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Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in: Wildwasser Bielefeld e.V. (Hg.): Der aufgestörte Blick
Multiple Persönlichkeiten, Frauenbewegung und Gewalt,
Bielefeld: Kleine Verlag 1997, S. 60-79 / PDF
Kerstin
Kempker
Gewalt im Namen der "psychischen Gesundheit"
Ich freue mich, als Vertreterin der Antipsychiatrie hier vor
so viel kompetenten Frauen sprechen zu können, kompetent
im herkömmlichen wie im eigentlichen Sinne. Und ich denke
auch, daß es Zeit wird für die Auseinandersetzung zwischen
feministischer Therapie und Antipsychiatrie. Ich werde Sie mit
den Wurzeln der Sozialpsychiatrie bekanntmachen, Ihnen einen Einblick
in den psychiatrischen Alltag geben und die Diagnostik als die
Eintrittskarte in dieses System näher betrachten. Was unter
feministischen Vorzeichen daraus wird, ist Thema des letzten Teils.
Die
1. Geschichte der Sozialpsychiatrie
stelle ich unter das Motto:
der Wahnsinnige ist gefährlich und wird es bis
zu seinem Tode bleiben, der leider nur selten rasch eintritt!
(S. 3)
Emil Kraepelin, der dies 1916 sagte, war und ist ein weltweit
geachteter deutscher Psychiater. Er gilt als Vater des heutigen
psychiatrischen Klassifikationsschemas. Schon während des
ersten Weltkriegs machte er sich Gedanken, ob nicht die "siegreichen
Waffen gegen eine Welt von Feinden" auch
gegen einen inneren Feind (...), der die Grundlagen
unseres Daseins zu zerstören trachtet (zit.n. Lehmann, S.
26),
Einsatz finden könnten. Dieser innere Feind und "gewaltige
Gegner" waren die Kommunisten und die anderen Irren. Kraepelin
empfahl "Maßnahmen der inneren Kolonisation" gegen die Entwurzelung
und zur "Kräftigung des inneren Zusammenhaltes der Volksgenossen".
Schon 1918 sah er voraus:
Ein unumschränkter Herrscher, der, geleitet von
unserem heutigen Wissen, rücksichtslos in die Lebensgewohnheiten
der Menschen einzugreifen vermöchte, würde im Laufe
weniger Jahrzehnte bestimmt eine entsprechende Abnahme des Irreseins
erreichen können. (zit.n. ebd., S. 26f.)
Kraepelin war nicht irgendein einzelner verirrter Psychiater,
er befand sich in bester Gesellschaft. Er war sich einig mit dem
Gros der anerkannten Kollegen, mit Alfred Hoche, von dem es schon
1920 ein Buch mit dem Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten
Lebens" gab; mit August Forel, einem Schweizer Psychiater, der
vier Jahre später dazu aufrief,
die defekten Untermenschen allmählich zu beseitigen
(zit.n. Rufer, S. 141);
einig auch mit Eugen Bleuler, dem noch heute hochangesehenen
Erfinder der Schizophrenie, der 1936 seinen Kollegen "das Recht
und in schweren Fällen die Pflicht" zuschrieb,
objektiv "lebensunwertes Leben" anderer zu vernichten
(zit.n. ebd.).
Diese als 'Rassenhygiene' wissenschaftlich verbrämten Aufrufe
zum Mord an denen, die anders sind und die Verbreitung der 'nordischen
Rasse' behindern, wurden die Grundpfeiler der nationalsozialistischen
Weltanschauung. Der Psychiater Ernst Rüdin hob im März
1939 bei der Jahresversammlung der deutschen Psychiaterschaft
stolz hervor:
Zunächst ist festzustellen, daß es vor allem
der Psychiater war, welcher Staat und Partei auf die ungeheueren
Erbgefahren aufmerksam gemacht hat, welche gewisse psychisch und
neurologisch Kranke für die Zukunft unseres Volkes bedeuten,
und es ist eine Großtat des deutschen Staates und Volkes,
daß es sich dieser Einsicht nicht verschlossen hat, sondern
tatkräftig zur Bekämpfung dieser Gefahr übergegangen
ist. (S. 166)
Die Folge dieses psychiatrisch induzierten Rassenwahns waren
Hunderttausende Tote und Zwangssterilisierte.
Ich frage mich, wievielen Menschen eigentlich klar ist,
daß die Psychiatrie Wegbereiter des Holocaust war, (S. 395)
schreibt Peter Breggin, ein jüdischer Psychiater, der sich
als kritischer Beobachter, Gegengutachter und Autor einen Namen
gemacht hat; und er geht so weit zu sagen:
Die moderne Psychiatrie unterscheidet sich grundsätzlich
nicht von der Vorkriegspsychiatrie, die zum Holocaust führte.
Zum einen ist die Geisteshaltung dieselbe: Es gibt kein Mitgefühl
mit dem einzelnen Menschen, der der Behandlung ausgesetzt ist.
Zum anderen ist das theoretische Gebäude dasselbe, es basiert
auf einem biologisch-genetischen Ansatz. Sogar die Behandlungstechnik
ist dieselbe: Elektroschocks und giftige Präparate wie Neuroleptika,
Lithium und Antidepressiva. (Breggin 1993b, S. 396)
Ich erzähle Ihnen das alles nicht, weil ich auf betroffene
Gesichter hoffe ob der schlimmen Vergangenheit, sondern weil ich
selber bei der Lektüre fortschrittlicher feministischer Autorinnen
zum Thema Multiple immer wieder erschrocken bin, wie unkritisch
auf den braunen Pfeilern der Sozialpsychiatrie weitergebaut wird.
Kann es wirklich eine frauengerechte Psychiatrie geben, die auf
Kraepelins Klassifizierung der 'psychischen Krankheiten' fußt
und die Bleulers Schizophreniekonstrukt fraglos übernimmt?
Die Wurzeln der heutigen Psychiatrie, der sozialen, gemeindenahen
und biologistischen, sind
-
die Diagnostik (psychotisch ist, was ich nicht mehr verstehe;
neurotisch, was mir noch nachvollziehbar ist),
-
die Idee der Erblichkeit (entweder streng das schizophrenogene
Gen, das immer weiter gesucht wird, oder vage die Vulnerabilität,
diese irgendwie vorhandene Anlage zum Ausbruch)
-
und nicht zuletzt das prophylaktische Element.
Natürlich geht es heute nicht mehr um Rassereinheit und
gesunden Volkskörper, aber erklärte Ziele fortschrittlicher
Psychiatrie sind die umfassende Vor- und Nachsorge 'psychisch
Kranker':
-
in Form nachgehender psychiatrischer Fürsorge (bis in
die Wohnung),
-
in betreuten und therapierten Lebens- und Arbeitsformen (d.h.
viel Kontrolle, kaum Geld und wenig Selbstachtung) und das
alles auf der Basis von
-
Depotpsychopharmaka (alle 1 4 Wochen eine Spritze
in den Hintern); der Wiener Psychiater Raoul Schindler sagt:
Der Vormarsch der Depot-Neuroleptika ermöglicht
grundsätzlich eine fast 100%ige Nachbehandlungsdisziplin
(zit.n. Lehmann u.a., S. 455).
Bei den prophylaktischen Aufgaben steht der Psychiatrie die Humangenetik
hilfreich zur Seite. Schon 1980 begrüßte es Klaus Dörner,
der Kopf der deutschen Sozialpsychiatrie, daß auf dem Gelände
der Hamburger Psychiatrie Eppendorf, wo er damals arbeitete, eine
genetische Beratungsstelle ist, denn (so Dörner)
es gibt etliche Störungen in der Psychiatrie, was
so Depressionen angeht, und was so schizophrene Störungen
angeht, kann man ruhig sagen, daß in einem gewissen Umfang
Erbfaktoren beteiligt sind. (zit.n. Lehmann, S. 36)
Man kann es ja ruhig einmal sagen, und das reicht dann schon,
um den jungen Leuten, die in der Eppendorfer Anstalt Verwandte
besuchen oder gar selber ihre Diagnose haben, Angst zu machen.
