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des Antipsychiatrieverlags
Vortrag bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Sozialpsychiatrie, Berlin, 2. November 2000; in: Soziale Psychiatrie
(Köln), 25. Jg. (2001), Nr. 1, S. 10-14; / ungekürzt abgedruckt
in:
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Peter
Lehmann
Blinde Flecken in der sozialpsychiatrischen Wahrnehmung
Soziale Psychiatrie ist für mich die Summe der psychiatrischen
Bestrebungen, über die rein biologische Psychiatrie hinaus
soziale Aspekte in die sogenannte psychiatrische Versorgung einzubeziehen
in Theorie und Praxis bzw. das psychiatrische Behandlungsarsenal
mit sozialtherapeutischen Methoden aufzustocken.
Es geht mir hier nicht um eine Begriffsdiskussion, sondern darum,
was ich bei diesen Bestrebungen vermisse und was viele andere
Psychiatriebetroffene ebenfalls vermissen. Ich gestehe: Ich lese
nicht alle Publikationen des Psychiatrieverlags und anderer einschlägiger
Medien. Gerne lasse ich mir blinde Flecken in der eigenen Wahrnehmung
nachsagen, sollte ich in meinen folgenden Ausführungen nicht
up to date sein. Meine Themen sind:
-
tardive Dyskinesien bei traditionellen Neuroleptika
-
tardive Psychosen und vegetative Schäden bei atypischen
Neuroleptika
-
Generelle Neuroleptikarisiken: Brustkrebs, Suizidalität,
Abhängigkeit
-
Keine Aufklärung über Risiken und Schäden,
keine Auseinandersetzung, nicht einmal ein Bewusstsein über
E-Schock- und Insulinkoma-Folgen
-
Rechtlosigkeit am Beispiel von Heimverträgen
-
Unersättlichkeit sozialpsychiatrischer Zuständigkeit
Blinder Fleck Nr. 1:
Tardive Dyskinesien bei traditionellen Neuroleptika
Klaus Dörner, Deutschlands führender Sozialpsychiater,
sagte gemeinsam mit Ursula Plog in »Irren ist menschlich«
über Neuroleptika:
»Wir verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend
in einen hirnorganisch kranken Menschen, bei der EKT nur globaler,
dafür kürzer als bei der Pharmako-Therapie.«
(Dörner / Plog 1992, S. 545)
Die mitnichten immer nur vorübergehende Wirkung
dieser Behandlung sehen Sie an Darstellungen tardiver Dyskinesien,
bei Frauen, bei Männern, bei Versuchsaffen (siehe: Lehmann
1996b, S. 213-240).
Umfang
Über die Häufigkeit von tardiven Dyskinesien wurde
schon viel gesagt. Gerade die sozialpsychiatrisch Tätigen
aus Berlin werden die Studie von Wolfgang Kaiser und Kollegen
über eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch Behandelter und
zum Teil in betreutem Einzelwohnen oder therapeutischen
Wohngemeinschaften Lebender kennen, veröffentlicht
1991 im Nervenarzt, der im ambulanten Bereich eine
Häufigkeit von 59% ermittelte. Dabei wurde bei dieser Studie
noch nicht einmal die symptomkaschierende Wirkung der weiterverabreichten
Neuroleptika in Betracht gezogen. Von den untersuchten Betreuten
wurden 265 von niedergelassenen Nervenärzten behandelt und
verließen deren Praxen mit einer 96,2%-igen Wahrscheinlichkeit
unter Neuroleptikaeinfluss. Die Institutsambulanz der Anstalt
Berlin-Spandau verabschiedete ihre 108 Stichproben in 94% aller
Fälle mit Neuroleptika. Ergebnis: 21% der Langzeitbetreuten
entwickelten eine tardive Dyskinesie leichter Form, 18% in mittlerer
und 20% in schwerer Ausprägung (vgl. Lehmann 1996b, S. 258).
In einem Aufsatz von 1976 nannte Rudolf Degkwitz eine Zahl von
70% der längerfristig, in diesem Fall über zehn Jahre
Behandelten, die unter tardiven Dyskinesien leiden. Diese Störungen
würden um so wahrscheinlicher und stärker, je länger
die Betroffenen der psychiatrischen Behandlung ausgesetzt sind
(vgl. ebd.)
