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des Antipsychiatrieverlags
in: Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie (Berlin: Peter
Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993), S. 137-155
Marc Rufer
Verrückte Gene Psychiatrie im Zeitalter der Gentechnologie
»Das entscheidende, gesellschaftstheoretische, gesellschaftsgeschichtliche
Potential der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik liegt in
der Ersetzung sozialer durch gentechnische 'Lösungen'.
(...) Also statt Sozial-, Bildungs-, Familien-, Umweltpolitik
Genpolitik.« (Ulrich Beck)
Die Psychiatrie dreht sich im Kreise. Neue Ideen und Erkenntnisse
können sich in diesem starren Fachgebiet kaum durchsetzen.
Was heute gilt und als neu ausgegeben wird, sind Gedanken, Ideen
und Vorurteile, wie sie schon seit langer Zeit vertreten werden.
Unsicher wie eh und je sind auch die Begründungen und Beweise
für all die Annahmen und Folgerungen.
Das psychiatrische Dogma der Vererbung
Die Psychiatrie entwickelte ihre unheilvollen, auf die Erbbiologie
ausgerichteten Theorien erst
an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der
Degenerationstheorie und des Sozialdarwinismus (1).
Und diese Festlegung der Vererbung als einzige Ursache 'endogener
Psychosen' war verbunden mit der Determination eines ungünstigen
Krankheitsverlaufes. Ein neuer
Begriff tauchte auf: Erbpsychiatrie (2).
Die Psychiatrie, die Medizin der Seele, wurde damals zur Erbpsychiatrie.
Hoffnungslosigkeit prägte diese Psychiatrie, eine Hoffnungslosigkeit,
die in keiner Weise an Besserungen oder Heilungen glaubte.
Während des 19. Jahrhunderts waren sich die Psychiater einig,
dass alle 'psychotischen Erkrankungen' reaktiv entstünden
(Schmidt-Degenhard 1988, S. 575). Das ist eine wichtige Feststellung.
Das Wort 'reaktiv' steht für die Meinung, dass eine 'Störung'
auf äussere (psychologische oder gesellschaftliche) Einflüsse
zurückzuführen sei. Und der Begriff 'Anlage' wurde im
19. Jahrhundert keineswegs mit Vererbung gleichgesetzt. Was als
'Anlage' bezeichnet wurde, konnte durchaus nach der Geburt erworben
sein (ebd., S. 577). Aufschlussreich und bedauernswert, dass die
Psychiatrie danach erst zu ihrer vorwiegend biologistisch orientierten
Haltung fand.
Vor allem war es Emil Kraepelin, der Umwelteinflüsse für
die Entstehung der 'Geisteskrankheiten' gänzlich verwarf.
Auf ihn beruft sich Ernst Rüdins Konzept einer rassenbiologisch
fundierten Psychiatrie (ebd., S. 578). Und diese rassenbiologisch-eugenisch
orientierte Psychiatrie bestimmte dann fatalerweise, nach 1933,
die gesamte Sozialpolitik im NS-Staat. Das ging so weit, dass
Rudolf Hess, Hitlers Stellvertreter, 1934 verkünden konnte:
»Nationalsozialismus ist nichts anderes als angewandte Biologie.«
(zit.n. Lifton 1988, S. 36)
Es begann mit der 'Degenerations'-Theorie
Am Anfang der Entwicklung der Psychiatriekonzepte, die schliesslich
die eugenisch motivierten Massenmorde im NS-Staat möglich
machten, stand die Degenerationstheorie des französischen
Psychiaters Benedict Augustin Morel (1809-1873): »Die
Degenerationen sind krankhafte Abweichungen vom normalen menschlichen
Typ, sind erblich übertragbar und entwickeln sich progressiv
bis zum Untergang.« (Morel 1857; zit.n. Ackerknecht 1967,
S. 54f.) Die von Morel zuerst formulierte Degenerationshypothese
sollte obwohl in keiner Weise begründet die
Psychiatrie entscheidend beeinflussen.
Die erste Generation einer degenerierten Familie mochte
nur nervös sein, die zweite neigte schon dazu neurotisch,
die dritte psychotisch zu sein, die vierte war idiotisch und starb
aus. Weil sich solche Krankheiten und krankhafte Familien in der
modernen Gesellschaft anhäufen, ging dieselbe unaufhaltsam
ihrem Untergang entgegen. (Ackerknecht 1967, S. 55)
Für Morel war dieselbe erbliche Anlage bei beiden, Kriminellen
und 'Irrsinnigen', vorhanden, und in beiden Fällen handelte
es sich natürlich um 'Degeneration' (ebd., S. 57).
Cesare Lombroso und Frederick Goodwin
Cesare Lombroso (1836-1909), wortgewaltiger Verfechter
der Lehre vom 'geborenen Verbrecher', schilderte den Augenblick
seiner entscheidenden, von Morel beeinflussten Entdeckung; Lombroso
war gerade daran, die Hirnschale des Räubers Vilella zu betrachten:
Das war nicht nur ein Gedanke, sondern eine Offenbarung.
Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich,
erleuchtet wie eine unermessliche Ebene unter einem flammenden
Himmel, das Problem der Natur des Verbrechers zu schauen
ein atavistisches (urtümliches) Wesen, das in seiner
Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der
niederen Tiere wieder hervorbringt. So wurden anatomisch verständlich:
die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen, die hervorstehenden
Augenwülste, die einzelstehenden Handlinien, die extreme
Grösse der Augenhöhlen, die handförmigen oder anliegenden
Ohren, die bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden,
die Gefühllosigkeit gegen Schmerzen, die extrem hohe Sehschärfe,
die Tätowierungen, die übermässige Trägheit,
die Vorliebe für Orgien und die unwiderstehliche Begierde
nach dem Bösen um seiner selbst willen, das Verlangen, nicht
nur das Leben in dem Opfer auszulöschen, sondern den Körper
zu verstümmeln, sein Fleisch zu zerreissen und sein Blut
zu trinken. (Lombroso 1911, S. XVI; zit.n. Strasser 1984, S. 41)
Die Offenbarung hatte zum Inhalt: Der Verbrecher ist
kein Homo sapiens; er ist eine anthropologische Varietät,
ein Homo delinquens. (Strasser 1984, S. 42)
Alte Geschichten? Heute wird doch wissenschaftlicher geforscht,
heute werden nicht unreflektierte Vorurteile zu psychiatrisch
abgesegneten Tatsachen? Nein, leider sind wir heute kaum weiter
als zu den Zeiten von Morel und Lombroso.
Frederick Goodwin, eindeutiger Vertreter der biologischen Psychiatrie,
ist heute, im Jahre 1992, Direktor des NIMH (National Institute
of Mental Health; Nationales Institut für psychische Gesundheit).
Damit ist er einer der einflussreichsten und mächtigsten
Psychiater der USA. Goodwin ist in Sorge wegen der ständig
zunehmenden Gewalt in den Innenbezirken der Grossstädte.
Er vergleicht dort wohnende junge Männer mit mörderischen,
sexuell überreizten Affen, die sich ausschliesslich bekämpfen,
töten und fortpflanzen:
Wenn man beispielsweise männliche Affen betrachtet,
speziell die wildlebenden, zeigt es sich, dass kaum die Hälfte
bis zum Erwachsenenalter überlebt. Es ist eigentümlich
für Männchen, sich untereinander zu bekämpfen,
und tatsächlich ergeben sich daraus einige interessante evolutionäre
Folgerungen, weil dieselben hyperaggressiven Affen, die sich gegenseitig
töten, auch hypersexuell
sind; sie kopulieren häufiger, pflanzen sich deshalb vermehrt
fort und gleichen so die Tatsache aus, dass die Hälfte von
ihnen stirbt. (3) (Goodwin
1992, S. 119)
Nach Goodwins Überzeugung sind genetische Ursachen verantwortlich
für die zunehmende Gewalt in den Innenstädten. Die aggressiven
jungen Männer haben seiner Meinung nach defekte Gehirne mit
präfrontalen (im Vorderhirn auftretenden) Veränderungen,
die zu unterdurchschnittlicher Intelligenz und kognitiven Defiziten
(mangelnder Erkenntnisfähigkeit) führen.