Statt der in Verruf geratenen Zwangssterilisationen läßt
sich nun der gleiche Zweck, die Verhinderung 'erbkranken' Nachwuchses,
nur beratend und natürlich absolut freiwillig verfolgen ("ja,
wenn Sie das verantworten können!").
Ich komme zum
2. Instrumentarium der Psychiatrie
Darüber steht der Satz:
Lebens- oder Körperangst kann psychotische Angst
erübrigen (S. 546).
Dies sagen Klaus Dörner und Ursula Plog in ihrem sehr beliebten
Lehrbuch "Irren ist menschlich". Und sie sagen das nicht, um zu
erläutern, weshalb in Kriegszeiten weniger 'Psychotiker'
herumlaufen, sondern sie erklären so die Wirksamkeit des
Elektroschocks:
Lebens- oder Körperangst kann psychotische Angst
erübrigen.
Die Angst der Betroffenen (meist übrigens ältere Frauen),
die Stromstöße nicht zu überleben, und ihre Erleichterung
danach, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein, sind
der therapeutische Nutzen dieser barbarischen Methode, die von
Psychiatern auch gerne Heildurchflutung genannt wird. Dörner
und Plog nennen noch einen weiteren Effekt:
Wir verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend
in einen hirnorganisch kranken Menschen (S. 545).
Breggin sagt es etwas anders:
Wir fügen Menschen in seelischen Krisen eine innere
Kopfverletzung zu. (Breggin 1993a, S. 160)
Nicht nur vorübergehend verlieren viele Geschockte aufgrund
von Blutungen im Gehirn und abgetöteten Gehirnzellen große
Teile ihres Lebens: ihres Erinnerungsvermögens, ihrer Schaffenskraft
und ihrer Gefühlsintensität. Der Elektroschock, den
man in den USA, in China, in England und den skandinavischen Ländern
an Zehntausenden (speziell als depressiv diagnostizierten älteren
Frauen) durchführt, auch ambulant, langfristig 'nachsorgend',
ist dem Kraepelin-Schüler Cerletti zu verdanken. Er führte
diese Foltermethode, die er in einem römischen Schlachthaus
zur Betäubung der Schweine kennengelernt hatte, ab 1938 im
faschistischen Italien in der Psychiatrie ein. Mit dem Aufkommen
der Neuroleptika 1952 wurde der Elektroschock weltweit etwas verdrängt.
Heute, wo die verheerenden Schädigungen durch Neuroleptika
nicht mehr zu verkennen sind, wird deshalb (!) auch in Deutschland
die Renaissance des Elektroschocks erwogen.
Es fällt schwer, dieser absurden Logik zu folgen: Erst wird
empfohlen, die Tranquilizer, weil sie abhängig machen, durch
Neuroleptika zu ersetzen, so daß die Neuroleptika-Verordnungen
in die Höhe schnellen (die Durchschnittsdosis hat sich in
den letzten 20 Jahren verzehnfacht (Finzen; vgl. Eichenbrenner,
S. 17),
um dann doch feststellen zu müssen, wie gravierend die Folgeschäden
sind. (Es gibt Untersuchungen, nach denen weltweit ca. 86 Millionen
Menschen irreversibel an Neuroleptika-bedingter tardiver Dyskinesie
leiden, einer veitstanzförmigen, nicht behandelbaren Bewegungs-
und Muskelstörung [Hill 1992].) Also, logische Konsequenz:
Es muß wieder mehr geschockt werden. Was kommt danach?
Nun können Sie sagen: Die Psychiatrie, mit der wir manchmal
zu tun haben, wenn wir nicht mehr weiter wissen mit unseren Klientinnen,
ist ganz anders. Da gibt es eine nette Psychiaterin und Gespräche,
und es ist ja nur zum Schutz. Und, wie Michaela Huber zu den Multiplen
in der Zeitschrift EMMA schreibt:
Nur wenn 'das Chaos ausbricht', (...) kann ein
vorübergehender Klinikaufenthalt nötig werden.
(1992, S. 20)
Das wird immer gesagt, von allen, Frauen und Männern, die
in dem System oder mit ihm zusammen arbeiten. Psychiatrie ist
nur das letzte Mittel, nur zum Schutz der Betroffenen, nur so
lang wie nötig, Medikamente (damit sind die Neuroleptika
gemeint) nur so viel wie nötig.
Aber es sind 95% (!) aller Anstaltsinsassen und -insassinnen,
die Neuroleptika erhalten, und die Schäden, die verharmlosend
'Nebenwirkungen' genannt werden, sind immens. Peter Lehmann stellt
aufgrund psychiatrischer Fachliteratur fest:
Durchschnittlich 90% aller Behandelten leiden unter
atrophischen, d.h. eine Schrumpfung des Gehirns beinhaltenden
Zuständen; 90% Bewegungstörungen, häufig irreversibler
Art; 30% Fieberanfälle; bis zu 100% krankhafte EKG-Veränderungen;
50% Zahnfleischentzündungen, oft mit Zahnausfall verbunden;
(bei fortdauernder Behandlung) 80% Lebererkrankungen; 40% Diabetes;
43% Fettleibigkeit. Weiter sind zu nennen: Sterilität, Ausbleiben
der Menstruation, Impotenz; Farbstoffablagerungen im Auge und
im Herzmuskel; signifikant erhöhte Zahl von Chromosomenbrüchen
und -rissen, die zu Mutationen führen; seelische Abstumpfung
"Zombie-Effekt", Willenlosigkeit, Verzweiflungszustände
mit Selbsttötungsgefahr, Verwirrtheit und Delir. (Lehmann
u.a., S. 451)
Und weiter:
Alle bekanntgewordenen Neuroleptika-Schäden einschließlich
tödlicher Komplikationen treten bei allen Neuroleptika auf,
auch den sogenannten schwachpotenten, auch schon nach kurzer Dauer,
auch bei geringer Dosis. (ebd., S. 452)
Ein böses Kapitel für sich sind die sogenannten Entzugs-
und Supersensitivitätspsychosen, die sich aufgrund von Rezeptorenveränderungen
einstellen. Ich empfehle Ihnen zu diesem Thema den "Chemischen
Knebel" von Peter Lehmann. Die Lektüre ist nicht unbedingt
ein intellektuelles Vergnügen. Die Neuroleptikaschäden
sind ein äußerst unappetitliches Thema. Niemand begibt
sich gerne in die Niederungen der Eingeweide, des Speichelflusses,
des Verdauungs- und Bewegungsapparats. Aber noch schlimmer als
das Lesen ist es, selber aufgedunsen, lallend, sabbernd und schlurfend
in einem Körper, der sich all Ihrer Bestimmung entzieht,
Ihren BesucherInnen im Anstaltsflur gegenüberzutreten, mit
verzerrtem Gesicht ein unverständliches, nasses Hallo hervorzustammeln,
das Mitbringsel (ich kann mich noch gut an eine Schale Erdbeeren
im Winter erinnern) mit den tauben Händen zu verfehlen und
dabei sozusagen fassungslos und angewidert neben sich selbst
stehend diese Mischung aus Abscheu, Unglauben und Fluchtimpuls
auf den Gesichtern Ihrer Freundinnen und Freunde zu lesen: "Die
ist ja schrecklich krank. Die ist für uns verloren."
Das kann ganz schnell gehen. Es reichen wenige Stunden, um aus
Ihnen, den aufgeweckten Kongreßteilnehmerinnen, hirnlos
wirkende Zombies zu machen. Und das ist dann das, was Michaela
Huber
die typischen negativen Begleiterscheinungen von Schizophrenie
nennt (ich zitiere weiter):
Abgestumpftheit, leerer Blick, Wahnvorstellungen, sprachliche
bzw. Gedankenverzerrung. (S. 178)
Hier haben wir die typische fatale Verwechslung von Neuroleptikawirkung
und sogenannter schizophrener Symptomatik.
Vera Stein ist das Pseudonym einer Frau, die als Fünfzehnjährige
in die Anstalt kam, weil sie als aufmüpfiges und phantasievolles
Kind den Eltern Ärger machte (der typische Unterbringungsgrund
für Kinder). Sie verbrachte insgesamt vier Jahre in der Psychiatrie.