Risikofaktoren
Die Bedingungen, die eine Langzeitbehandlung besonders begünstigen,
sind Depotneuroleptika und Compliance, die Unterwerfung des Patienten
unter das therapeutische Regime des Psychiaters. In ihrer Verbindung
führen beide Faktoren dazu, dass die eigene Willensbildung
stark eingeschränkt und damit auch die Entscheidung erschwert
wird, die Behandlung zu verweigern oder verminderte Dosierungen
einzufordern. Der Weg zur tardiven Dyskinesie ist vorgezeichnet.
Peter Müller, Unianstalt Göttingen, sagte,
»... dass mit zunehmender Verwendung von Depot-Neuroleptika
die Späthyperkinesen zunehmen. Dies kann man sicher nicht
dem Depot-Neuroleptikum an sich zuschreiben, aber eben der konsequenten
Verabreichung der Neuroleptika. Ich glaube, das Problem ist
nicht nur eine Dosisfrage, sondern eine Frage, wie gehen wir
Ärzte damit um, wie lange dosieren wir und wie konsequent.«
(vgl. Lehmann 1996b, S. 232)
Die Haldol-Herstellerfirma McNeil Pharmaceutical 1988 in den
Archives of General Psychiatry im Kleingedruckten
ihrer Werbeanzeige:
»Warnungen: Tardive Dyskinesie, ein Syndrom, das aus möglicherweise
irreversiblen unfreiwilligen dyskinetischen Bewegungen besteht,
kann bei Patienten auftreten, die mit antipsychotischen Mitteln
behandelt worden sind. Obwohl die Verbreitung des Syndroms bei
älteren Menschen, speziell bei älteren Frauen, am
höchsten zu sein scheint, ist es unmöglich, eine Beziehung
zur Verbreitung überhaupt herzustellen und zu Beginn einer
antipsychotischen Behandlung vorherzusagen, welche Patienten
das Syndrom entwickeln könnten. Ob antipsychotische Medikamente
sich in ihrem Potential unterscheiden, tardive Dyskinesie zu
verursachen, ist unbekannt. Man geht davon aus, dass mit der
Dauer der Behandlung und der sich summierenden Gesamtdosis der
verabreichten antipsychotischen Medikamente beim Patienten das
Risiko steigt, eine tardive Dyskinesie zu entwickeln; ebenso
nimmt die Möglichkeit zu, dass die tardive Dyskinesie irreversibel
wird. Jedoch kann sich das Syndrom wenn auch viel seltener
selbst nach relativ kurzen Behandlungsperioden mit niedrigen
Dosen entwickeln.« (vgl. ebd., S. 231)
In dem Buch »Therapie mit Neuroleptika« äußerte
sich Degkwitz drastisch zu den vielen optimistischen Berichten
über die Erfolge von Neuroleptikaverabreichungen:
»Die durch die Depot-Neuroleptika zu erreichende perfekte
Compliance erhöht meines Erachtens die Gefahr der Nebenwirkungen...«
(vgl. ebd., S. 233)
Zu vermuten sei, so Hans-Jürgen Möller,
»... dass in dieser Gruppe Arzneimittelkumulation und
bessere Compliance eine Intoxikation begünstigen.«
(vgl. ebd.)
Gemeindepsychiatrisch Tätige setzen dagegen schon seit Jahrzehnten
auf eine optimale Compliance und auf eine pausenlose Verabreichung
von Neuroleptika. Schon 1961 forderte der Psychiater Harald Neumann
gemeindenahe Außenstellen:
»Die frühere Möglichkeit, im Rahmen der nachgehenden
Anstaltsfürsorge verlässliche Unterlagen zu sammeln,
ist ja noch nicht wieder möglich, da man gerade eine Außenfürsorge
aufzubauen beginnt. Im Vorgriff auf die weiteren Ausführungen
sei vermerkt, dass in Zukunft wahrscheinlich die Hauptaufgabe
jeder nachgehenden Fürsorge der Psychiatrischen Landeskrankenhäuser
sein wird, die Dauermedikation entlassener schizophrener Kranken
zu überwachen, um möglichst viele Kranke draußen
halten zu können.« (Neumann 1961, S. 328f.)