Goodwin umriss ein nationales Programm, das sich auf biologische
und genetische Theorien stützt. Und die massgebenden Persönlichkeiten
der US-amerikanischen Psychiatrie
wollen nun in erster Priorität potentiell gewalttätige
Kinder mit Hilfe von genetischen und biochemischen 'Markern' (4)
identifizieren. Präventiv soll die individuelle 'Vulnerabilität',
d.h. die Anlage für spätere Gewalttätigkeit, nachgewiesen
werden. Das Ganze nennt sich »Gewaltinitiative«: Ihr
Ziel und Zweck besteht darin, fünf bis neun Jahre alte schwarze
Kinder zu identifizieren und behandeln (Breggin 1992c, S. 3).
Im Oktober 1992 sollte dementsprechend eine vom National Institute
of Health (NIH) und der Universität von Maryland getragene
Konferenz »Genetic Factors in Crime: Findings, Uses
and Implications« (»Genetische Faktoren der Kriminalität:
Ergebnisse, Anwendungen und Folgerungen«) stattfinden
(5). Dabei sind bis heute
bereits Millionen US-Dollar in die Erforschung von biochemischen
und genetischen Ursachen der Gewalt geflossen; einmal mehr wird
damit ein soziales Problem zu einem biologisch-genetischen gemacht.
Doch schuld an Verzweiflung und Gewalt sind nicht die Gene oder
die individuelle Biochemie, sondern das Unvermögen der Gesellschaft,
mit ihren dringlichsten Problemen fertig zu werden.
Sehr viel humaner und wissenschaftlicher als Lombrosos Theorien
tönen Goodwins Äusserungen nicht. Leider sind diese
beiden Herren keineswegs Ausnahmen. Erstaunlich ist damit auch
Goodwins Initiative nicht.
Nicht alle biologisch orientierten heutigen PsychiaterInnen sprechen
so ungehemmt wie Goodwin von ihren Zielen und Plänen. Doch
immer noch ist die 'Vererbung' der Kriminalität oder der
Straffälligkeit für die etablierte Psychiatrie ein ernstzunehmendes
Thema. Nach psychiatrischen Behauptungen weisen Zwillings- und
Adoptionsstudien eine deutliche genetische Komponente der Straffälligkeit
nach, speziell wenn schwere Strafen berücksichtigt werden
(Ernst 1986, S. 154f.).
Von der Vernichtung 'defekter' und 'unheilbarer' Menschen
Der Mann auf der Tausendernote ist schon lange tot
seine Ideen leben aber noch immer. Es gibt wohl keine grössere
Ehre in der Schweiz, einem Land, in dem das Geld über alles
geht, als auf einer Banknote verewigt zu werden. Mit der 1000-Fr.-Note
kommt August Forel diese Ehre zu. (Friedli 1989, S. 23)
Gehen wir wieder zurück in die erste Hälfte dieses
Jahrhunderts. August Forel und Eugen Bleuler sind zwei angesehene
Psychiater, zwei weltweit anerkannte Schweizer. Früh schon
propagieren sie eindringlich die Durchführung rassenhygienischer
Massnahmen.
Im Jahre 1924 spricht sich Forel für die Ermordung von missgebildeten
und 'oligophrenen' ('schwachsinnigen') Kindern aus. Er
scheut sich nicht, die Beseitigung 'defekter Untermenschen' zu
fordern:
Es ist eigentlich schrecklich, dass die Gesetze uns
dazu zwingen, Früchte, die als Kretinen, Idioten, Hydrozephalen,
Mikrozephalen u. dgl. geboren werden oder die ohne Augen und Ohren
oder mit verkrüppelten Geschlechtsorganen auf die Welt kommen,
am Leben zu erhalten. (...) Ehrlich ausgesprochen, täten
die aufopfernden Pfleger und Lehrer solcher Idioten besser, letztere
sterben zu lassen (durch milde Narkosen, mr) und selbst tüchtige
Kinder zu zeugen. (...) Ich wiederhole es, wir bezwecken keineswegs,
eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen,
sondern nur die defekten Untermenschen allmählich (...) zu
beseitigen. (Forel 1924, S. 477/608)
Noch weiter als Forel geht Eugen Bleuler, der 1936 einem ärztlichen
Kollegium das Recht, körperlich gesunde 'Geisteskranke' zu
töten, zusprechen will:
Eine nicht so einfach zu beantwortende Frage ist die,
ob es erlaubt sein sollte, objektiv 'lebensunwertes Leben' anderer
zu vernichten, ohne den ausdrücklichen Wunsch des Trägers.
(...) Auch bei unheilbaren Geisteskranken, die unter Halluzinationen
und melancholischen Depressionen schwer leiden und nicht handlungsfähig
sind, würde ich einem ärztlichen Kollegium das Recht
und in schweren Fällen die Pflicht zuschreiben, die Leiden
abzukürzen oft für viele Jahre. (E. Bleuler 1936,
S. 206)
Der 'grosse' Schweizer Eugen Bleuler, derjenige, der den Begriff
'Schizophrenie' prägte, einer der angesehensten Psychiater
überhaupt, geht hier sehr weit. Unheilbare 'Geisteskranke',
die unter Halluzinationen und 'melancholischen Depressionen' leiden,
'schizophrene' und 'endogen depressive' Menschen dürfen und
sollen seiner Meinung nach ärztlich sanktioniert umgebracht
werden. Er schreibt dies im Jahre 1936, also drei Jahre, bevor
die Massenvernichtung dieser Menschen im NS-Staat beginnt. Die
Tatsache, dass sich die Schweizer Psychiatrie bis heute zäh
und verbissen zu Eugen Bleuler und seinem Konzept der 'Schizophrenien'
bekennt, lässt auch Aussenstehende ahnen, welcher Geist in
der psychiatrischen Theorie und Praxis herrscht (Rufer 1987, S.
64; Rufer 1991, S. 113). Wenn sich der damals führende Schweizer
Psychiater so eindeutig für die Vernichtung von 'Geisteskranken'
aussprach, kann kaum mehr daran gezweifelt werden, dass er und
mit ihm die übrigen Psychiater in der Schweiz, genauso wie
ihre Kollegen im NS-Staat, mit derselben »wie von einem Missionsgedanken
getragenen Begeisterung« (Kaul 1979, S. 60) bei 'Euthanasie'-Aktionen
mitgemacht hätten, wie sie im NS-Staat möglich wurden.
Es stellt sich die Frage, ob nicht auch in der Schweiz während
des Krieges da und dort InsassInnen von Psychiatrischen Anstalten
ermordet wurden. Als möglich erscheinen die in Grossdeutschland
(nach dem von Hitler 1941 offiziell verfügten Stopp der Aktion
T4) angewendeten Methoden: Hungerkost, Todesspritzen und 'Vernichtung
durch Arbeit'. Eine sorgfältige Untersuchung dieser Frage
von Psychiatrie-unabhängiger Seite ist angezeigt.
Die Psychiatrie im Zeitalter der Gentechnologie
An den Beispielen Cesare Lombroso und Frederick Goodwin habe
ich gezeigt, dass die heutigen PsychiaterInnen kaum wesentlich
anders denken, als das in ihrem Fach Ende des letzten Jahrhunderts
der Fall war. Geändert hat sich die Ausdrucksweise. Die heutigen
PsychiaterInnen äussern sich vorsichtiger. Niemand würde
es heute wagen, wie Forel und Bleuler von der 'Beseitigung defekter
Untermenschen' oder der 'Vernichtung objektiv lebensunwerten Lebens'
zu reden.
