Interview mit Peter Lehmann
Der Bunte Spleen: Peter Lehmann: Doch auch andere Sachen haben sich nicht verbessert:
Es gäbe noch mehr zu sagen: Es wird immer noch strukturell ohne ausreichende informierte Zustimmung behandelt. Die Verursachung von Selbsttötungen durch Neuroleptika wird nach wie vor tabuisiert. Es gibt keine institutionellen Hilfen für Menschen, die Neuroleptika oder Antidepressiva absetzen wollen. Wer sich ein wirklich gutes Bild über verschiedenste Psychiatrieentwicklungen, z.B. biologische, gemeindenahe oder psychologisch-daseinsanalytische Psychiatrie machen möchte, dem bzw. der empfehle ich das zauberhafte Buch von Kerstin Kempker, "Mitgift Notizen vom Verschwinden", meiner Meinung nach das aussagefähigste Buch über Psychiatrie überhaupt darüber, wie man darin untergehen kann und welche Heerscharen von Schutzengeln man braucht, um dieses krankmachende System systematischer Vorenthaltung von Hilfeleistung zu überleben. Eine der wesentlichen Neuerungen sind die sogenannten atypischen Neuroleptika, die es seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt und nun, wo neue Varianten entwickelt wurden, als der letzte Schrei gelten. Ihre Schädlichkeit ist auf den ersten Blick nicht mehr so gravierend, weil auf breiter Ebene die Rezeptoren unterdrückt werden. Das bedeutet, dass Störungen gleichzeitig produziert und deren Entäußerungen kaschiert werden. Psychiater wie Hans-Joachim Haase beurteilen die Leponex-ähnlichen Neuroleptika wie z.B. Zyprexa nicht als neu, sondern vergleichen deren Wirkung lediglich mit der Kombination aus typischen Neuroleptika wie z.B. Haldol und Antiparkinsonmitteln wie z.B. Akineton. Es sind schon eine Reihe gravierender Schäden von sogenannten atypischen Neuroleptika bekannt geworden, wie chronische Muskelstörungen z.B. bei Risperdal. Einzelne Substanzen sind bereits wieder vom Markt genommen worden, z.B. wegen tödlicher Blutbildschäden. Aber von Leponex abgesehen sind diese Mittel neu, und sie sind vor allem teuer. Die Patente bestehen, die Substanzen können sehr teuer verkauft werden und tragen ihren Teil dazu bei, dass die Gelder im Gesundheitswesen rar werden und speziell für Selbsthilfe überhaupt kein Geld da ist. Von der Chronifizierung psychischer Probleme durch unterlassene angemessene psychosoziale Hilfe, die Produktion körperlicher Langzeitschäden durch Psychopharmaka und horrende Kosten durch Frühpensionierung und Betreuungsbedarf will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Für Deutschland ergibt sich im internationalen Vergleich eine extrem beschämende Situation der Selbsthilfe. Es gibt nahezu kein Geld oder höchstens Almosen im Vergleich zu den Milliarden die in der Gesundheitsindustrie verpulvert werden. Im Ausland, z.B. in Großbritannien, wird Selbsthilfe auf breiter Basis finanziell unterstützt, dort gibt es Betroffenenforschung, viele bezahlte Vollarbeitsplätze für Psychiatriebetroffene, deren Insiderwissen durch die Regierung anerkannt und genutzt wird. Der Bunte Spleen: Peter Lehmann: Im Grunde ist das eine vorauseilende Zustimmung zur Zwangsbehandlung und schwächt für einen möglichen Streitfall die Rechtsposition, die so wie so schon katastrophal ist. Die Behandlungsvereinbarung ist eigentlich nur für diejenigen sinnvoll, die Psychiatern vertrauen. Ich gehöre nicht dazu. Ursprünglich sollte die Behandlungsvereinbarung "Behandlungsvertrag" heißen. Als sich aber herausgestellt hatte, dass keinerlei Rechtswirksamkeit vorhanden ist, hat man das ganze, auch nach Einwänden des BPE, in "Vereinbarung" umbenannt. In der ursprünglichen Form gab es eine einzige verpflichtende Erklärung der Psychiater, nämlich dass sich Anstaltssozialarbeiter um den Erhalt der Wohnung kümmern, sollte jemand in die Psychiatrie kommen. Dazu gab es ein Rechtsgutachten, wonach Regressansprüche drohen, sollten Sozialarbeiter nicht entsprechend einer solchen Vereinbarung tätig werden und die Wohnung futsch geht. Daraufhin wurde diese Passage wieder herausgenommen. Ich bevorzuge ein Psychiatrisches Testament, eine