Als sie endlich draußen war, konnte sie sich nicht mehr
verständlich artikulieren (eine Form der tardiven Dyskinesie)
und "mußte das Leben neu lernen", wie sie in ihrem fesselnden
Buch "Abwesenheitswelten" sagt. Vera Stein beschreibt ihr Leben
unter Neuroleptika:
Taumelnde Schläfrigkeit wechselte sich ab mit aufsteigender
innerer Unruhe, der Drang, mich bewegen zu müssen und zu
laufen, siegte. Ich verlor immer mehr die Ausdauer, mich überhaupt
noch mit etwas zu beschäftigen. (...) Je mehr Arzneien mir
gegeben wurden, desto schwerer fiel mir die Selbstkontrolle. Mein
Interesse an meiner Umwelt stumpfte ab. Ich versank im Zustand
von Dumpfheit. (S. 36f.)
Und später:
Zunehmend deutlicher zeigten sich die Nebenwirkungen
von Arzneien: meine Schwierigkeiten zu reagieren, mitzudenken,
Fragen zu beantworten, obwohl ich alles hörte und mitbekam,
was passierte. (...) Mit gekrümmtem Rücken, den Kopf
nach vorne gebeugt, hing ich im Stuhl. Der Mund stand vom schief
verkrampften Gesicht halb offen, die Augen starrten auf einen
Punkt am Fußboden. Ebenso begrenzten sich meine Antriebskraft,
meine Energie und mein Willen auf ein Minimum. (S. 160f.)
Ich war längst abhängig geworden (...). Kaum
nahm ich wahr, daß es für Arme und Beine, die Kaumuskulatur
beim Essen, für meinen ganzen Körper zunehmend größere
Mühen machte, in Bewegung zu kommen. Vor allem beide Hände
waren sehr verkrampft. Die Gangart ähnelte einem geknickten
Roboter (Psychiater sprechen vom "Frankenstein-Gang", K.K.), denn
der Kopf neigte sich nach vorne, Richtung Fußboden. Besondere
Qual bargen die Unterdrückung und daß die Körperkraft
nachließ, daß das Wehren schwieriger wurde. Ich mußte
mir immer mehr gefallen lassen. Hatten anfangs noch drei oder
vier Betreuer Mühe, mir Spritzen zu verpassen, so schafften
es jetzt schon zwei. (S. 127)
Neuroleptika wirken nicht spezifisch. Sie wirken anti-vital,
und damit hemmen sie neben allen anderen Lebensvorgängen
auch die sogenannten psychotischen. Psychiater sprechen von einer
"vita minima" (Lehmann, S. 93), von einer "pharmakologischen Lobotomie"
(ebd., S. 81). Und jetzt zitiere ich wieder Michaela Huber. Sie
sagt:
Und schon wird sie (die Multiple, K.K.) in die Psychiatrie
überwiesen, wo sie mit starken Psychopharmaka (vorzugsweise
Neuroleptika) traktiert wird die jedoch bei Multiplen höchstens
Teilwirkungen haben, aber auf jeden Fall kontraindiziert sind,
solange nicht tatsächlich eine psychotische Episode vorliegt.
(S. 180)
Neuroleptika wirken immer. Sie wirken unabhängig von der
Diagnose. Sie wirken so, wie ein Schlag auf den Kopf wirkt, wie
ein Verkehrsunfall oder eine Vergiftung wirkt. Sie wirken, wenn
sie zu Folterzwecken in totalitären Staaten verabreicht werden.
Sie wirken bei Erbsenkeimlingen, die ihr Wachstum einstellen.
Sie wirken bei Spinnen, die aufhören zu spinnen Netze
zu spinnen. Sie wirken bei Schweinen, um sie auf Transporten ruhigzustellen.
Sie werden auch nicht verträglicher, wenn sie von einer Frau
verabreicht werden.
Die Praxis von Berliner Frauentherapieprojekten, ihre schwierigen
Klientinnen z.B. an eine Psychiaterin mit dem wohlklingenden Namen
Bellabarba zu verweisen, mag den Therapeutinnen ein besseres Gewissen
verschaffen. Aber auch Neuroleptika von Frau zu Frau sind Neuroleptika.
Frau Bellabarba machte übrigens dadurch von sich reden, daß
sie gemeinsam mit ihrem Mann für den Pharmamulti Hoechst
gut honorierte Medikamentenversuche an den Patientinnen und Patienten
eines Altenkrankenheims durchführte. Die wenigsten der Alten
wußten überhaupt davon (Rieck).
Frauen schlucken viel. An Medikamenten schlucken sie fast doppelt
so viel wie Männer (Schöttler, S. 74). Es gibt Untersuchungen
über den Psychopharmakakonsum von Frauen, über die Steigerung
mit dem Alter, den "Doppelstandard seelischer Gesundheit" etc.
Ich will das nicht noch einmal herunterbeten, Sie kennen das sicher,
feministischer Grundkurs. Es ist hier vor Ihnen auch nicht mein
Thema. Ich habe andere Fragen. Ich frage mich, auch angesichts
der Literatur, die ich mir in den letzten Wochen einverleibt habe:
Was müssen das für Frauen sein,
-
die meinen, in der Psychiatrie verlaufe die Front zwischen
Macht und Ohnmacht nur zwischen den Geschlechtern
-
die sich freuen, das Diagnoseschema nach Kraepelin um eine
weitere Nummer ergänzt zu haben, die 300.14 für
MPS im DSM-III-R, oder ist DSM-IV schon raus? Und
-
die daraufhin grausam säuberlich die multiplen Frauen
von den einfach nur so 'psychotischen' Frauen trennen, die
guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen?
Die Compliance das ist lt. Wörterbuch die Zustimmung,
Willfährigkeit, Unterwürfigkeit ist ein in letzter
Zeit unter weiblichen und männlichen Psychiatern beliebter
Begriff, wenn es um die zuverlässige Neuroleptikaeinnahme
auch über die Anstaltszeit hinaus geht.
Ähnlich wie Ursula Plog das schon 1968 aufgrund einer Versuchsreihe
feststellte (Schäfer-Plog), heben auch die beiden Schweizer
Psychiaterinnen Cécile Ernst (1989) und Brigitte Woggon
("Nebeneffekte") die Bedeutung der Beziehung Arzt-Patient
für die Akzeptanz der Psychopharmaka trotz starker sogenannter
Nebenwirkungen hervor. Sie betonen, man solle mit den Patienten
über alles sprechen, das fördere die Compliance. Gleichzeitig
warnt Frau Woggon davor, "die Rücksicht auf Nebenwirkungen
zu übertreiben". Ödeme seien "im allgemeinen
harmlos", bei Exanthemen (allergischen Hautausschlägen)
solle man "nicht zu ängstlich sein", und Fieberschübe
"können sich durchaus positiv auswirken".
Ich sehe gerade gegenüber Ärztinnen und Psychiaterinnen,
die es gelernt und sich zur Aufgabe gemacht haben, Nähe herzustellen
zu ihrer Patientin, eine Atmosphäre der Vertraulichkeit,
die große Gefahr der blinden Compliance. Asmus Finzen, ein
weiterer Kopf der Sozialpsychiatrie, definiert Compliance unumwunden
als
die zuverlässige Einnahme der Medikamente (S. 208).
Und wenn es an Compliance mangelt, wenn auch die Depot-Spritze
nicht regelmäßig abgeholt wird, werden eben "neue Zuführungssysteme"
erwogen, z.B. Neuroleptika-getränkte Silikonimplantate in
der Gebärmutter (Ayd, Vorwort).
Gewalt in der Psychiatrie ist die Gewalt der Psychiatrie. Es
ist darüber hinaus auch die Gewalt im Umfeld der Psychiatrie
(ihren unzähligen Vor- und Nachsorgeeinrichtungen, Werkstätten,
Beschäftigungs- und Geselligkeitszirkeln mit integrierter
Depot-Spritze). Und es ist die Gewalt, die in der Androhung der
Psychiatrie liegt. Das kennen sicher viele von Ihnen, wenn "das
Chaos ausbricht", man nicht mehr weiter weiß als Betreuerin
oder Therapeutin, dieses:
Entweder Du schluckst was, oder Du mußt raus hier
aus dem Frauenhaus, der therapeutischen WG oder wo auch immer.