So ist es notwendig, genau hinzuschauen. Womit gibt sich heute
ein grosser Teil der biologisch orientierten PsychiaterInnen ab?
Obschon alle Resultate bis jetzt mehr als fragwürdig waren,
wird unbeirrt und sogar mit zunehmendem Aufwand versucht, die
Vererbung der 'Geisteskrankheiten' nachzuweisen. Die Psychiatrie
ist auf den Zug der GentechnologInnen aufgesprungen. Eine hektische
Sucherei hat begonnen. Die Publikationen häufen sich. Was
ist denn das Ziel dieser Betriebsamkeit? Der Schwede J. Wahlström
sagt es in seinem Übersichtsartikel über 'vererbte geistige
Störungen' deutlich:
Die gewonnene Information kann verwendet werden für
die Bestätigung einer vermuteten Diagnose, zur Identifizierung
von Genträgern oder zur pränatalen Identifizierung von
Individuen, die dieses Gen besitzen. (Wahlström 1989, S.
116)
Diese Aussage ist in verschiedener Hinsicht äusserst problematisch.
Am Anfang jeder Untersuchung über die Vererbung steht die
Diagnose, auch wenn schliesslich im Labor Chromosomen untersucht
werden. Wie genau die molekulargenetischen Bestimmungen auch immer
sein mögen, das Resultat der ganzen Untersuchung kann niemals
genauer sein als die zu Beginn gestellte Diagnose.
Psychiatrische Diagnosen sind Konstrukte
Verschiedene Untersuchungen belegen die stark subjektive Färbung
der psychiatrischen Diagnostik. Die bekannte Untersuchung von
David Rosenhan, bei der sich ScheinpatientInnen in Psychiatrische
Anstalten aufnehmen liessen, zeigt, wie schnell und leichtfertig
die Diagnose 'Schizophrenie' gestellt wird (Rosenhan 1981).
Die beiden wichtigsten und bekanntesten psychiatrischen Diagnosen,
'Schizophrenie' und 'manisch-depressive Krankheit', die sogenannten
'endogenen Psychosen', sind wie alle übrigen psychiatrischen
Diagnosen Konstrukte (Häfner 1982, S. 14), d.h. Erfindungen,
Fiktionen, Hypothesen. Paul Möbius, ein Neurologe aus Leipzig,
Anhänger der 'Degenerations'-Lehre Morels, prägte im
ausgehenden 19. Jahrhundert den Begriff der 'endogenen Psychose'
(Mundt 1991, S. 3). Die beiden bekannten und grossen Psychiater
Emil Kraepelin und Eugen Bleuler waren keineswegs die Entdecker,
als die sie heute gelten. So hatte Kraepelin, als er 1889 den
Begriff »manisch-depressives Irresein« prägte,
im wesentlichen eine Umbennung der »folie circulaire«
(»zirkuläre Verrücktheit«) von Bailarger
und der »folie à double forme« (»doppelte
Verrücktheit«) von Falret vorgenommen. Und auch
bei der Festlegung der »Dementia praecox« (»vorzeitige
Verblödung«) im Jahre 1899 stützte er sich
auf Arbeiten anderer (Häfner 1982, S. 14). Eugen Bleuler
verdrängte dann ab 1911 mit dem neuen Namen »Schizophrenie«
die »Dementia praecox«. Die zunehmend wissenschaftlich
tönenden 'Diagnosen' veränderten selbstverständlich
nichts an der Unsicherheit der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen.
Das 'Material' der genannten Männer waren Menschen, die unter
den damaligen Bedingungen in Psychiatrischen Anstalten lebten.
Heute ist es unbestritten, dass diese Lebenssituation schwerwiegende
Auswirkungen hatte und hat. Kraepelin und Bleuler haben damit
im wesentlichen den 'Hospitalismus' ihrer 'PatientInnen' beschrieben
(Rufer 1988, S. 34ff.; Rufer 1989 u. 1991, S. 113f.).
So sind die Resultate der genetischen Untersuchungen auch deshalb
fragwürdig, weil die Ausgangsdiagnosen in keiner Weise gesichert
sind. Um es deutlich zu sagen: die molekulargenetische Bestätigung
einer psychiatrischen Diagnose ist nichts wert. Und leider wird
sie dennoch Wirkungen haben. Es ist für den Laien äusserst
schwer, die Fragwürdigkeit einer Analyse zu erkennen, die
von einem renommierten molekularbiologischen Labor durchgeführt
wurde. Doch der bereits genannte Wahlström und auch Brigitta
Bondy von der Psychiatrischen Klinik der Universität München
gehen noch weiter:
Die Identifikation genetischer Marker würde es
erlauben, Probanden (Testpersonen) mit hohem Krankheitsrisiko
zu identifizieren, auch wenn diese Vulnerabilität nicht
unbedingt zur Manifestation der Erkrankung führen muss.
(Bondy u.a. 1988, S. 565; Herv. mr)
Gesunde Menschen werden damit zu potentiell 'Kranken', zu einer
Gefahr für die Gesellschaft umfunktioniert. Doch wie soll
sich diese Identifizierung abspielen? Sind Massenblutentnahmen
geplant? Müssen sich die identifizierten GenträgerInnen
vorbeugend behandeln lassen? Vielleicht mit Depot-Neuroleptika?
Die ForscherInnen sagen es nicht. Und was geschieht weiter mit
diesen Risiko-Individuen? Dürfen sie Kinder haben? Sind Massensterilisationen
geplant? Oder wird alles auf 'Freiwilligkeit' basieren? Wahlström
spricht auch von pränataler Diagnostik. Was soll mit den
während der Schwangerschaft identifizierten TrägerInnen
eines 'Schizophrenie'- oder 'Manie'-Gens geschehen? Die Antwort
ist einfach: Die pränatale Diagnostik dient einem einzigen
Ziel, sie beantwortet die Frage: Schwangerschaftsunterbrechung
ja oder nein?
Pränatale Diagnostik als eugenische Selektion
Seit Jahren sind verschiedene Methoden zur vorgeburtlichen
Diagnose von Erbkrankheiten in Gebrauch. Nur noch Behindertenbewegungen,
Gentechnologie-KritikerInnen und Feministinnen fordern einen Verzicht
auf pränatale Diagnosen und die damit verbundene Praxis der
Abtreibung 'qualitativ mangelhafter' Embryonen; in breiten Kreisen
der Bevölkerung scheint der Gedanke einer 'negativen Eugenik'
der Ausmerzung 'genetischer Defekte' bereits Common
sense zu sein. (Keller 1992)
Doch dies ist den ReproduktionstechnologInnen noch immer nicht
genug, fieberhaft suchen sie nach Vereinfachungen ihrer Methoden.
Die Präimplantationsdiagnostik steht kurz vor ihrer Einführung:
Im Reagenzglas werden Ei und Sperma zusammengeführt. Drei
Tage später wird dem Zellhaufen eine Zelle entnommen. Weist
ihr Erbgut einen Defekt auf, wird sie weggeworfen, ist sie o.k.,
wird sie in die Gebärmutter transferiert. Vorteil dieser
Technik: es muss keine Abtreibung durchgeführt werden. Also
genetische Auslese schon im Reagenzglas. Und bereits wird intensiv
nach einer weiteren Vereinfachung gesucht: Bei der Präkonzeptionsdiagnostik
sollen Eizellen und Spermien mit genetischen Defekten bereits
vor der Befruchtung ausgeschieden werden (ebd.).