Otfried Linde aus der Pfalz-Klinik Landeck betonte,
dass
»... eine verlässliche depotneuroleptische Behandlung
die conditio sine qua non (unerlässliche Voraussetzung)
für eine extramurale (außerhalb der Anstaltsmauern
vollzogene) Therapie« (Linde 1976, S. 21)
sei. Der Wiener Psychiater Raoul Schindler freute sich:
»Der Vormarsch der Depot-Neuroleptika ermöglicht
grundsätzlich eine fast 100%ige Nachbehandlungsdisziplin...«
(Schindler 1976, S. 347)
Frage: Ist die Sozialpsychiatrie blind gegenüber der
massiven Schädigung von Betroffenen z.B. durch tardive Dyskinesien?
Blinder Fleck Nr. 2:
Tardive Psychosen und vegetative Schäden bei atypischen Neuroleptika
Tardive Psychosen
Tardive Psychosen sind Psychosen, die im Lauf der Verabreichung
von Neuroleptika, beim Absetzen oder danach auftreten behandlungsbedingt.
Dass Psychosen auch unabhängig von Neuroleptika auftreten,
setze ich als bekannt voraus. Die genannte Störung, die als
besonderes Risiko bei atypischen Neuroleptika gilt, gehen
wie auch tardive Dyskinesien zurück auf behandlungsbedingte
Veränderungen des Rezeptorensystems. Als Ursache vermutet
man Veränderungen von Dopamin-D1- und -D4-Rezeptoren, speziellen
Dopaminrezeptoren-Subtypen. Durch die herkömmlichen Neuroleptika
werden speziell Dopamin-D2-Rezeptoren beeinträchtigt, was
als mittel- und langfristiges Risiko eher eine tardive Dyskinesie
bewirkt (siehe: Lehmann 1996a, S. 100).
Eine besondere Stellung unter Neuroleptika nimmt schon immer
Clozapin (Leponex) ein. Urban Ungerstedt und Tomas Ljungberg waren
Mitarbeiter der Histologischen Abteilung des Karolinska Instituts
in Stockholm. In der Zeitschrift Advances of Biochemical
Psychopharmacology stellten sie 1977 fest, dass Clozapin
bei Versuchsratten besonders stark auf die limbischen Dopaminrezeptoren
wirkt:
»Klinische Erfahrung lässt erkennen, dass Clozapin
spezifischer als Haloperidol bei der Behandlung
der Psychose sein kann. Unsere Verhaltensdaten zeigen, dass
diese Besonderheit des Clozapin auf seine vergleichsweise
stärkere Hemmung von limbischen Dopaminrezeptoren zurückzuführen
ist. Diese Rezeptoren können somit am ehesten etwas mit
der Entwicklung der Supersensitivität nach chronischer
Clozapinbehandlung zu tun haben. Das Gegenstück zu tardiven
Dyskinesien nach chronischem Haloperidol kann somit die Potenzierung
von psychotischem Verhalten nach chronischem Clozapin sein!
Diese Ergebnisse werfen augenfällig ernste Fragen auf hinsichtlich
der Strategie für den Versuch, neue, wirksame antipsychotische
Medikamente zu finden. Wird ein Medikament, das spezifische
Rezeptoren blockiert, eine spezifische Rezeptorensupersensibilität
und somit spezifische Nebenwirkungen verursachen,
d.h. die Krankheit selbst potenzieren?« (zitiert nach:
Lehmann 1996a, S. 102f.)
In Schweden, wo man atypische Neuroleptika intensiv einsetzte,
wurden bei einer ganzen Reihe von Betroffenen nach dem Absetzen
von Clozapin psychotische Symptome in einer Stärke festgestellt,
die vorher nicht vorhanden war.
Mit dem Entstehungsverlauf neuroleptikabedingter Supersensitivitätspsychosen
hatten sich der Pharmakologe Guy Chouinard und Kollegen der Uni-Anstalt
Montreal befasst. Er zeigte, wie die Symptome erstmals auftreten
bei der Dosisverringerung, nach einigen Wochen der Verabreichung,
mit Begleiterscheinungen, speziell mit Prolaktinerhöhung
und Sexualstörungen, Toleranz gegenüber dem Wirkstoff
bildet sich, man erhöht die Dosis, ein Teufelskreis...:
-
Die Symptome treten dann auf, wenn man die Neuroleptika
absetzt oder die Dosis verringert...
-
Die Psychose tritt nur auf, wenn man mindestens einige Wochen
Neuroleptika verabreichte.
-
Man trifft auf begleitende Zeichen einer gesteigerten Empfindlichkeit
der Dopaminrezeptoren...
