverband
von Psychiatriebetroffenen hat im Schlusskapitel des Buches
»Psychopharmaka
absetzen« eine übergreifende Antwort auf Ihre Frage
gegeben, der ich mir nur anschliessen kann. Das überkommene
Konzept der psychischen Krankheit und des Bedarfs an synthetischen
Psychopharmaka abzulehnen, speziell wenn sie über lange Zeit
oder gar lebenslänglich verordnet werden, kann nicht heissen,
die Augen zuzumachen vor den realen Problemen, die viele Menschen
haben. Es kann nicht sein, dass man sich um andere, wenn sie psychosoziale
Probleme haben, etwa gar nicht kümmern sollten, dass die Leute
eingesperrt und allein gelassen werden sollten.
Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer Dienste
würde darin bestehen, Menschen bei der Bewältigung ihrer
Probleme und beim Wiedergewinnen des Gleichgewichts zu helfen
unter anderem durch gegenseitige Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative
Medizin, gesunde Ernährung, natürliche Heilverfahren und
spirituelle Übungen. Die alternative Arzneimittelkunde hat
beispielsweise ein grosses Wissen über die Wirkung von Kräutern
und Homöopathika, die dem Körper und der Psyche helfen
können, Entspannung zu finden und das innere Gleichgewicht
wiederherzustellen. Mit solchen Dingen kann man möglicherweise
nicht so viel Geld verdienen, doch sie sind es, die Zukunft haben.
Qualifizierte Hilfe in der Schweiz bekommt man bei PSYCHEX,
einem Verein, der sich zum von Juristen, Ärzten und Betroffenen,
der sich zum Anwalt von psychiatrisch Verfolgten gemacht hat
und unentgeltliche Unterstützung bei fürsorgerischer
Freiheitsentziehung und Zwangsmedikation anbietet: PSYCHEX,
Postfach 2006, 8026 Zürich, Tel. 08 48 / 00 00 33 (Inlandanrufe;
vom Ausland bitte die Nummer +41 / 44 / 818 08 70 wählen)
· Fax +41 / (0)44 / 8 18 08 71, E-Mail
info[at]psychex.org, Internet http://psychex.org.
PSYCHEX vermittelt den Eingeschlossenen VerteidigerInnen aus
dem sozialen, medizinischen oder juristischen Fachbereich,
interveniert bei Anstalten und Gerichten, sammelt Adressen
von Personen, die KlientInnen Unterkunft und Beschäftigung
anbieten oder vermitteln, leitet zur Selbsthilfe an und sorgt
gegebenenfalls für die Betreuung der Entlassenen.
Die organisatorischen und praktischen Vereinstätigkeiten
werden von einem vollamtlichen Sekretariat koordiniert, welches
den Betroffenen und den Interessierten als Anlauf- und Kontaktstelle
dient. Beratung und Vermittlung durch PSYCHEX sind kostenlos.
Der Verein ist jedoch auf Spenden angewiesen: Konto 80-39103-2
beim Postcheckamt Zürich. Ich bin übrigens seit
fast 15 Jahren Vorstandsmitglied von PSYCHEX, von daher erhalte
ich Hinweise über die Zustände in der Schweizer
Psychiatrie aus erster Hand, nämlich den Betroffenen.
|
Literaturempfehlungen
-
Johnson,
Bob: Zum Absetzen von Psychostimulanzien bei Kindern, in:
Peter
Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen Erfolgreiches
Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika,
Ritalin und Tranquilizern", Berlin / Eugene / Shrewsbury:
Antipsychiatrieverlag, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage
2008, S. 307-312 (E-Book
2023)
-
Lehmann, Peter: "Psychostimulantien", in: ders.,
"Schöne
neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und
Psyche wirken", Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996,
S. 243-256 (E-Book 2022)
-
Lehmann, Peter: "Psychostimulantien", in: ders.,
"Schöne
neue Psychiatrie". Band 2: "Wie Psychopharmaka den
Körper verändern", Berlin: Antipsychiatrieverlag
1996, S. 329-334 (E-Book 2022)
-
Lehmann, Peter: "Abhängigkeit und Entzug", in:
ders., "Schöne
neue Psychiatrie". Band 2: "Wie Psychopharmaka den
Körper verändern", Berlin: Antipsychiatrieverlag
1996, S. 353-456, insbesondere S. 380-384 (E-Book 2022)
-
Lewine,
Bruce L.: Gestörte Kinder und Teenager Sinnvolle
Lösungen ohne Psychopharmaka und sonstige Manipulationen,
in: Peter
Lehmann / Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2, Berlin
/ Eugene / Shrewsbury: Antipsychiatrieverlag 2007, S. 281-292
(E-Book 2022)
- Rufer,
Marc: Psychiatrie Ihre Diagnostik, ihre Therapien, ihre
Macht, in: Peter
Lehmann / Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2, Berlin
/ Eugene / Shrewsbury: Antipsychiatrieverlag 2007, S. 400-418,
insbesondere S. 411 (E-Book 2022)
Quelle
(1) »Das Bundesamt für Gesundheit der Schweiz (BAG) hat
in den letzten Jahren eine massive Ausweitung der Verwendung von
Ritalin® (Methylphenidat) festgestellt.
Ritalin unterliegt der Betäubungsmittelkontrolle. Aufgrund
der alarmierenden Zunahme liess das Bundesamt im Kanton Neuenburg
eine Analyse der Methylphenidat-Verschreibungen zwischen 1996 und
2000 durchführen. Dort stieg die verschriebene Gesamtmenge
von 1996 bis 2000 um 690 Prozent, hat sich also innerhalb von vier
Jahren beinahe versiebenfacht! Die Zahl der Patienten kletterte
in derselben Zeit um 470 Prozent, die Dosis pro Patient um 41 Prozent.
Die überwiegende Mehrzahl der Rezepte betraf Kinder zwischen
5 und 14 Jahren, mehrheitlich Knaben. Die Situation dürfte
sich laut BAG nicht wesentlich von der gesamtschweizerischen Situation
unterscheiden.« (aus: Betäubungsmittel Entwicklung
der Anzahl Verschreibungen für Ritalin®
[Methylphenidat) im Kanton Neuenburg zwischen 1996 und 2000. BAG-Bulletin
15, 8. April 2002, S. 284-288).
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Copyright by Peter Lehmann 2004 |