Die Genetik als Wissenschaft von der Vererbung entstand
um die Jahrhundertwende im Kontext des Sozialdarwinismus und der
daraus hervorgegangenen Eugenik-Bewegung. Francis Galton (1822-1911), ein Vetter Darwins, hatte den Begriff 'Eugenik'
1883 geprägt und als Wissenschaft von der Verbesserung des
Menschen durch Zucht definiert. Der deutsche Begriff 'Rassenhygiene'
wurde 1895 von dem Mediziner Alfred Ploetz geprägt und als
Wissenschaft von der Verbesserung der Erbanlagen der menschlichen
Rasse beschrieben. (Wess 1989, S. 24)
'Verbesserung der Menschen durch Zucht', 'Verbesserung der Erbanlagen
der menschlichen Rasse': Die Rassenhygieniker plädierten
dafür, dass 'hochwertige' Menschen Menschen wie sie
selbst viele Kinder und 'minderwertige' keine haben dürften.
Direkte Eingriffe an menschlichen Genen sind glücklicherweise
bis heute aus technischen Gründen noch nicht realisierbar.
Was möglich war, ist unverändert dasselbe geblieben:
Elimination, Ausmerzung der TrägerInnen 'schlechter', 'minderwertiger',
'defekter' Gene durch die Verhinderung der Fortpflanzung dieser
Menschen (Schwangerschaftsunterbrechung, Kastration oder Sterilisation)
oder noch effizienter dadurch, wie das auf entsetzliche
Weise im NS-Staat praktiziert wurde, dass sie ermordet wurden.
Die Ziele der heutigen pränatalen Diagnostik entsprechen
genau denjenigen der damaligen Eugenik und Rassenhygiene. Der
einzige Unterschied besteht darin, dass die beiden belasteten
Begriffe Eugenik und Rassenhygiene nicht mehr verwendet werden.
Frederick Osborn, Präsident der American Eugenics Society,
bezeichnete bereits 1934 das Ziel klar und deutlich:
Das eugenische Ideal fordert eine Gesellschaft, die
so organisiert ist, dass die eugenische Selektion als selbstverständlicher
und weitgehend unbewusster Prozess stattfindet. (zit.n. ebd.,
S. 47)
Leider muss festgestellt werden, dass heute dieses Ziel bereits
in weitgehendem Ausmass erreicht ist. Der Druck, der auf die werdenden
Mütter ausgeübt wird, ist enorm. Eine Schwangere braucht
viel Bewusstheit und Stärke, um in der Lage zu sein, eine
vom Arzt vorgeschlagene pränatale Diagnostik und die danach
evtl. empfohlene Schwangerschaftsunterbrechung abzulehnen.
Gentechnologie als Sozialpolitik
Deutliche Worte gebraucht der Soziologe Ulrich Beck; er spricht
von der »humangenetischen Modernisierung der Eugenik«
(Beck 1988, S. 31).
Das entscheidende, gesellschaftstheoretische, gesellschaftsgeschichtliche
Potential der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik liegt in
der Ersetzung sozialer durch gentechnische 'Lösungen'.
(...) Also statt Sozial-, Bildungs-, Familien-, Umweltpolitik
Genpolitik. (ebd., S. 43)
Das Beispiel der US-amerikanischen Gewaltinitiative zeigt deutlich:
in unserer technologisch-biologistisch ausgerichteten Zeit werden
zumindest an den Schaltstellen der Macht die gesellschaftlichen
und psychologischen Aspekte des menschlichen Lebens weitgehend
ausgeblendet. Wer auf gentechnologische Lösungen setzt, der
braucht sich um die gesellschaftlichen und psychologischen Aspekte
von Armut, Verrücktheit, Leiden, Widerstand und Gewalt nicht
zu kümmern.
Stephan Chorover beschreibt in seinem Buch: »Die Zurichtung
des Menschen« (1982) den Zusammenhang von Macht und Definitionsgewalt:
Die Art, in der soziale Probleme definiert sind, bestimmt
natürlich auch ihre prospektive Lösung entscheidender
noch, sie bestimmt, welche Lösungen nicht versucht
werden. Wenn dem so ist, dann impliziert bereits der Definitionsvorgang
Machtausübung, und zwar insofern, als er die Möglichkeit
alternativer Ansätze und Versuche wirksam ausschliesst und
die Gesellschaft als Ganzes zwingt, sich an 'Lösungen' zu
beteiligen, die dem allgemeinen Interesse dienen oder auch dagegen
verstossen. (S. 167)
Gefangen im biologischen Determinismus
Wer auf die Vererbung setzt, wer an gentechnologische Lösungen
glaubt, der ist gefangen im biologischen Determinismus. Psychische
Empfindungen, geistige Fähigkeiten, moralische Anlagen, Aggressionsbereitschaft,
der Charakter, ja das gesamte menschliche Verhalten und selbstverständlich
auch die 'Geisteskrankheiten' werden gemäss diesem biologischen
Determinismus (Biologismus) ausschliesslich durch die Biochemie
jener Zellen, aus denen das Individuum besteht, bestimmt und ausgelöst.
Die Problematik unserer Gesellschaft, ihre Widersprüche und
Missstände können somit nicht Ursache für die Entstehung
psychischer 'Störungen' sein. Die unabänderlichen Naturgesetze
der Biologie bestimmen alles, also auch sämtliche sozialen
Phänomene. Und die Biologie wird bestimmt durch die Gene.
Wo Probleme auftauchen, muss demnach zwingend biologisch vorgegangen
werden. Medikamentöse Eingriffe in die von den Genen bestimmten
Stoffwechselvorgänge erscheinen damit als sinnvolle Handlungen.
Noch besser ist es selbstverständlich, schlechte Gene auszumerzen
oder allenfalls zu verbessern (siehe dazu Lewontin u.a. 1988,
S. 3f.; Rufer 1991, S. 51f.). GegnerInnen dieser Ideologie wird
allenfalls mit Lippenbekenntnissen entgegengekommen: Es wird dann
beispielsweise gesagt, dass Gene in Kombination mit Umweltfaktoren
bei der Entstehung der 'psychiatrischen Erkrankungen' beteiligt
seien. Damit sind Umwelteinflüsse offiziell ins medizinische
Modell der 'Geisteskrankheiten' einbezogen.
Die Umweltstressoren holen, wenn sie zur Erkrankung
führen, aus der Persönlichkeit die Krankheitsform heraus,
welche in ihr angelegt ist. Der Druck stammt von aussen und ist
für die Krankheit unspezifisch, die Art der Erkrankung stammt
von innen und entspricht einer bestimmten genetischen Disposition.
(Ernst 1986, S. 160; siehe dazu auch Rufer 1991, S. 93f.)
Mit dem einfachen Trick, dass die Umwelteinflüsse als »unspezifisch«
bezeichnet werden, bleiben sie letztlich bedeutungslos. Die 'endogenen
Psychosen' und ihr Zusammenhang mit Erlebnissen, Schwierigkeiten
und Hoffnungen der Betroffenen bleiben unverständlich, die
Anstrengungen, sich in die 'PatientInnen' einzufühlen, nutzlos.
Ausschlaggebend ist und bleibt die Maschine Mensch. Die einen
Maschinen sind aus besserem Material, die anderen sind fehlerhaft
konstruiert.