-
Das Syndrom geht einher mit hohen Spiegeln des Hormons Prolaktin,
die Folge der nötigen verstärkten Blockade der Dopaminrezeptoren
sind, um die aufgetretenen psychotischen Symptome zu kontrollieren.
Hohe Prolaktinspiegel führen im Regelfall zu Sexualstörungen.
-
Es tritt eine Toleranzentwicklung gegenüber der sogenannten
antipsychotischen Wirkung auf, d.h. die Dosis muss erhöht
werden, um die ursprüngliche Wirkung aufrechtzuerhalten.
-
Wie bei der tardiven Dyskinesie lassen sich die Symptome
am wirksamsten unterdrücken durch die weitere Verabreichung
von Neuroleptika den Substanzen, die den Schaden verursacht
haben.
-
Wie bei der tardiven Dyskinesie gibt es verschiedene Stadien
der Syndromentwicklung: im ersten Stadium entsprechend der
Entzugsdyskinesie eine kurz andauernde Supersensitivitätspsychose,
die sich spontan zurückbildet. Im zweiten Stadium, wenn
sie erneut auftritt, kann man sie mit Neuroleptika noch kontrollieren.
Im dritten Stadium schließlich bewirken Neuroleptika
überhaupt nichts mehr, die entstandene Psychose ist irreversibel
(siehe: ebd., S. 100).
Vegetative Risiken
Atypische Neuroleptika sind nicht neu, siehe Leponex. Eine Vielzahl
erprobter Substanzen kam nicht einmal auf den psychiatrischen
Markt, was schon einiges über die Giftigkeit aussagt, z.B.
Fluperlapin. Nichtsdestotrotz werden atypische Neuroleptika als
nebenwirkungsarm angepriesen, wobei hauptsächlich auf die
vermeintlich verminderte Fähigkeit dieser Substanzen Bezug
genommen wird, Muskelstörungen zu bewirken. Remoxiprid (Roxiam)
war als modernes atypisches Neuroleptikum 1991 als »Rose
ohne Dornen« angekündigt worden, d.h. als gut verträgliches
Medikament ohne Nebenwirkungen. Drei Jahre später wurde es
allerdings von der Herstellerfirma wieder vom Markt genommen:
wegen einer Reihe von lebensgefährlichen Fällen aplastischer
Anämie, das ist Blutarmut mit Verminderung der roten und
weißen Blutkörperchen, beruhend auf einem Defekt im
blutbildenden System (siehe: Lehmann 1996b, S. 133). Ein anderes
Beispiel ist Sertindol (Serdolect), das lange als nebenwirkungsarm
galt. Im November 1998 fand sich im Internet in medizinischen
Datenbanken noch der Begriff nebenwirkungsfrei. Am 2.12.98 meldete
dann die Ärzte Zeitung:
»Vertrieb von Serdolect(R) gestoppt Anlass sind
schwere kardiale Nebenwirkungen und Todesfälle«
Risperidon (Risperdal) ist ein weiteres atypisches Neuroleptikum,
das die Lebensqualität erhöhen und die Reintegration
ins gesellschaftliche Leben erleichtern soll. »Zurück
ins Leben«, »Anna ist wieder da« (Janssen-Cilag/Organon
1997, S. A2), so oder ähnlich lauten die Werbesprüche.
In der Medical Tribune vom 26. Mai 2000 lobte Dieter
Naber aus Hamburg Risperidon als »gut verträgliches
Medikament« (Naber 2000). Aber nicht nur Anna ist wieder
da; auch tardive Dyskinesien sind wieder da. Just am gleichen
26. Mai 2000 wurde in Philadelphia/USA der Psychiatriebetroffenen
Elizabeth Liss 6,7 Millionen US-Dollar Schmerzensgeld zugesprochen,
zahlbar vom behandelnden Psychiater. Frau Liss war nach vierzehnmonatiger
Verabreichung von Risperdal an tardiver Dyskinesie erkrankt, Unterform
tardive Dystonie in Form von Krämpfen der Gesichts- und Nackenmuskulatur
(vgl. Breggin 2000).
Atypische Neuroleptika stehen generell unter dem Verdacht, insbesondere
vegetative Störungen wie z.B. Neuroleptische Maligne Syndrome
und Leberstörungen zu produzieren.