Und raus hier heißt dann oft genug rein in die Psychiatrie.
Die Gewalt als Wesen der Psychiatrie geben auch Dörner und
Plog unverhohlen zu, wenn sie schreiben:
Häufiger passiert es, daß in dieser Weise
bedrohte oder drohende Menschen mit Zwang in die Klinik kommen.
Die Zwangssituation setzt in größter Erregung ein,
steigert die Erregung dann nochmal, so daß es üblich
ist, sofort Neuroleptika zu verabreichen (die Begrüßungs-K.o.-Spritze,
K.K.), weil ich und andere die Menschen, die so in Erregung sind,
heutzutage nicht anders aushalten können oder
wollen. Die Beziehungsaufnahme nach so einem Knall kann eigentlich
nur von der Gewalt ausgehen, kann nicht verharmlosen, kann nur
die Begegnung von Gegnern sein. (S. 167f.)
Vera Stein beschreibt eine solche Situation:
Drei Ärzte und Pfleger hielten mich auf einem Stuhl
fest, der am Wandschrank gestanden hatte. Trotz wilder Gegenwehr
fesselten sie mich um Bauch und Arme herum mit Gurten. Wie so
oft fiel der angsterregende Satz: "Schwester ziehen Sie bitte
eine Spritze auf!" Mein Gebrüll schwoll an. Ich schnaufte
vor Wut, tobte dagegen und rang nach Luft. Der Stuhl kippte hin
und her, so daß Herr Q. (das ist der Psychologe, K.K.) sich
daraufstemmte, um den Lärm zu dämpfen. Da ich mich trotz
der Injektion nicht beruhigte, im Gegenteil sogar noch zorniger
wurde, zerrten und schleiften sie mich auf das Bett, um mir Brust-,
Bauch- und Fußgurte anzulegen. Herr Q. kniete sich auf meine
Schulterblätter. Ein hinzugeeilter Arzt vom Nachbarhaus setzte
sich auf beide Beine und stützte sich dabei mit den Ellenbogen
gegen meine Oberschenkel. Ein Pfleger drückte beide Füße
nach unten, Dr. S. fixierte den Kopf, und die Schwester schnallte
die Riemen an, welche seit geraumer Zeit vorsorglich an meinem
Bett befestigt worden waren. Abschnallen konnte ich sie nie, denn
jede Schlaufe war mit einem Schloß versehen, das ausschließlich
vom Personal mit Spezialschlüsseln geöffnet werden konnte.
Ich tobte so, daß das Bett immer wieder gegen die Wand schlug.
Das veranlaßte sie, es in die Zimmermitte zu schieben, bevor
die gesamte Mannschaft den Raum verließ (...). Ich mußte,
wie schon so oft, aufgeben und mich damit abfinden, gefangen zu
sein. Nicht einmal kratzen konnte ich mich. Bis zum Kopf, etwa
um Tränen vom Gesicht zu wischen, reichten die Hände
nur unter enormer Kraftanstrengung. (S. 89ff.)
Diese direkte Gewalt ist offensichtlich. Die andere, subtilere
ist aber nicht weniger brutal. Psychiatrie ist eine totale Institution,
und sie ist ein weitgehend rechtsfreier Raum. Es gibt in ihr kein
Entrinnen. Es können mir in der Anstalt und zwar zeitlich
unbegrenzt, unkontrolliert von außen und ohne jegliches
Vergehen meinerseits die wichtigsten Grundrechte geraubt
werden.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird mir vorenthalten,
wenn der Anstaltspsychiater oder die Psychiaterin es für
meine psychische Gesundheit vonnöten hält; ebenso das
Recht auf freie Entfaltung und Bewegungsfreiheit, auf Eigentum
und Privatheit, auf meine Arbeit, meine Beziehungen, selbst auf
Besuch und auf den Empfang von Telefonaten, sogar das Postgeheimnis
gilt nicht. Die Psychiatriegesetze sind für die Betroffenen
eher hinderlich als hilfreich, denn sie sind voller Gummiparagraphen,
sogenannter offener Rechtsbegriffe, die von der Gegenseite flexibel
mit ihren Inhalten gefüllt werden können. Zu allem Überfluß
sind es die behandelnden und behandlungswütigen Psychiater
und Psychiaterinnen, die vor Gericht als 'Sachverständige'
angehört werden.
Als Gewalt wird aber auch die demütigende, herablassende
Attitude aller empfunden, vom Arzt bis zur Praktikantin, die Verdummung,
die Bevormundung, das Desinteresse, daß nie Fragen gestellt
werden, das enge Zusammengepferchtsein mit vielen oft unerträglichen
anderen, der ständige Lärm, das Verschwinden als Person.
Ich bin den Weg gegangen, der von mir erwartet wurde,
habe mich den Gegebenheiten angepaßt. Ich habe mich gefügt,
so wie Ärzte und Personal das wollten, und mich immer an
die Regeln der Station gehalten. Hab mich bemüht, ein ordentlicher
Mensch und Patientin zu sein und mit den Mitpatientinnen, mit
denen ich in einem Zimmer gelegen habe, gut auszukommen. Verletzungen
habe ich nicht so an mich rankommen lassen, um mich zu schützen.
Erfahrungen mit Gewalt habe ich nicht gemacht. (zit. n. Heuwer,
S. 161)
antwortet Frau M., die über 10 Jahre in Anstalten zubrachte.
Auf die Frage von Gabi Heuwer, was ihr in der Psychiatrie verlorengegangen
sei, sagt sie:
Verlorengegangen ist mir eigentlich nichts (...). Vielleicht
könnte man sagen, verlorengegangen sind mir viele Jahre meines
Lebens. (zit. n. ebd.)
Auch die effektivste Gewalt, die gar nicht mehr spürbare,
ist Gewalt.
J. B. Borovnjak aus dem ehemaligen Jugoslawien sagt in "Statt
Psychiatrie":
Es bleibt das Problem meiner Persönlichkeit und
ihres gelegentlichen Herausfallens aus dieser Welt, es bleiben
die Probleme anderer mit mir und das Problem meiner Offenheit,
der Möglichkeit, vom eigenen inneren Überfluß
überschwemmt zu werden. Die Psychiatrie weiß nichts
von diesen Erfahrungen und ist daran nicht interessiert. Sie ist
der letzte Platz auf dieser Welt, wo all meine Möglichkeiten
zu kommunizieren, verstanden zu werden und Austausch zu finden,
unterbrochen sind. Der Überfluß verschwindet schnell,
und damit all mein Reichtum und alles, was mich je ausmachte.
Die Psychiatrie mischt sich in all meine Erfahrungen, löscht
sie aus, bis sie mich ganz entleert hat und mich schließlich
entläßt. Diese Entlassung ist eine Illusion, denn wenn
ich aus dem Krankenhaus komme, besteht die Welt nicht mehr, da
sie nicht mehr durch mich geht. Gesichter können durch beliebige
Gesichter ersetzt werden, meine Spuren gibt es nicht, erst wenn
ich herauskomme, wird meine Leere spürbar, denn in der Abwesenheit
jeglicher Lebendigkeit innerhalb des Krankenhauses, in Anbetracht
der Unpersönlichkeit, die dort herrscht, bin ich dort immer
noch jemand. Wenn ich herauskomme und wieder Leben um mich ist,
begreife ich, daß es mich nicht mehr gibt. Ich bin in allgemeinen
Kategorien geblieben, bin eingeführt in die Geschichte der
Fälle, sie haben mich abgefüllt mit Angst vor mir selbst
und Unmengen von 'Medikamenten', die absichern, daß ich
mich nicht wiedererkenne. (J. B. / Solomun, S. 78)
Ich habe nie das notwendige Minimum erreicht. Alle errichteten
Grenzen waren nur eine Herausforderung. Das war nicht meine Entscheidung,
ich konnte nicht anders. Jetzt sehe ich, daß es weniger
schmerzhafte Wege gab. Ich entdecke den Schlüssel dazu, mache
mein Bett, schlucke alles, was sie mir geben, webe, störe
nicht das Personal. Ich begreife den Zauber des Gehorsams. Sie
entlassen mich schnell. Sie geben mir weniger 'Medikamente'. Eine
weniger schwerwiegende Diagnose. Wenn ich sie bitte, schließen
sie mir das Badezimmer auf, zu Zeiten, die dafür nicht vorgesehen
sind. Später dann komme ich raus und kämpfe mit allem,
was sie mir angetan haben. Ohne viele Fragen. (ebd., S. 80)
Ich kenne viele Menschen, die die Psychiatrie für Jahre,
wenn nicht für immer, gebrochen hat. Gefühle kann ich
mir nach der Psychiatrie eigentlich nicht mehr leisten. Ich kann
mir selber nicht mehr trauen. Nichts ist mehr normal. Alle Gefühlsregungen
Wut, Angst, Ausgelassenheit, Trauer stehen unter
dem bedrohlichen Vorzeichen: Ist es wieder so weit? Es braucht
eine übernormale Kraft und Stabilität, um auf die psychiatrische
Auslöschung so zu reagieren, wie J. B. es im folgenden beschreibt:
Sie forcieren meine Peripherie, alles, wodurch ich mich
nicht unterscheide. Es interessiert sie nicht, was mich wirklich
ausmacht: Aber das geht mich an, davon weiß ich, das bin
ich, darauf beziehe ich mich, wenn mir alles weggenommen wurde.