Von der Amish-Studie der Janice Egeland
Wie in der Psychiatrie heutzutage die molekulargenetische Forschung
abläuft und wie rasch und leichtfertig Erfolgsmeldungen verbreitet
werden, zeige ich nun an einem Beispiel. Die Welt der Psychiatrie
geriet in Euphorie, als Janice Egeland von der Psychiatrischen
Abteilung der University of Miami School of Medicine und MitarbeiterInnen
neue Resultate ihrer Amish-Studie in der renommierten Zeitschrift
Nature publizierten (Egeland u.a. 1987). Die Old Order
Amish sind eine Mennoniten-Gemeinschaft in den USA und bestehen
aus ca. 12000 Menschen. Diese stammen von etwa 30 Paaren ab, die
im 18. Jahrhundert aus Deutschland und der Schweiz ausgewandert
sind. Sie lehnen die Geburtenkontrolle strikt ab und sind recht
kinderreich. Heiraten mit Aussenstehenden oder Auswanderungen
kommen kaum vor also ein interessantes 'Forschungsmaterial'
für genetisch interessierte PsychiaterInnen.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Psychiatrie sei, so wurde
nun behauptet, die genetische Ursache der 'manisch-depressiven
Erkrankung' ('Bipolar affective disorder') als Störung eines
einzelnen Gens auf einem bestimmten Chromosom lokalisiert worden.
Die schweizerische Psychiaterin Cécile Ernst ergriff die
günstige Gelegenheit und pries diesen 'Erfolg' in einem langen
Artikel in der ehrwürdigen Neuen Zürcher Zeitung.
Und sie skizzierte gleich noch die nächsten 'Erfolge' der
molekularen Genetik in der Psychiatrie:
Es ist zu erwarten, dass die molekulare Genetik bei
andern psychischen Erkrankungen, bei denen Adoptions- und Zwillingsuntersuchungen
eine genetische Mitbedingtheit nachgewiesen haben, diese genauer
definieren wird. Nächste Kandidaten könnten bestimmte
Formen von Angstkrankheiten und von Missbrauch legaler
und illegaler Drogen sein. (Ernst 1988, S. 38)
In der Egeland-Studie wurde behauptet, dass die 'manisch-depressive
Krankheit' in einem grossen Stamm der Amish an zwei Marker-Gene
gebunden sei, das sogenannte Harvey ras Onkogen (ein Gen, das
die Bildung einer Geschwulst bewirkt) und das Insulin-Gen (das
die Bildung des Hormons Insulin steuert). Keines dieser Gene selbst
hat irgendeinen Bezug zur 'manisch-depressiven Krankheit', und
auch kein sonstiges identifiziertes Gen hat irgend etwas mit dieser
'Krankheit' zu tun. Die ganze Beweisführung beruht auf der
Idee, dass die zwei Marker-Gene gemeinsam mit der Veranlagung
zur 'manisch-depressiven Erkrankung' vererbt würden. Das
Insulin-Gen und das Onkogen wären also mit dem hypothetischen
Gen der 'manisch-depressiven Erkrankung' gekoppelt. Die Möglichkeit,
dass diese Co-Vererbung zufälliger Art sei, wurde durch eine
statistische Berechnung ausgeschlossen.
Wie ging die Sache weiter? »Die anfängliche Euphorie
nach den Egeland-Befunden ist wieder verflogen.« (Mundt 1991,
S. 10) Laut Miranda Robertson, Mitherausgeberin von Nature,
beruht der Schluss, ein Gen auf Chromosom 11 prädisponiere
zur Entstehung der 'manisch-depressiven Erkrankung', auf einem
delikaten Gleichgewicht von Unsicherheiten (Robertson 1989). J.
Egeland und KollegInnen selbst widerriefen, erneut in Nature,
die Folgerungen ihrer ersten Publikation (Kelsoe u.a. 1989). Sie
geben zu, dass die Resultate rein zufälliger Art sein könnten.
Auch bestehe die Möglichkeit, dass nicht-genetische Faktoren
zur Entstehung der affektiven 'Erkrankung' bei den Amish beitragen
würden. Dennoch beharren sie auf der Meinung, wonach weitere
molekulargenetische Studien sinnvoll seien. Und selbst Miranda
Robertson schreibt, es bestehe kein Grund für einen Zweifel
an der genetischen Prädisposition zu psychiatrischen 'Erkrankungen'
und auch an der Fähigkeit der MolekulargenetikerInnen, die
verantwortlichen Gene zu identifizieren.
Von unglaubwürdigen und gefälschten genetischen
Studien
Die ForscherInnen verrennen sich, sie suchen hektisch, etwas
zu herauszufinden, zu beweisen. Doch die Resultate dieser gentechnologischen
Untersuchungen sind in keiner Weise glaubwürdiger als die
fragwürdigen Befunde der Zwillings- und Adoptionsstudien.
Franz Kallmann, auf dessen Zwillings-Studien über die Vererbung
der 'Schizophrenie' bis heute immer wieder verwiesen wird, war
ein Schüler von Ernst Rüdin, der ursprünglich
Schweizer und ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik
Basel später der führende Rassenhygieniker im
NS-Staat wurde. Beachtenswert, dass bis heute auf Studien verwiesen
wird, die im NS-Staat ihren Ursprung hatten. Im wichtigen Buch
»Die Gene sind es nicht...« werden die Resultate von
Kallmann als unglaubwürdig und schlecht dokumentiert bezeichnet
(Lewontin u.a. 1988, S. 170ff.).
Die dänischen Adoptionsstudien von Seymour Kety, David Rosenthal
und Paul Wender, die angeblich die Vererbung der 'Schizophrenie'
beweisen, wurden als 'Meilenstein der biologischen Psychiatrie'
bezeichnet (ebd., S. 180). Doch wurden dabei fragwürdige
Kunstgriffe angewendet, um zu positiven Resultaten zu kommen.
Es wurde nach 'Schizophrenie-Fällen' in der biologischen
Verwandtschaft von 'erkrankten' adoptierten Kindern gesucht. Um
positive Resultate zu erzielen, wurde der Begriff 'schizophrenes
Störungsspektrum' eingeführt. Ein Beleg für die
genetische Grundlage der 'Schizophrenie' wurde somit bei Diagnosen
wie 'inadäquate Persönlichkeit', 'ungesicherte Schizophrenie'
und 'ungesichertes Borderlinesyndrom' in der biologischen Verwandtschaft
von 'Schizophrenen' angenommen (ebd., S. 181). Zudem stellte sich
später heraus, dass Pseudo-Interviews durchgeführt wurden,
wenn die Verwandten von 'schizophrenen Patienten' tot oder nicht
zu erreichen waren. D.h. der Psychiater füllte den Fragebogen
so aus, wie die InterviewpartnerInnen seiner Vermutung nach geantwortet
hätten (ebd., S. 183). Gemäss der Aussage von Rosenthal,
einem der Autoren der Studie, wäre bei ausschliesslicher
Berücksichtigung von 'Fällen', die in der Anstalt behandelt
wurden kein nennenswerter Anteil der Vererbung bei der
Entstehung der 'Schizophrenie' feststellbar gewesen (ebd., S.
184).
Es zeigte sich auch, dass die Adoptierten, die 'schizophren'
wurden, aus zerrütteten Familien stammten. Und diese Zerrüttung
(Alkoholismus, Kriminalität, Syphilis usw.) führte dazu,
dass die betreffenden Kinder an vielfältig belastete Adoptivfamilien
vermittelt wurden. Die Adoptivkinder wurden von den zuständigen
Stellen demnach nicht nach Zufall vermittelt. Dies zeigt sich
darin, dass ungefähr bei einem Viertel der Adoptivfamilien
der 'schizophrenen' Adoptierten ein Elternteil Insasse einer Psychiatrischen
Anstalt gewesen war, während das bei den Adoptiveltern der
'gesunden' Kontrollpersonen nie vorgekommen war (ebd., S. 181f.).