Fragen: Wo bleibt die Auseinandersetzung über das Thema
behandlungsbedingte Chronifizierung von Psychosen? Wieso werden
die Betroffenen (und vielleicht auch das Personal) nicht über
diese Risiken aufgeklärt? Ist die Sozialpsychiatrie blind
gegenüber diesen Risiken?
Blinder Fleck Nr. 3:
Neuroleptikaschäden allgemein: Brustkrebs, Suizidalität,
Abhängigkeit
Brustkrebsrisiko
Nicht nur bei Nagetieren, auch beim Menschen senkt die neuroleptikabedingte
Blockade von Dopamin die natürliche, hemmende Wirkung auf
die Absonderung des Hormons Prolaktin, so dass dessen Konzentration
im Blut ansteigt. Eine wichtige Rolle bei der Prolaktinfreisetzung
spielen Dopaminrezeptoren. Deren Beeinflussung gilt als kleinster
gemeinsamer Nenner aller Neuroleptika (vgl. Lehmann 1996b, S.
48).
Prolaktin ist ein Hormon, das bei Männern wie bei Frauen
die Sexualhormonregelung im Hypothalamus beeinflusst, einem speziellen
Hirnzentrum, und in der Hirnanhangdrüse.
In den USA müssen seit 1978 Informationszettel zu Neuroleptika
einen Warnhinweis enthalten, dass diese bei Nagetieren Geschwulstbildungen
in den Brustdrüsen hervorrufen können, wenn sie langzeitig
in der Dosierung verabreicht werden, die in der psychiatrischen
Dauerbehandlung üblich ist (vgl. ebd., S. 49). Uriel Halbreich
und Kollegen der Gynäkologischen Abteilung der State University
of New York in Buffalo ließen Mammogramme von 275 weiblichen
Psychiatriebetroffenen mit Mammogrammen (röntgenologische
Darstellungen der weiblichen Brüste) von 275 Frauen, die
älter als 40 Jahre waren und die zwischen 1988 und 1993 im
Buffalo Psychiatric Center Insassinnen waren, mit Mammogrammen
von 928 Patientinnen des Erie County Medical Center, einem Allgemeinkrankenhaus.
1996 teilten sie im American Journal of Psychiatry
ihre Ergebnisse mit:
»Das Vorkommen von Brustkrebs, das durch Krankenberichte
dokumentiert ist, war bei den psychiatrischen Patientinnen um
mehr als das 3,5fache höher als bei den Patientinnen des
Allgemeinkrankenhauses und 9,5mal höher, als man es von
der Durchschnittsbevölkerung berichtet. Schlüsse:
Falls bestätigt, könnte das befürchtete höhere
Brustkrebsvorkommen unter den psychiatrischen Patientinnen den
Medikamenten geschuldet sein...« (zitiert nach: Lehmann
1996b, S. 52)
Suizidalität
Frank Ayd von der Psychiatrischen Abteilung des Franklin Square
Hospital in Baltimore schrieb:
»Es besteht nun eine allgemeine Übereinstimmung,
dass milde bis schwere Depressionen, die zum Suizid führen
können, bei der Behandlung mit jedem Depotneuroleptikum
auftreten können, ebenso wie sie während der Behandlung
mit jedem oralen Neuroleptikum vorkommen können.«
(zitiert nach: Lehmann 1996a, S. 71)
Statistische Angaben über neuroleptikabedingte Suizide sind,
wie Psychiater selbst schreiben, aus vielerlei Gründen viel
zu niedrig angesetzt. Solche Behandlungsverläufe würden
von Medizinern nicht als Wirkungen der verabreichten chemischen
Substanzen erkannt oder beachtet (siehe: ebd., S. 111). Dass die
Dunkelziffer von Suiziden auch in Psychiatrischen Anstalten immens
ist, offenbarte Finzen; dies sei allerdings von außen schwer
festzustellen, weil
»... in Krankengeschichten und Entlassungsbüchern
oft kein Vermerk über den Tod oder den Suizid der Patienten
zu finden war. Wenn sich der Suizid während eines Urlaubs
ereignet hatte, wurde er nicht selten rückwirkend entlassen.
Wenn der Suizidversuch nicht zum sofortigen Tod geführt
hatte, galt er für das Krankenblatt und die Statistik als
verlegt in die Innere oder in die Chirurgische Klinik.«
(zitiert nach: ebd.)