Bei allen 'Medikamenten' und bei aller Disziplinierung dieser
Welt können sie mich nicht auslöschen. Sie können
bewirken, daß ich lange von meinem Leben abwesend bin, daß
ich es nicht spüre, daß ich es nicht mehr wünsche.
Aber sie können das Leben nicht aus mir reißen, ich
bin viel, ich bin mehr. Die Eigenschaft von mir, der Verrückten,
ist, daß ich mich immer wieder erneuern kann, denn ich bin
antifunktionell, nicht optimal, nicht einem Zweck untergeordnet.
Mein Zweck beschränkt sich darin zu sein, denn ich verstehe
es zu sein. (ebd., S. 80f.)
Ich bin viel, ich bin mehr mehr als jede Diagnose, mehr
auch als viele Diagnosen. Vielen von uns wurde weit mehr als nur
eine Diagnose angehängt. Multiple Diagnostik.
3. Diagnostik
Am Anfang steht natürlich die richtige Diagnose
(S. 184),
schreibt Michaela Huber. Am Anfang war das Wort. Ist es so natürlich
zu diagnostizieren? Und gibt es sie plötzlich, die richtige
Diagnose? Verschwindet das
gewaltige Entehrungspotential psychiatrischer Etikettierung
(Jaccard, S. 35),
wenn ich von einer Feministin etikettiert werde? Ändert
dies irgendetwas an der Funktion der Diagnose als Anmaßung,
die alles was mir in Zukunft helfend angetan wird, rechtfertigt,
als Urteil und als selbsterfüllende Prophezeiung (Kempker,
S. 28ff.)?
Die Diagnose ist das Machtmittel der Psychiatrie. Mit ihr ändert
sich schlagartig alles. Sie ist das Vergehen, für das mir
meine Freiheiten entzogen werden, fürsorglich und vorsorglich
und nur zu meinem besten natürlich, für das ich eingesperrt,
zwangsbehandelt und geschockt werde. Ohne Diagnose dürfte
das keiner mit mir tun. Das wäre Freiheitsberaubung, Körperverletzung
und versuchter Totschlag. Mit der Diagnose Schizophrenie oder
endogene Depression ist es ärztliche Heilkunst.
Macht, Willkür und Unverständnis sind die Grundlagen
der Diagnostik. Die Grenze zwischen den sogenannten Geisteskrankheiten
und den sogenannten neurotischen Störungen, zu denen ja die
Multiplen gezählt werden, ist die Verstehbarkeit.
Wenn eine Therapeutin, die hier auf dem Kongreß war oder
die einschlägige Literatur kennt, mit einer Klientin konfrontiert
wird, mit der sie nicht so schnell warm wird, die Erinnerungslücken
hat, etwas unzuverlässig wirkt, vom Alltag verwirrt scheint,
unstet und schwankender Stimmung und was wir noch gestern in den
Vorträgen gehört haben, wird sie sofort kombinieren:
vielleicht multipel. Alle Zumutungen, Unverständlichkeiten,
Verrücktheiten, die ihr im Kontakt in Zukunft begegnen, liest
sie unter dem beruhigenden und verständnisvollen Vorzeichen:
vielleicht multipel, bis die Indizien irgendwann zur Gewißheit
werden.
Eine andere Therapeutin, weniger belesen, nicht up to date, kommt
bei derselben Klientin, die ihr etwas therapieresistent, nicht
gruppenfähig und nach einigen Verstößen gegen
das therapeutische Setting auch nicht mehr tragbar erscheint,
zu dem Urteil:
Schizophren, also außerhalb meiner Zuständigkeit.
Ich nenne ihr eine nette Psychiaterin.
Die Chancen, verstanden zu werden, sinken mit der Zunahme der
sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen Therapeutin und
Klientin. In den USA ist nach einer Studie Schizophrenie bei psychiatrisierten
schwarzen Frauen die häufigste psychiatrische Diagnose, bei
weißen Frauen die seltenste. Konsequenz ist, daß Schwarze
dreimal häufiger zwangsuntergebracht werden, mehr Neuroleptika
schlucken und länger in der Anstalt sind (Ramm, S. 14ff.).
Dörner und Plog erklären die Tatsache, daß Angehörige
der unteren sozialen Schichten häufiger als schizophren diagnostiziert
werden, so:
Da die Diagnose von Ärzten, d.h. Angehörigen
der oberen Mittelschicht gegeben wird und da der, der die Diagnose
trägt, mehr soziale Nachteile erfährt als andere Kranke,
vermeiden die Diagnostiker die Diagnose bei denen, die ihnen ähnlich
sind. (S. 175)
Diese Unterschiede können wir, solange sie existieren, nur
in Betracht ziehen. Sie lassen sich nicht einfach hinwegfegen.
Was ich nicht verstehe, verstehe ich nicht. Ich verstehe höchstens,
warum ich es nicht verstehe. Und vielleicht komme ich irgendwann
dahin, nicht alles verstehen zu müssen. Ich kann auch im
Kontakt bleiben, wenn ich nicht verstehe. Oft ist es viel hilfreicher,
Verbündete im eigenen Nichtverstehen zu haben als festzustellen,
so sagt es der als Autist bezeichnete Birger Sellin,
wie Angst in appetitlicher Weise totgemeistert wird.
(zit.n. Klonowsky, S. 35)
Bei Beckett heißt es in "Der Namenlose":
Teure Verständnislosigkeit, dir werde ich letzten
Endes verdanken, ich zu sein.
Und J. B. sagt:
Ich liebe es, daß meine Sensibilität eine
andere ist, aber ich weiß, in welche Verlegenheiten sie
mich bringen kann, denn die Welt ist nach dem Maß der Normalen.
(...) Vielleicht hilft nichts gegen meinen Wahnsinn. Solange die
Ursachen dafür bestehen, kommt und geht er von alleine. Er
geht vorbei, wenn man ihn vorbeigehen läßt. (S. 58f.)
Stehen Sie zur Verfügung, wenn der Wahnsinn kommt, und treten
Sie zur Seite, wenn er vorbeigehen will!
Es wäre anmaßend, alles verstehen zu wollen. Sinnvoll
ist sicher mehr als nur das, dessen Sinn ich gerade erkenne. Es
ist grausam, die, die ich nicht verstehe, der Psychiatrie zu überantworten.
Wenn wir uns einig wären, jede hilfesuchende Frau ernst zu
nehmen, den Wirklichkeitsgehalt ihrer Erzählungen nicht in
Frage zu stellen, jeder Verrücktheit einen wie auch immer
gearteten Sinn zu unterstellen, dann wäre die Diagnose nur
störend (außer zu Abrechnungszwecken).