Ein Adoptiv-Elternteil Anstaltsinsasse oder ehemaliger Anstaltsinsasse:
dies bedeutet, dass die betreffenden Kinder in einem äusserst
schwierigen und benachteiligenden Umfeld aufwuchsen. Der Schluss
liegt nahe, dass Adoptierte, die 'schizophren' wurden, ihre 'Symptomatik'
aufgrund der speziellen Verhältnisse in ihren Adoptivfamilien
entwickelten. Die Autoren von »Die Gene sind es nicht...«
beurteilen die Untersuchungen der Gruppe von Rosenthal und Kety
abschliessend:
Hätten die Wissenschaftler ihren eigenen Versuchsplan
ernst genommen, hätten sie ihre Daten auch als Beleg für
die völlige Umweltbedingtheit der Schizophrenie interpretieren
können. (ebd., S. 185)
Hier, wie auch bei weiteren Studien, die ihre Vererbung aufzeigen
sollten, ergibt sich also als einzig sicheres Resultat eine Beteiligung
von Umweltfaktoren bei der Entstehung der 'Schizophrenie' (Sarbin/Mancuso
1982, S. 152). Und trotzdem wird hartnäckig am 'Mythos' der
Vererbung dieser 'Krankheit' festgehalten. Dabei wäre schon
nur der Befund, dass mehr als 90% der Verwandten von 'Schizophrenen'
nicht 'schizophren' sind (Barnes 1987, S. 430), Grund genug, diese
verhängnisvolle Hypothese endgültig fallen zu lassen.
Eine Parallele zu den unermüdlichen Versuchen, die Erblichkeit
der 'Geisteskrankheiten' zu beweisen, findet sich in der Intelligenzforschung.
Die eindeutigsten Belege für die genetische Determiniertheit
des Intelligenz-Quotienten (IQ) lieferte das Lebenswerk des Sir
Cyril Burt, auf Grund dessen er sogar geadelt wurde. Burt hatte
die Resultate von Zwillingsstudien und Intelligenzuntersuchungen
von weiteren biologischen Verwandten publiziert. Später wurde
jedoch aufgedeckt, dass er Daten erfunden und gefälscht hatte
(Lewontin u.a. 1988, S. 84).
Der Eifer all dieser Forscher, die genetische Determiniertheit
sowohl der 'Geisteskrankheiten' als auch der Intelligenz zu beweisen,
ist leicht zu durchschauen: Was vererbt wird, kann nicht auf gesellschaftliche
Ursachen zurückgeführt werden. Einzig die ererbte individuelle
Anlage und Begabung seien entscheidend für unterschiedliche
soziale Stellungen, Einkommen und Macht. Wem es schlecht geht,
wer unverstanden lebt und fühlt oder wer wie das in
letzter Zeit wieder häufiger der Fall ist arm ist,
habe das ausschliesslich sich selbst, d.h. seinen weniger wertvollen
Genen, zu verdanken. Und ganz automatisch seien es die besten
und tüchtigsten Menschen, die mit einem besonders grossen
Mass an Sozialprestige, Reichtum und Macht verbundene gesellschaftliche
Stellungen einnehmen.
Krampfhaftes Beharren auf der Vererbung
Ein grosser Teil der Psychiater glaubt noch immer an das von
Emil Kraepelin beschriebene Bild der 'endogenen Psychosen'. Dieser
nahm an, dass es eine spezifische Häufung von 'manisch-depressiven'
und 'schizophrenen' Sekundarfällen in Familien mit den entsprechenden
'Psychosen' gebe. D.h. er war der Meinung, dass die beiden Anlagen
separat vererbt würden. Die Welt der Psychiatrie war dermassen
von Emil Kraepelin eingenommen, dass Familienstudien jeweils getrennt
für die beiden 'grossen Psychosen' durchgeführt wurden.
Dieser methodische Mangel führte dazu, dass die allfällige
Überlappung der beiden 'Krankheiten' d.h. eine Häufung
von 'Schizophrenien' bei Kindern von Eltern, die als 'manisch-depressiv'
gelten, und eine Häufung von 'manisch-depressiven Erkrankungen'
bei Kindern von Eltern, die als 'schizophren' gelten, nicht festgestellt
werden konnte (Maier/Propping 1991, S. 404). Doch in neueren Studien
wurde nun eine familiäre Überlappung 'affektiver' bzw.
'manisch-depressiver' und 'schizophrener Erkrankungen' gefunden
(ebd.; Taylor 1992). So gewinnt verständlicherweise in letzter
Zeit der alte Begriff der sogenannten 'Einheitspsychose' wieder
an Bedeutung. Klaus Conrad vertritt eine 'einheitspsychotische'
Konzeption, in der eine 'Desintegration der Persönlichkeit'
alle Formen psychischer 'Erkankungen' von 'Neurosen' bis zu 'endogenen
Psychosen' umfasse (Vliegen 1986, S. 219). Die psychiatrischen
ExpertInnen scheinen sich nicht daran zu stören, dass das
Konzept der 'Einheitspsychose' unvereinbar ist mit dem Dogma der
separaten Vererbung der 'Schizophrenie' und der 'manisch-depressiven
Erkrankung'. In der besprochenen Amish-Studie wurde beispielsweise
versucht, die genetische Ursache der 'manisch-depressiven Erkrankung'
als Störung eines einzelnen Gens und damit die separate
Vererbung dieser 'Erkankung' mit molekulargenetischen Methoden
zu beweisen. Die Theoriebildung und die Ausrichtung der Forschung
in der Psychiatrie gehen offensichtlich gelegentlich getrennte
Wege.
Trotz aller Anstrengung gelang es also nie, auch nur eine psychiatrische
'Erkrankung' als Ausdruck einer dominanten Vererbung eines einzelnen
Gens nachzuweisen. Ein erster Rettungsversuch bestand darin, die
Forschungsresultate neu zu berechnen. Es wurde eine reduzierte
Penetranz der hypothetischen Gene (d.h. eine reduzierte Manifestationshäufigkeit
der von diesen Genen kontrollierten Merkmalen) der 'Schizophrenie'
oder der 'manisch-depressiven Erkrankung' angenommen. Doch dieser
Kunstgriff misslang kläglich (Belmaker 1991, S. 415). Nun
wurde ein weiterer Versuch zur Rettung der Vererbungshypothese
angestellt: Es wurde postuliert, dass nicht ein, sondern mehrere
Gene für den Ausbruch der 'Krankheit' verantwortlich sein
könnten. Es müsse sich um eine kombinierte Wirkung mehrerer
Gene handeln, und die Zahl der beteiligten Gene könne sogar
sehr gross sein (ebd., S. 416). Diese Vorstellung mag wohl auf
den ersten Blick recht verheissungsvoll tönen, in ihrer schwammigen
Formulierung 'evtl. sehr grosse Zahl an beteiligten Genen'
ist sie in keiner Weise beweisbar.
Vulnerabilität, das rettende Konstrukt
Wenn in den letzten zehn Jahren von der Vererbung der 'endogenen
Psychosen' gesprochen wurde, fiel bald einmal der Begriff 'Vulnerabilität'.
Doch dieses wohlklingende Wort vernebelt und verdunkelt mehr,
als es erhellt. Wie üblich in der Psychiatrie, wird der geschichtliche
Hintergrund dieses Begriffes verschwiegen. Vielmehr wird er benutzt,
als handle es sich um eine neugefundene, alles erklärende
Tatsache. So heisst denn eine wichtige Arbeit von Joseph Zubin,
der für die Renaissance der 'Vulnerabilität' massgebend
verantwortlich ist: »Vulnerabilität eine neue
Sicht der Schizophrenie« (Zubin/Spring 1977).
Der Begriff 'Vulnerabilität' wurde wahrscheinlich erstmals
in der Medizin des 18. Jahrhunderts verwendet (Schmidt-Degenhard
1988, S. 579). Karl Friedrich Canstatt spricht 1841 wohl als erster
ausdrücklich von psychischer 'Vulnerabilität' (Canstatt
1841). Und Ernst-Albert Zeller schrieb bereits 1838, dass tief
verwundende Ereignisse
... eine solche Verletzbarkeit und Verletzung in Leib
und Seele zurücklassen, dass sie auch lange nachher noch
zu einer Hauptveranlassung für die Entstehung einer Gemüthskrankheit
werden können. (Zeller 1838, S. 12)
Die 'Vulnerabilität' oder Verletzbarkeit wird also in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erworbene Disposition
verstanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt der Begriff ausser
Mode, um dann seit Beginn der 80er Jahre sehr beliebt zu werden.