Finzen beschrieb seinen Eindruck,
»... dass Patientensuizide gehäuft an Kliniken vorkommen,
denen ich zunächst eine hervorragende Behandlungsqualität
bescheinigen würde...« (zitiert nach: ebd., S. 120),
z.B. modernen Uni-Anstalten, nicht etwa bloßen Verwahrstationen:
»Auch Beobachtungen aus meinem jetzigen Arbeitsfeld legen
eher eine Umkehrung nahe: Die Suizidrate ist in therapeutisch
inaktiven Bereichen unseres Krankenhauses niedrig, in therapeutisch
aktiven eher hoch.« (zitiert nach: ebd.)
In Übereinstimmung mit diesen Einschätzungen stehen
Berichte über besonders hohe Suizidraten auf Rehabilitationsstationen
und in Übergangseinrichtungen, z.B. sogenannten Nachtkliniken
(siehe: ebd.).
Peter Müller von der Uni-Anstalt Göttingen fand in seiner
placebokontrollierten Untersuchung bei einem weit höheren
Prozentsatz depotneuroleptischer Behandelten depressive Syndrome
hochsignifikant häufiger als bei den Placebobehandelten.
Über die Ergebnisse nach Verminderung oder Absetzen der Neuroleptika
schrieb er:
»Bei insgesamt 47 Behandlungsmaßnahmen kam es in
41 Fällen zu einer Besserung der depressiven Verstimmung,
nur in zwei Fällen gab es keine Veränderung, bei vier
war der Effekt fraglich. Es war sehr überraschend festzustellen,
dass allein die Reduzierung der neuroleptischen Dosis (in der
Regel auf die Hälfte der bisherigen Gabe) in der überwiegenden
Zahl dieser Fälle schon zur Besserung des depressiven Syndroms
führte, allerdings oft nur zu einer Teilbesserung, die
aber immerhin den Patienten schon deutlich entlastete. Demgegenüber
brachte das gänzliche Absetzen bei anderen Patienten oder
bei den gleichen Patienten, bei denen eine Dosisminderung nur
zur geringen Besserung führte, einen sehr eindrücklichen
Erfolg hinsichtlich der Depressionsbesserung. Manche Patienten
berichteten, dass sie sich erst jetzt wieder völlig gesund
fühlten wie lange vor der Erkrankung, und die von manchen
Ärzten fast als unveränderlich angesehene depressive
Bedrückung, die eventuell für Vorboten defektuöser
Entwicklungen hätte gehalten werden können, verschwand
gänzlich.
Der mögliche Einwand, es könne sich hierbei um psychoreaktive
Effekte im Sinne der Erleichterung des Patienten über das
Absetzen der Medikation handeln, ist zu widerlegen, da fast
alle Patienten Depot-Injektionen erhielten und über die
Dosis dann nicht informiert wurden bzw. Placebo-Injektionen
erhielten. (...)
Die Veränderungen dieser Patienten waren für sie selbst,
für Angehörige und Untersucher in manchen Fällen
recht eindrucksvoll, die Patienten berichteten selbst, dass
sie sich jetzt wieder ganz gesund wie lange vor der Erkrankung
fühlten. Das war bei der neuroleptisch weiterhin behandelten
Gruppe überwiegend nicht der Fall. Diese Befunde sprechen
wohl doch eindeutig für pharmakogene Einflüsse und
gegen morbogene Entwicklungen.« (zitiert nach: ebd., S.
64)
In einer Folgestudie bestätigte Müller diese Ergebnisse:
»Depressive Syndrome nach der Remission der Psychose und
unter neuroleptischer Behandlung sind nicht selten, sondern
treten etwa bei zwei Dritteln der Patienten auf, teilweise auch
noch häufiger, besonders wenn parenteral Depot-Neuroleptika
gegeben werden. Ohne neuroleptische Behandlung finden sich hingegen
nach vollständiger Remission diese depressiven Verstimmungen
nur ausnahmsweise.« (zitiert nach: ebd., S. 110)
Raymond Battegay und Annemarie Gehring von der Uni-Anstalt Basel
warnten nach einem Vergleich von Behandlungsverläufen der
vor- und nachneuroleptischen Ära:
»Im Verlauf der letzten Jahre wurde verschiedentlich auch
eine Verschiebung des schizophrenen Symptomenbildes nach einem
depressiven Syndrom hin beschrieben. Mehr und mehr zeigen die
Schizophrenien einen bland-depressiv-apathischen Verlauf. Es
wurde offenbar, dass unter Neuroleptica oft gerade das entsteht,
was mit ihrer Hilfe hätte vermieden werden sollen und als
Defekt bezeichnet wird.« (zitiert nach: ebd., S. 109)
Walter Pöldinger und S. Siebern von der Anstalt Wil/Schweiz
schrieben:
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass medikamentenverursachte
Depressionen durch ein häufiges Vorkommen von suizidaler
Ideation gekennzeichnet sind.« (zitiert nach: ebd.)