Es ist aber anders. Feministinnen haben eine neue Frauenkrankheit
entdeckt, MPS. Ich bezweifle keinesfalls die Existenz dieser Selbstaufspaltung,
die nach unerträglichen Gewalterfahrungen das Überleben
sichert. Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, daß jede
Art von Verrücktheit eine Reaktion auf unerträgliche
Erfahrungen ist. Aber warum wird das jetzt auch noch von feministischer
Seite zur Krankheit erklärt? Und warum, da beginnt dann meine
Wut und mein versammeltes Unverständnis, warum werden so
grausam die verrückten und die multiplen Frauen auseinanderdividiert?
Falls Sie das, so wie ich zu Anfang, gar nicht glauben wollen,
lese ich Ihnen dazu ein paar Stellen aktueller feministischer
Literatur vor. Roswitha Burgard sagt in der Einleitung zur Neuauflage
von "Wie Frauen verrückt gemacht werden" 1993:
Das Anliegen von Michaela Huber und mir ist es, Frauen
mit ähnlichen Symptomen zu ermutigen, sich adäquate
Hilfe zu suchen, die sie darin unterstützt, daß es
sich bei einer MPS nicht um "Geisteskrankheit", nicht um "Verrücktsein"
handelt, sondern um einen komplizierten Überlebensmechanismus.
(S. 16)
Und Huber erläutert:
MPS basiert nicht auf einem psychischen Defekt, ist
also keine "Geisteskrankheit". Sondern sie ist das Ergebnis ganz
besonders gut ausgeprägter dissoziativer Fähigkeiten,
die das Überleben des Mädchens in einer extrem gewalttätigen
Umwelt ermöglichen. (1993, S. 171)
Frau Huber rät dazu,
bei den Schilderungen ihrer Patientinnen zwischen Phantasie
und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wenn sie das aber nicht tun,
wie wollen sie dann eine Multiple von einer Schizophrenen unterscheiden?
(ebd., S. 180)
Und dabei ist es doch so einfach, wie sie meint, denn es gibt
deutliche Unterschiede zwischen MPS und Schizophrenie,
die in der Regel nicht zu übersehen sind: Die "Stimmen" der
Schizophrenen reden in der Regel wirres Zeug (Bedrohungen aus
dem All etc.) und sind für einen Dialog nicht zugänglich.
(ebd., S. 178)
Da sind wir wieder an der Stelle, wo der unbefriedigte Erkenntnisdrang
der Therapeutin die Diagnose 'geisteskrank' fällt wie ein
Schlachtbeil. Es geht dann weiter mit der
schizophrenen Abgestumpftheit, leerer Blick, (...) Gedankenverzerrung
(ebd.),
diesen demütigenden und entwertenden Begrifflichkeiten klassischen
psychiatrischen Denkens. Und es gipfelt in einem "entscheidenden
Hinweis", den uns die Autorin anbietet über
die Herkunft der "Stimmen": Nimmt die Person sie als
"von innen kommend" wahr, ist sie wahrscheinlich eher multipel,
scheinen sie dagegen "von außen" zu kommen, spricht dies
für Schizophrenie (ebd., S. 178f.).
Ich frage mich, welches Verständnis von Verrücktheit
hinter solchen Aussagen steckt. Von einer multiplen Klientin sagt
Huber an anderer Stelle:
Sie hat riesige Angst davor, in der Psychiatrie zu landen.
Aber dort gehört sie nicht hin. Nein, Heide ist nicht verrückt.
Sie ist ein Folteropfer. (1992, S. 18)
Und was sind die Verrückten? Geisteskranke? Hirnkranke?
Die Esoterik-Gurus Christina und Stanislav Grof nehmen die gleiche
Ausgrenzung vor, wenn sie in ihrem Buch "Die stürmische Suche
nach dem Selbst" streng unterscheiden zwischen spirituellen und
psychiatrischen Krisen.
Ich weiß, daß nicht alle feministischen Therapeutinnen
diese saubere und simple Trennung vollziehen. Roswitha Burgard
verstrickt sich zumindest in Widersprüche, wenn sie im selben
Buch, in dem sie vorne die Trennung Multiple / 'Geisteskranke'
fordert, hinten sagt:
Wir dürfen uns nicht länger "verrückt"
machen lassen von der Angst, für "verrückt" gehalten
zu werden! Wenn wir die Spaltung nicht mehr mitmachen in "normale"
und "verrückte" Frauen, kann uns die Verleumdung, "verrückt"
zu sein, auch nicht mehr schrecken! (S. 203)
In den USA ziehen Feministinnen gemeinsam mit der Antipsychiatrie-Bewegung
gegen die Erfindung von immer neuen Frauenkrankheiten zu Felde.
Sie protestierten z. B. im Mai '93 beim Jahrestreffen des Psychiaterverbands
APA, der die Inhalte der diagnostischen Bibel DSM festlegt, gegen
die Kategorisierung der neuen "Frauenkrankheit prämenstruelles
Syndrom" als "depressive Verstimmung" ("Psychiatry"). Im DSM-IV,
dem aktuellsten diagnostischen und statistischen Handbuch der
Geisteskrankheiten, wird es also wieder eine neue 'Frauenkrankheit'
geben, Grund zum Feiern gibt es in den USA deswegen nicht, höchstens
bei den Pharmamultis.
Kate Millett hat die Psychiatrie am eigenen Leib erfahren. Sie
kämpft öffentlich gegen diese "gigantische Industrie"
der sozialen Kontrolle, die als einflußreiches Glaubenssystem
die Kirche längst in den Schatten gestellt habe. Das medizinische
Modell ist für Millett
sowohl niederträchtig als auch töricht. Es
ist eine Laien-Religion, aber auch eine massive Bedrohung (S.
427).
Eine Person, die der psychischen Krankheit überführt
wurde,
sagt Millett,
existiert rechtlich nicht mehr, ihr selbständiger
Status und die persönliche Identität sind ausgelöscht,
und das betrifft alle Bereiche der Lebensgestaltung und des Selbst.
(S. 428f.)
Die kanadische antipsychiatrische und feministische Therapeutin
Bonnie Burstow äußert sich in ihrem Buch "Radical feminist
therapy: working in the context of violence" zur Diagnose MPS:
Unsere Inzest-betroffenen Schwestern sind, wie früher
auch, die meistversprechenden Ausstellungsstücke. Im 19.
Jahrhundert führte Charcot diese Frauen vor, damals nannte
er sie "Hysterikerinnen"; er förderte und verstärkte
ihre sexualisierten Bewegungen, während die gesamte Psychiatrie
den sexuellen Mißbrauch in der Kindheit leugnete. Heute,
wo die Psychiatrie die Realität des sexuellen Kindesmißbrauchs
nicht länger abstreiten kann, hält sie sich typischerweise
selber eine Entdeckung zugute, die Frauen machten, und baut auf
ihr eine Wachstumsindustrie auf, geleitet von unternehmerischen
Psychiatern. Die tief verletzten und fragmentierten Frauen, die
die Psychiatrie "Multiple" nennt, haben sich als hierfür
besonders brauchbar erwiesen. Die vorgeführten Hysterikerinnen
Charcots sind die vorgeführten Multiplen der modernen Psychiatrie.
Es ist gar keine Frage, daß mißbrauchte Frauen, die
sehr frühe und wiederholte sexuelle Angriffe erlebt haben,
vergessen, abspalten, fragmentieren. Dies Vergessen, Abspalten
und Fragmentieren ist real keine Verstellung. Typisch ist
jedoch, daß die Psychiatrie das Vergessen für absolut
erklärt und festschreibt und einen Mangel an reflektiertem
Bewußtsein so behandelt, als sei überhaupt kein Bewußtsein
vorhanden. Darüber hinaus fördert die Psychiatrie aktiv
die Aufspaltung, auch wenn sie von "Integration" spricht. Auf
Geheiß der Psychiater sagt die einzelne Frau, die früher
"ich" sagte, nun gewohnheitsmäßig "wir". In einem "Krankenhaus"
in Ottawa werden die mit MPS diagnostizierten Individuen routinemäßig
jede Nacht mehrmals ins Bett gesteckt jede "Persönlichkeit"
zu einer anderen Zeit. Die zersetzende Wirkung ist offensichtlich
und erschreckend. Genauso ernstzunehmen ist, daß überall
in Nordamerika Psychiater ihre "Multiplen" filmen; sie warten
auf Persönlichkeitswechsel, ermutigen geschickt dazu und
halten sie fest. Bei speziellen Inzest-Konferenzen führen
sie die Filme dann vor, zur Faszination und Belehrung der Zuschauer.