Alles weist dabei darauf hin, dass in erster Linie eine
besondere Vulnerabilität vererbt wird, welche nur unter ungünstigen
Bedingungen zur manifesten Erkrankung führt. (Ciompi 1981,
S. 506)
Der Rückgriff auf die 'Vulnerabilität' soll den Mythos
von der Vererbung der 'endogenen Psychosen' retten. Zu dürftig
waren nun mal die Resultate der Zwillings- und Adoptionsstudien.
Schliesslich 'erkrankt' ein erheblicher Anteil (42 bis 86%) erbgleicher
'schizophrener' Zwillinge nicht; auch weisen manche 'Schizophrene'
überhaupt keine nachweisbare familiäre 'Belastung' auf
(ebd.). Die 'Vulnerabilität' ist ein »hypothetisches
Konstrukt« (Schmidt-Degenhard 1988, S. 582), das wiedereingeführt
wurde, um fragwürdige theoretische Konzepte zu retten.
Zudem haben verschiedene Autoren ihre eigene Meinung davon, was
denn 'Vulnerabilität' nun wirklich sei. Sie wird einerseits
als unspezifische Ich-Prädisposition beschrieben, andererseits
als spezifisch für 'Schizophrenie'. Daneben wird auch von
einer 'Vulnerabilität' gesprochen, die spezifisch sei für
'affektive Psychosen' ('manisch-depressive Erkrankung') und 'schizoaffektive
Psychosen' (sogenannte 'Mischpsychose', d.h. Mischform, in der
Züge der 'Schizophrenie' und der 'manisch-depressiven Erkrankung'
erkennbar sind). So bezeichnet 'Vulnerabilität' spezifische
Krankheitsdispositionen wie auch eine uncharakteristische Disposition
für verschiedene 'Erkrankungen', vergleichbar mit dem ebenfalls
unspezifischen Begriff der 'Degeneration' (ebd.).
Erstaunlich und aufschlussreich, was die psychiatrische Forschung
hier zustande gebracht hat: Die Vererbung der beiden Konstrukte
'Schizophrenie' und 'manisch-depressives Irresein' wird durch
den Rückgriff auf ein weiteres Konstrukt, die 'Vulnerabilität',
gerettet. Ein Konstrukt beglaubigt das andere.
Trotz der Misserfolge wird hektisch weitergeforscht
Fehlschläge vermögen die vom gentechnologischen Fieber
ergriffenen ForscherInnen in keiner Weise zu bremsen:
Heute kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass es
nicht 'den einen Marker' gibt, der eine der endogenen Psychosen
exakt charakterisiert. Vielmehr ist es vor allem aufgrund der
negativen Ergebnisse deutlich geworden, dass die Syndrome, die
unter einem Krankheitsbegriff wie endogene Depression oder
Schizophrenie zusammengefasst werden, Ausdruck sowohl biologisch
als auch genetisch verschiedener Krankheiten sein können.
Aber gerade durch Untersuchung biologischer Marker bietet sich
die Möglichkeit, homogene Untergruppen innerhalb dieser heterogenen
Krankheiten zu untersuchen. Vor allem eine Kombination der in
verschiedenen Forschungsrichtungen, wie Biochemie und Psychophysiologie,
erzielten Ergebnisse könnte besonders aussichtsreich sein.
(...) Auch die explosive Entwicklung auf dem Gebiet der Molekularbiologie
hat die Untersuchungsmöglichkeiten stark erweitert. (Bondy
u.a. 1988, S. 570)
Es wird immer schwieriger, die vielfältigen und unübersichtlichen
Resultate zu interpretieren. Doch die ForscherInnen lassen sich
nicht entmutigen. Am 'Mythos' der Vererbung der 'Geisteskrankheiten'
wird mit grosser Hartnäckigkeit festgehalten, wie gross die
Misserfolge der Untersuchungen, die ihn endgültig beweisen
sollen, auch immer sein mögen. Das ist heute nicht anders
als zur Zeit, in der Burt und Kallmann ihre fragwürdigen
Studien publizierten. Gleichgeblieben ist auch, dass bei allen
Untersuchungen, die sich mit der Vererbung psychischer 'Störungen'
befassen, der weltanschauliche Hintergrund der beteiligten Psychiater
und die gesellschaftspolitischen Bedingungen ihrer Tätigkeit
eine wichtigere Rolle spielen als objektive Tatsachen. Galton
und Lombroso, Forel und Bleuler wie auch Goodwin und die gentechnologisch
orientierten heutigen ForscherInnen gingen und gehen alle bei
der Formulierung ihrer Theorien von vorbestehenden festen Grundannahmen
aus (Rufer 1988, S. 56f.). Und diese Grundannahmen sind noch immer
wesentlich von Morel und Darwin bestimmt. Der forschende Blick
nimmt vor allem diejenigen Resultate wahr, die die Hypothesen
bestätigen. Allfällig unpassende Befunde werden solange
zurechtgebogen, bis sie den Erwartungen entsprechen. Und wo auch
das nicht mehr gelingt, wird die Annahme retouchiert, ergänzt,
ausgebaut und bis ins Unermessliche verkompliziert. Nur die Grundannahme
der Vererbung der 'Geisteskrankheiten' wird mit Sicherheit niemals
fallengelassen. Die zunehmend unverständlicher werdende Ausdrucksweise
führt dazu, dass es für Nicht-Fachleute immer schwieriger
wird, das 'neue' Fachgebiet zu durchschauen.
Es wird schon intensiv an die Zukunft gedacht, an die Zeit, in
der es möglich sein wird, die gesunden Träger der Gene
psychiatrischer 'Krankheiten' im Labor zu identifizieren. Herbert
Pardes vom New York State Psychiatric Institute:
Die Zeit naht, in der Arbeitgeber oder Versicherungsgesellschaften
genetische Tests verlangen. (...) Während oder nach der genetischen
Beratung werden Psychiater all ihre Sensibilität und ihr
Wissen gebrauchen, um Menschen in ihrer Verzweiflung zu helfen,
in die das genetische Wissen sie stürzen kann. (Pardes u.a.
1989, S. 442)
Es sei mit viel Stress verbunden, diese Tests über sich
ergehen zu lassen, deshalb müssten wirkungsvolle Unterstützung,
mit eingeschlossen Möglichkeiten der Krisenintervention,
stets für diese Menschen zur Verfügung stehen (ebd.).
Gesunde Menschen könnten Arbeitsstellen verlieren, stigmatisiert
werden, als wären sie AnstaltsinsassInnen. Pardes erkennt
die grosse Belastung, die diese Tests für die Betroffenen
bedeuten; dennoch beendet er seinen Artikel »Genetics and
Psychiatry« mit euphorisch klingenden Sätzen:
Von der heute zur Verfügung stehenden Technologie
konnte vor zehn Jahren kaum geträumt werden. Die Therapien
und präventiven Strategien, die am Entstehen sind, zielen
auf die wirkliche Wurzel der Krankheit, und Fortschritte stellen
sich weiterhin in einem Tempo ein, das zu hohen Hoffnungen für
die Zukunft ermutigt. (ebd.)