Willenserklärung, wo ich reinschreibe, was ich will. Ich will den Schutz meiner Menschenrechte, wie sie auch durch die Verfassung und durch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen geschützt sind zumindest auf dem Papier. Ich will, dass mein Recht auf körperliche Unversehrtheit geschützt ist. Ich sehe bei Psychiatern im allgemeinen nicht, dass sie die Menschenrechte schützen, denn jede Behandlung ohne informierte Zustimmung ist an sich eine strafbare Körperverletzung. Ich möchte das Recht haben auf angemessene Hilfe, sollte ich Probleme haben und Hilfe wollen. Im allgemeinen sehen das andere Betroffene auch so. Wer im Fall des Falles zwangsbehandelt werden will, kann sich dies ja durch eine Vorausverfügung vorher wünschen. Dies ist im übrigen die Rechtslage in der Medizin, und wer immer von Gleichstellung von sogenannten psychisch Kranken redet, sollte sich zuerst einmal um eine rechtliche Gleichstellung kümmern. Aber mit medizinischen Mitteln lassen sich keine psychischen Probleme sozialer Natur lösen, das kann vom Ansatz her nicht funktionieren. Da wünschte ich mir schon, dass Psychiater die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten sehen, ich weiß, es ist ein frommer Wunsch, oder vielleicht eher, dass Politiker das sehen und vorhandene Gelder umwidmen für Selbsthilfe Alternativen zur Psychiatrie und nichtpsychiatrische Hilfen. Zur Psychiatrieentwicklung der Zukunft gab es 1999 in Brüssel eine Konsensuskonferenz der Weltgesundheitsorganisation, der Europäischen Kommission und verschiedener europäischer und nationaler Regierungen und Verbänden. Ich war als Vertreter des Europäischen Netzwerks Psychiatriebetroffener dabei. Dort wurde beschlossen, dass in der Psychiatrieentwicklung verschiedene Punkte berücksichtigt werden sollen:
Ich habe dieses Konsensuspapier von Brüssel ins Internet gestellt, Ihr findet es auf im Internet unter www.peter-lehmann-publishing.com/articles/others/consensus.htm. Der Bunte Spleen: Peter Lehmann: Es gibt ja in allen Ländern Probleme, wenn sich Vertreter von Psychiatriebetroffenen mit nichtssagenden Zugeständnissen zufrieden geben und sich auf gleicher Augenhöhe mit Psychiatern wähnen, wenn diese mal huldvoll auf ihre Katzentische herunterblicken. Durch die Schaffung einer eigenen Definitionshoheit wollen Sozialpsychiater das emanzipatorische Potential der Empowermentidee zunichte machen. Empowerment, so die Definition von Betroffenen selbst, bedeutet etwas ganz anderes. Empowerment heißt:
Während einige Psychiatriebetroffene die Entmachtung, die der Empowerment-Idee vorausgeht, von vornherein ablehnen und deshalb auch sämtliche Konzepte der Wiederbemächtigung, versuchen sozialpsychiatrisch Tätige, sich der Idee zu bemächtigen, wobei sie Definitionen Psychiatriebetroffener zur Idee des Empowerments völlig verschweigen oder sie für ihre Zwecke uminterpretieren. "Geld und Rechte", darauf kommt es an, daran misst sich ein echter Fortschritt. Dagegen ist alles andere nur Worte. Der Bunte Spleen: Peter Lehmann:
Vieles an der Psychiatrie sei überflüssig: Für eine Reihe von Psychiatriebetroffenen ist die Psychiatrie samt Psychiatern insgesamt überflüssig. BPE-Mitglieder, die von einer Reformierbarkeit der Psychiatrie ausgingen, fanden folgende Faktoren überflüssig: Gewalt, den Einsatz von Psychopharmaka, Zwangsmaßnahmen, Elektroschocks, Fixierung. Überflüssig seien Ärzte, die besser über ihre Patienten Bescheid zu wissen glauben als diese selbst. Und Alternativen seien wichtig, um den Betroffenen Wahlmöglichkeiten zu geben. Was die Frage betrifft, wie diese Alternativen aussehen sollen, wurden unter anderem folgende Vorschläge und Ideen genannt: alternative Psychopharmaka, z.B. homöopathische Mittel, Selbsthilfe, Weglaufhäuser, Alternativen nach Mosher und Laing, weiche Zimmer à la Soteria. Ich bin gespannt, was der Vorstand des BPE unternimmt, um im Rahmen seiner Möglichkeiten die Forderungen der Mitglieder des Verbands umzusetzen, auch und insbesondere die psychiatriekritischen. Der Bunte Spleen: |