Der Zirkus geht weiter. (1992, S. 36f.)
Soweit Bonnie Burstow.
4. Feministische Psychiatrie
Ja, die Männer!, können Sie jetzt einwenden. Wir wollen
ja eine frauengerechte Psychiatrie. Und
Voraussetzung für eine frauenspezifische Psychiatrie,
sagt Roswitha Burgard,
ist die erkannte gemeinsame Basis zwischen Patientin
und Psychiaterin. (S. 203)
Die Psychiatrien und die Psychiaterinnen, die ich in mehr als
drei Jahren kennengelernt habe, machen diesen Satz für mich
zu einem zynischen. Meine gemeinsame Basis mit einem männlichen
Insassen ist in der Anstalt weit größer als die mit
einer Psychiaterin, die mich diagnostiziert, prognostiziert, mit
Neuroleptika traktiert, mit Ausgangssperren und Besuchsverboten
drangsaliert und mit mir Gespräche von Frau zu Frau führt,
die sie protokolliert oder gar noch filmen läßt.
Und wenn ich höre, daß Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen
eine frauengemachte Frauenpsychiatrie planen, erfüllt mich
diese Vorstellung mit einem ganz besonderen Grauen. In einer Umgebung,
wo die Fronten klar sind, wo die Gefangenen auch so genannt werden
und die Wärter Wärter, wo Folter Folter ist und das
Ziel Zerstörung, kenne ich bei allem, was mir widerfährt,
meine Position. In der Psychiatrie gelte ich als Patientin, ich
werde von Ärzten "behandelt", von Schwestern "gepflegt",
und das Ziel ist die Linderung meines Leidens. Die Psychiatrie
hat ein sehr ausgeklügeltes Übersetzungssystem, mit
dem Gewalt zu Fürsorge wird und Zwangsbehandlung zur Notfallmaßnahme.
Wer aber Zwangsuntergebrachten aus der Anstalt hilft, macht sich
der Gefangenenbefreiung schuldig.
Die feministische oder frauengerechte Psychiatrie schon
diese Bezeichnung ist ein Wortungeheuer, das sich im Grunde selber
fressen müßte wird, so fürchte ich, ein
noch viel feineres und damit undurchschaubareres Vokabular entwickeln
für die gleichen Praktiken. Die geschlossenen Stationen,
die schon geplant werden, schützen z. B. die einsitzenden
Frauen vor ihren männlichen Mißhandlern. Und welchen
guten Zwecken dienen die Diagnosen, die Therapien, die Psychopharmaka,
die anderen Zwänge? Ich bin sicher, daß dafür
kluge und wohlklingende Antworten gefunden werden.
Es wird den Insassinnen dieser Anstalten damit auch viel schwerer
gemacht, sich zur Wehr zu setzen. Wenn schon in der herkömmlichen
Psychiatrie dieses Wehren ganz ins Innere der Person verlegt werden
muß, um sich vor Sanktionen zu schützen und die Entlassung
nicht zu gefährden, so wird es in der Frauen-für-Frauen-Psychiatrie
schon als innere Haltung verunmöglicht. Denn der Feind sitzt
da, wo die Vögel zwitschern und das Leben sich abspielt:
vor der Tür. Drinnen sind wir sicher, wir gehören zusammen,
weil das ist so platt, wird aber immer wieder gesagt
wir doch alle Frauen sind. Und damit ich weiß, wo's für
mich als Frau langgeht, wenn ich wieder rauskomme, geben mir die
Frauen, die es schon wissen, die Orientierung die Fachfrauen,
die mit dem Schlüssel. Denn, ich zitiere Hannelore Voss,
Im Unterschied zur weiblich sozialisierten Orientierung
am Mann als Wertegeber wird in der feministischen Therapie eine
Frau zur Werte-Geberin, zur Orientierung, zum Maßstab. (S.
206)
Michaela Huber sagt in dem Kongreßprogramm, das Sie alle
kennen, wann Multiple geheilt werden können:
... ihre Heilungschancen sind sehr gut vorausgesetzt,
sie finden eine kompetente, liebevolle und ausgebildete Therapeutin.
In Kurzform: Vorausgesetzt, sie finden eine Frau wie mich. Was
unterscheidet diese Form der Anmaßung von der des jovialen
Psychiaters in Weiß? Sie ist weniger offensichtlich und
damit letztlich, das stelle ich einmal so provokant zur Diskussion,
gefährlicher.
Ich erwarte von wirklich feministischen Therapeutinnen, daß
sie nicht Modell stehen, sondern zur Verfügung stehen. Daß
sie ihre Vorbildfunktion, das Setting und die nächste wissenschaftliche
Arbeit zurückstellen, ihre Rolle, ihre Macht und ihre Wirklichkeit
immer wieder in Frage stellen und offen sind für all das,
was es noch gibt, genauso real und mit dem gleichen Recht. Auch
wenn sie keinen Namen dafür haben, es nicht verstehen und
womöglich nicht komplett abrechnen können.
Ich erwarte auch, daß die therapeutischen Grundsätze,
die für die Multiplen entwickelt wurden, als Selbstverständlichkeiten
im therapeutischen Umgang erkannt werden, die für alle Klientinnen
gelten, multipel oder nicht. Wärme und Zuneigung, Therapie
als langfristige und ernsthafte Verpflichtung, die intensive individuelle
Beziehung, daß nichts ohne Sinn ist, eine gewisse Flexibilität
in der Zeit, in Krisen erreichbar zu sein um nur ein paar
der sogenannten Bersonderheiten im Umgang mit multiplen Frauen
zu nennen das sind für mich immer die Minimalanforderungen
an Therapeutinnen und Therapeuten gewesen. Wir werden in der AG
heute nachmittag mehr Zeit für dieses Thema haben und vermutlich
weitere Kriterien entwickeln. Polina Hilsenbeck nennt zusammen
mit zwei Kolleginnen als Grundvoraussetzung für Vertrauen
die Zusicherung, die Klientin niemals in die Psychiatrie einzuliefern
(Hilsenbeck u.a., S. 62). Bonnie Burstow geht weiter. Sie empfiehlt
den feministischen Praktikerinnen:
- Erklärt öffentlich eure antipsychiatrische Einstellung.
- Nennt euch nicht "Professionelle für psychische Gesundheit".
Unser Erbe geht zurück auf die Hexen und Hebammen, nicht
auf die Ärzte, die sich der Macht der Frauen bemächtigten
und sie für "verrückt" erklärten. Es ist ein
wunderbares Erbe. Laßt es uns zurückfordern!
- Arbeitet nicht in psychiatrischen Einrichtungen oder zusammen
mit Psychiatern und Psychiaterinnen.
- Überweist niemanden an Psychiater und Psychiaterinnen
oder an andere Personen oder Einrichtungen, die eine Einweisung
in die Psychiatrie betreiben könnten.
- Arbeitet nicht in sozialen Einrichtungen, die nicht bereit
sind, die Psychiatrie infrage zu stellen.
- Setzt fest entschlossen Antipsychiatrie-Diskussionen auf die
Tagesordnung jeder Organisation oder Einrichtung, die ihr mitplant
oder in der ihr gerade Mitglied seid. Fordert die Menschen heraus,
wann immer sie dieses Konzept verwässern wollen. (...)
- Setzt euch gegen die Anwendung von Neuroleptika, Antidepressiva
und Schock -"Behandlungen" ein. (...)
- Ermutigt Organisationen, mit denen ihr zu tun habt, daß
sie Psychiater und Psychiaterinnen, die dort tätig sind,
durch andere Beratungspersonen ersetzen. (...)
- Setzt euch öffentlich für ein Ende von Zwangseinweisungen
ein.