Die Fehler der Vergangenheit dürfen niemals wiederholt
werden
Wie eh und je tappt die Psychiatrie im Dunkeln. Die Unsicherheit
und Fragwürdigkeit ihrer Forschungsresultate und Theorien
hat sich trotz aller heute neu zur Verfügung stehenden Labortechnologie
in den letzten 150 Jahren kaum verändert. So ist es wenig
erstaunlich, dass in Science, einer renommierten wissenschaftlichen
Zeitschrift, 1987 eine vernichtende Aussage über die angebliche
'Krankheit Schizophrenie' zu lesen war:
Die Ursachen der Schizophrenie sind unbekannt, und keine
funktionellen oder strukturellen Veränderungen können
eindeutig mit der Krankheit verbunden werden. (Barnes 1987, S.
430)
Erstaunlich nur, dass die Psychiatrie trotz alledem bis heute
noch immer als Spezialdisziplin der Medizin relativ ernst genommen
wird und ihre Botschaft der biologischen Determiniertheit der
'Geisteskrankheiten' mit ihren fatalen Konsequenzen für die
Betroffenen ungestört verkünden kann.
Wie hier ausführlich gezeigt wurde, sind die Ergebnisse
der gentechnologisch ausgerichteten Forschung in keiner Hinsicht
überzeugend. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass in der
nahen oder ferneren Zukunft der grosse Durchbruch stattfinden
wird. Nein, er wird nicht stattfinden; und dennoch wird er mit
hoher Wahrscheinlichkeit wiederholt mit enormem Aufwand in den
Massenmedien verkündet und gefeiert werden, wie bereits 1987
anlässlich der Veröffentlichung der Amish-Studie. Der
1989 erfolgte Rückzieher der Gruppe von Egeland fand in den
Medien bezeichnenderweise kein Echo. (6)
Doch diese unsinnige Genforschung soll nicht nur Theorie bleiben.
Sie ist auf eine baldige, praktische Anwendung ausgerichtet. Es
besteht die Gefahr, dass auf Grund von Resultaten, die in keiner
Weise gesichert sind, nach GenträgerInnen gesucht wird, d.h.
dass in jeder Hinsicht gesunde und unauffällige Erwachsene
und auch Kinder als potentiell 'Kranke', als Menschen mit einem
»hohen Krankheitsrisiko« (Bondy u.a. 1988, S. 565) gestempelt
und entsprechend vorsorglich 'behandelt' werden. Für die
vorbeugende Behandlung steht in vielen Staaten und Regionen ein
entwickeltes sozialpsychiatrisches System bereit. Gleichzeitig
mit der Suche nach gesunden GenträgerInnen wird mit Sicherheit
die pränatale Identifizierung angegangen werden. Der moralische
Druck auf die werdenden Mütter, die Geburt eines möglicherweise
'kranken', 'behinderten', 'minderwertigen' Kindes durch eine Unterbrechung
der Schwangerschaft zu vermeiden, wird riesengross sein. Und dieser
Druck wird durch die Haltung von Versicherungsgesellschaften und
Krankenkassen unterstützt werden, die für den Fall einer
unterlassenen Untersuchung die Übernahme von psychiatrischen
Behandlungs- und anderen Folgekosten verweigern können.
Gleichzeitig sind in der Wissenschaft biologistische Vorstellungen
im Aufschwung. Die HumangenetikerInnen und GentechnologInnen können
ihre fragwürdigen Ziele mit nahezu ungebremstem Eifer verfolgen.
Antipsychiatrische Gedanken werden von der etablierten Psychiatrie
erbittert bekämpft. Neben den in grossem Ausmass verabreichten
Psychopharmaka werden seit Beginn der 80er Jahre weltweit wieder
vermehrt Elektroschocks durchgeführt (Rufer 1992). Angesichts
dieser furchteinflössenden Entwicklung muss unbedingt der
biologischen Psychiatrie, ganz besonders der gentechnologisch
ausgerichteten Forschung, der Geldhahn zugedreht werden. Weder
die Behandlungsmethoden der biologischen Psychiatrie Psychopharmaka
und Elektroschock noch Schwangerschaftsunterbrechungen
und Sterilisierungen dürfen zur Lösung gesellschaftlicher
Probleme eingesetzt werden. Es muss unbedingt vermieden werden,
dass die Fehler einer Entwicklung, die ausgehend von der Degenerationstheorie
Morels und dem Sozialdarwinismus bis zu den 'Euthanasie'-Aktionen
im NS-Staat führten, in modernisierter Form wiederholt werden.
Anmerkungen
(1) Charles Darwins (1809-1882)
Prinzip der 'natürlichen Auslese' wurde von den Sozialdarwinisten
auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Die bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse gelten als Resultat eines
biologischen Ausleseprozesses: Im 'Kampf ums Dasein' überleben
nur die 'Tüchtigen'. Die Begünstigung der 'Untüchtigen'
durch soziale Fürsorge und Medizin steht dagegen im absoluten
Widerspruch zum Prinzip der 'Selektion' und der 'natürlichen
Auslese'. Eine Begünstigung der 'Untüchtigen' würde
eine Verschlechterung der Art bedeuten. Das Gesetz der Auslese
im Kampf ums Dasein dürfe auf keinen Fall durch ethische
Überlegungen verwässert werden.
(2) Der Begriff 'Erbpsychiatrie'
hatte bis in die 40er Jahre dieses Jahrhunderts keine negative
Bedeutung. Manfred Bleuler verwendete ihn noch 1942 mehr oder
weniger wertfrei (M. Bleuler 1942; s. auch Rufer 1987, S. 61;
Rufer 1991, S. 109).
(3) Sämtliche Übersetzungen
aus englischsprachigen Quellen stammen von mir.
(4) 'Marker' sind einerseits
Messdaten, die im Blut von Menschen, die an einer bestimmten Krankheit
leiden, nachweisbar sind, andererseits Veränderungen im DNS-Code
(Reihenfolge der Basen innerhalb des Desoxyribonukleinsäuremoleküls),
die es erlauben, Menschen mit hohem Krankheitsrisiko sogar im
Zustand der uneingeschränkten Gesundheit zu identifizieren.
(5) Verschiedene Organisationen
Schwarzer und international anerkannte Wissenschaftler, unter
ihnen der bekannte Psychiatrie-Kritiker Peter R. Breggin, hatten
diese Konferenz und ihre Stossrichtung mit harten Worten kritisiert
(Breggin 1992a u. 1992b). Danach musste sie auf unbestimmte Zeit
hinaus verschoben werden, weil das NIH die versprochenen $ 78000
einfror (Breggin/Ross-Breggin 1993). Ein erfreuliches Ereignis
in einer Zeit, wo leider für die Eliminierung von sozialen
Problemen bevorzugt biologische Lösungen angestrebt werden.
(6) Im Gegenteil, in
PMS Aktuell, der Zeitschrift der schweizerischen Stiftung
Pro Mente Sana, die für die Rechte der 'psychisch Kranken'
eintreten will, wurden noch im Herbst 1992 in einem Artikel unkorrigiert
die bereits 1989 widerrufenen Resultate der Amish-Studie aus dem
Jahre 1987 wiedergegeben (»Zeitalter« 1992).
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Vol. 86, Nr. 2, S. 103-126
Über den Autor
Arzt, Psychotherapeut. Nach Abschluss meines Medizinstudiums
arbeitete ich als Assistenzarzt in einer grossen staatlichen Psychiatrischen
Anstalt. Von Anfang an tat ich mich sehr schwer mit der psychiatrischen
'Diagnostik' und 'Behandlung' von psychischen 'Störungen'.
Den Schritt zur Kritik der Psychiatrie als Ganzes machte ich erst
nach einer Zeit der intensiven Auseinandersetzung. Mit meinen
beiden Büchern und vielen Zeitschriften- und Zeitungsartikeln
versuche ich, Psychiatrie-kritische Gedanken öffentlich zu
machen. Buchveröffentlichungen: "Irrsinn Psychiatrie", Bern:
Zytglogge 1988; "Wer ist irr?", Bern: Zytglogge 1991. (Stand:
1993) Mehr
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© 1993 by Marc Rufer
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