In Versicherungsmedizin äußerten Fritz-Ulrich
Lutz und Joachim Reuhl vom Zentrum der Rechtsmedizin an der Universität
Frankfurt/Main 1994:
»Selbstmorde in psychiatrischen Kliniken haben weltweit
zugenommen Untersuchungen aus der Bundesrepublik berichteten
von Steigerungen seit Anfang der 70er Jahre um mehr als das
Doppelte.« (zitiert nach: ebd., S. 111)
1976 teilte Hans-Joachim Haase von der Psychiatrischen Anstalt
Landeck mit, die Anzahl lebensgefährdender depressiver Erscheinungen
nach Anstaltsbehandlung mit Psychopharmaka habe sich seit Einführung
der Neuroleptika mindestens verzehnfacht (siehe: ebd.). Die Steigerung
der Suizidrate sei »alarmierend und besorgniserregend«,
so Bärbel Armbruster von der Uni-Anstalt Bonn 1986 im Nervenarzt
ohne allerdings die Betroffenen und ihre Angehörigen
oder gar die Öffentlichkeit zu alarmieren (siehe: ebd., S.
112).
Über die Entwicklung in Finnland, Norwegen und Schweden
informierte 1977 Rolf Hessö von der Uni-Anstalt Oslo; es
scheine klar zu sein,
»... dass der Anstieg sowohl der absoluten Suizidzahlen
als auch der relativen im Jahre 1955 begann. Dies war das Jahr,
in dem Neuroleptika in den skandinavischen psychiatrischen Krankenhäusern
eingeführt wurden.« (zitiert nach: ebd.)
Jiri Modestin von der Uni-Anstalt Bern schrieb 1982 über
seinen Arbeitsplatz, die Uni-Anstalt Bern, sowie die benachbarte
Psychiatrische Anstalt Münsingen:
»Unsere Resultate zeigen eine dramatische Zunahme der
Suizidhäufigkeit unter den in der PUK Bern sowie auch PK
Münsingen hospitalisierten Patienten in den letzten Jahren.«
(zitiert nach: ebd., S. 113)
Eine Studie der New York State Commission on the Quality of Care
for the Mentally Disabled (Kommission für Behandlungsqualität
der Geistig Behinderten) ergab eine ständig steigende Suizidrate
der ambulant Behandelten. Clarence Sundram, der Vorsitzende der
Kommission, führte aus:
»Suizide bilden die größte Einzelkategorie
unnatürlicher Todesfälle, die der Kommission mitgeteilt
wurden, und die Zahlen sind gestiegen.« (zitiert nach:
ebd.)
Zwei Drittel hatte innerhalb der letzten drei Wochen vor ihrem
Tod Kontakt mit psychiatrischen Diensten.
Suizidale Auswirkungen haben auch atypische Neuroleptika, wie
der Bericht der Österreicherin Ursula Fröhlich in »Schöne
neue Psychiatrie« zeigt:
»Ich habe seit zwei Wochen die Medikation auf 25 mg Leponex
reduziert (von 50 mg). Aber die geringere Dosis scheint mich
noch kraft- und energieloser zu machen, jedenfalls spüre
ich die Wirkung verstärkt. Obwohl ich zum Nichtstun verurteilt
worden bin, ist meine Stresssituation größer als
je zuvor. Ich weiß nicht mehr weiter! Von den Ärzten
erwarte ich mir kein Hilfe, denn sie haben mich ja so schwer
krank gemacht, meine Depressionen machen es mir unmöglich,
positiv zu denken. Ich bin in einem riesigen schwarzen Loch,
in das ich immer mehr versinke. Mein Leben, das einst so leicht
und schön gewesen ist, so abwechslungsreich und interessant,
lebenswert und vollgeladen mit Aktivitäten, ist zur Hölle
geworden.