- Macht antipsychiatrische Aussagen bei öffentlichen Anhörungen
und schreibt kritische Stellungnahmen zu vorgeschlagenen Psychiatrie-Gesetzen.
(1993, S. 135f.)
Übertragen auf die aktuelle Situation kann das heißen:
Nutzen Sie den Medienrummel um die Multiplen, um Stellung zu beziehen
zur menschenrechtsverachtenden Psychiatrie. Seien Sie professionell
im ursprünglichen Sinn, erklären Sie sich öffentlich.
5. Darüber hinaus
Ich möchte noch einen kleinen Blick über den Tellerrand
der psychosozial-therapeutischen Eigenwelt werfen auf eine, wie
ich finde, viel spannendere, facettenreichere und bewegtere Welt,
die in der (schönen) Literatur, der Philosophie und in Selbstzeugnissen
ihren Ausdruck findet.
An unseren unablässig wechselnden bewegten Fluten
bleibt kein Name haften (S. 133),
sagen die Stimmen in Nathalie Sarrautes neuem Roman "Du liebst
dich nicht". Es sind die namen- und gesichtslosen Stimmen, die
miteinander im Gespräch sind und in ihrer Gesamtheit so etwas
wie eine Figur bilden, die mehrheitlich staunend, amüsiert,
auch mal erschrocken auf die Ich-Menschen um sich herum schauen:
Wie machen es die anderen, daß sie, wenn sie in
sich hineinsehen, sich darin zurechtfinden? Sie sind doch wie
wir, jeder von ihnen... solche Unendlichkeiten... Wie machen sie
das, daß sie sich so klar, so einfach fühlen? (S. 29)
"Das ist ganz einfach", heißt es an anderer Stelle,
Sie haben das Gefühl, daß die Teilchen, aus
denen sie bestehen, alle unlösbar zusammengeschweißt
sind, alle ohne Unterschied... die hübschen und die häßlichen,
die bösen und die guten, und dieses kompakte Ganze, das sie
"Ich" nennen, hat die Fähigkeit, sich zu verdoppeln, es kann
sich von außen betrachten, und das, was es sieht, dieses
"Ich", das liebt es eben. (S. 12f.)
Und dann läßt sich eine der Stimmen, eine vorwitzige,
dazu verlocken, mit einem dieser Menschen zu sprechen. Sie fragt
ihn:
Hören Sie, ich wollte Sie fragen... Haben Sie nicht
selbst, ich meine in Ihrem Innersten, das Gefühl... ich sage
ausdrücklich, ganz tief innen, gelingt es Ihnen, sich einigermaßen
klar zu sehen... haben Sie das Gefühl zu wissen, wer Sie
sind...? (S. 15)
Und nach einigem Vergewissern hin und her kommt er, der Ich-Mensch,
zu dem Ergebnis, daß manchmal zwei Personen in ihm stecken
könnten. Zwei, das ist gerade noch vorstellbar, zwei Seelen
ach, Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Mönch und Bankier.
"Das ist wenig", sagt die Stimme.
Wenig? Sind es bei Ihnen denn mehr? (...)
O ja, es sind so viele... wie Sterne am Himmel... es kommen
immer neue zum Vorschein, von denen man nichts ahnte... Ich habe
es dann aufgegeben, verstehen Sie, ich bin das ganze Universum,
alles, was virtuell vorhanden ist, alles, was möglich ist...
das Auge sieht es nicht, alles erstreckt sich ins Unendliche...
(S. 16)
Der Ich-Mensch erschrickt. Er verweist die Stimme an einen Fachmenschen.
Der Kommentar der anderen Stimmen:
Ein Fiasko auf der ganzen Linie.
Ich kehre zurück zur Persönlichkeit wie zur
Endstation (Pessoa 1982),
heißt es in einem Gedicht von Fernando Pessoa, oder verfaßte
es eines seiner Heteronyme? Pessoa, der wohl bedeutendste moderne
Dichter Portugals, war schon vor 70 Jahren das, was wir heute
multipel nennen. Und er war mehr. Pessoa das heißt
im Portugiesischen Person, Maske, Fiktion sagt von sich
und den anderen Personen, die durch ihn leben:
Es ist ein Drama in Leuten, statt in Akten. (Ob diese
drei Individualitäten mehr oder weniger wirklich sind als
Fernando Pessoa selbst, ist ein metaphysisches Problem, das dieser,
da ihm das Geheimnis der Götter unbekannt ist und er infolgedessen
nicht weiß, was die Wirklichkeit ist, niemals wird lösen
können.) (1988, S. 12)
Die Belletristik ist voller Multipler. Die Suche nach dem anderen,
dem ebenso Möglichen, der Blick von außen auf das,
was die Wirklichkeit sein soll Bernardo Soares, von Pessoa
eingestuft als Halbheteronym, gebraucht ein Bild:
Wer am Rande der Tanzfläche steht, tanzt mit allen.
Diese Art der Lebensbetrachtung, der das Selbstverständliche
fehlt, ist die Quelle von Kraft und Kreativität, aber auch
von Isolation und Irritation. Die Spannweite zwischen beiden Polen
nutzen zu können für das eigene Leben, ohne es in therapeutische
Hände zu geben oder psychiatrisch verstümmeln zu lassen,
das wünsche ich mir für alle, ob sie nun verrückt,
multipel oder irrsinnig normal sind.
Es gibt viele Gründe und Abgründe für dieses Ich
ohne Grund und Boden. Das, was mir zustieß, sicher. Aber
noch mehr, wir leben im "Zeitalter des Mißtrauens", der
Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, des drohenden Atomkriegs,
des Völkermords. Einsamkeit, Ignoranz, Fremdenhaß,
Armut. Es gibt neben dem einen Grund für das Zersplittern
und das Vervielfältigen des Ichs so unzählige gewichtige
andere, daß es vielleicht eher zu denken geben muß,
wenn jemand nicht multipel wird. Wie können Sie 'ich' sagen?
Wir sind verschieden, und das ist gut so. Weil wir Frauen sind
oder weil wir in der Psychiatrie waren oder weil wir die gleiche
Diagnose haben, müssen wir uns nicht verstehen. Auch Leiden
macht nicht gut. Gut wäre es aber, es selber zum Thema zu
machen, es mit eigenen Worten zu benennen und in der eigenen Hand
zu behalten. Dann kann es auch der Treibstoff sein, die Motivation
zum Lautwerden und zum Handeln. Für viele ist es der Haß,
der ihnen die Kraft dazu gibt, ein produktiver Haß, den
wir uns und auch anderen nicht nur gestatten, sondern abverlangen
sollten. Günther Anders spricht von einer Verpflichtung zum
Haß. Diejenigen,
auf die es ankommt, müssen, obwohl sie es hassen
zu hassen, doch hassen. (zit.n. Thürmer-Rohr, S. 161)
Und die, auf die es ankommt, das sind die Fachfrauen in eigener
Sache, wie auch immer sie von anderen diagnostiziert wurden. Es
kann lange dauern und wir sollten nicht darauf warten ,
bis feministische Therapeutinnen nach den Multiplen irgendwann
nach und nach all die anderen 'nicht gesiteskranken', aber psychiatrisierten
Frauen entdecken, sie rausholen, umdefinieren und für therapiewürdig
erklären. Wenn der Glaube an die Heilkraft der Professionellen
vergangen ist, wird Platz für die eigenen Wünsche, Forderungen
und Ziele. Bei deren Durchsetzung kann Hilfe von außen dann
wieder hilfreich sein. Linda Block aus Kanada sagt:
Ich entdecke, daß wir Multiplen unsere eigene
Sprache entwickeln, unsere eigene Stimme für unsere Wahrnehmung
der Welt. (...) Ich lerne, auf mich selber zu hören.
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im Alltag. Hamburg 1989, S. 69-83
- Stein, Vera: Abwesenheitswelten
Meine Wege durch die Psychiatrie. Tübingen 1993
- Thürmer-Rohr, Christina: Vagabundinnen. Feministische
Essays. Berlin 1987
- Voss, Hannelore: Frauengerechte Diagnostik und Therapie. In:
Hoffmann (Hg.), S. 205-207
© 1994 by Kerstin Kempker. Alle Rechte vorbehalten
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