Seit Beginn der Leponex-Einnahme habe ich keine Lust mehr auf
Sex, keine Lust an der Bewegung und keine Freude am Leben. Ein
Leben ohne Freude ist jedoch ärger als der Tod. Alles,
war mir geblieben ist, ist das Fernsehen, wo ich seit sieben
Jahren anderen zusehe, wie sie leben. Ich bin zwar biologisch
noch am Leben, doch meine Sinne sind schon längst tot,
alles, was mir früher Freude gemacht hat, kann ich nicht
mehr machen. Mein Leben existiert eigentlich gar nicht mehr,
ich komme mir so leer und so unbedeutend vor. Am schlimmsten
ist es am Morgen. Jeden Tag nehme ich mir vor, am nächsten
Tag mit einem gesunden Leben zu beginnen, die Medikamente wegzuschmeißen,
viele Vitamine und Fruchtsäfte zu trinken und mit einer
täglichen Fitnessroutine zu beginnen. Durch die Neuroleptika
entsteht ein Gefühl, als ob es mir gelingen würde,
am nächsten Tag mit einem ganz anderen, einem neuen Leben
zu beginnen. Wenn ich dann aber in der Früh aufwache, bin
ich wie zerschlagen und komme vor 9 Uhr nie aus dem Bett, meine
Depressionen sind so arg, dass ich jeden Tag an Selbstmord denke.«
(zitiert nach: ebd., S. 70f.)
Psychiatern ging es bei ihren Selbstversuchen nicht wesentlich
anders. 1954 und 1955 veröffentlichten Hans Heimann und Peter
Nikolaus Witt von der Uni-Anstalt Bern ihre an Radnetzspinnen
und Kontrollpersonen sowie in drei Selbstversuchen und neun weiteren
Experimenten an ebenso vielen Psychiatern und Pharmakologen gewonnenen
Erfahrungen mit einer einmaligen Einnahme von Largactil (Handelsname
der Neuroleptika-Prototyps Chlorpromazin). Sehr deutlich wird
das unter Largactil ausgeprägte Gefühl der Minderwertig-
und Leistungsunfähigkeit an den folgenden Auszügen:
»Ich fühlte mich regelrecht körperlich
und seelisch krank. Auf einmal erschien mir meine ganze Situation
hoffnungslos und schwierig. Vor allem war die Tatsache quälend,
dass man überhaupt so elend und preisgegeben sein kann,
so leer und überflüssig, weder von Wünschen noch
anderem erfüllt ... (Nach Abschluss der Beobachtung):
Riesengroß wuchsen vor mir die Aufgaben des Lebens
auf: Nachtessen, in das andere Gebäude gehen, zurückkommen
und das alles zu Fuß. Damit erreichte der Zustand
sein Maximum an unangenehmem Empfinden: Das Erlebnis eines ganz
passiven Existierens bei klarer Kenntnis der sonstigen Möglichkeiten...«
(zitiert nach: ebd., S. 134)
Abhängigkeit
Ein brauchbares Abhängigkeitsverständnis zeigten die
Psychiater der sogenannten Arzneimittelüberwachung in der
Psychiatrie. Ihnen reichte psychische und/oder körperliche
Abhängigkeit, um den Begriff anzuwenden:
»Unter psychischer Abhängigkeit wird das unwiderstehliche
Verlangen nach dem Medikament, um ein erhöhtes Wohlbefinden
oder das Verschwinden unangenehmer Symptome zu erreichen, verstanden.
Körperliche Abhängigkeit wird durch das Auftreten
von Entzugserscheinungen nach Absetzen oder Reduktion des eingenommenen
Medikaments dokumentiert.« (zitiert nach: Lehmann 1996b,
S. 354)
Rudolf Degkwitz und Otto Luxenburger verglichen die Entzugserscheinungen
von Psycholeptika (Neuroleptika und Antidepressiva) mit denen
von Alkaloiden (zu deren Wirkstoffgruppe z.B. Morphium gehört):
»Das Reduzieren oder Absetzen der Psycholeptika führt,
wie oben dargestellt, zu erheblichen Entziehungserscheinungen,
die sich in nichts von den Entziehungserscheinungen nach dem
Absetzen von Alkaloiden und Schlafmitteln unterscheiden.«
(zitiert nach: ebd., S. 405)
Degkwitz schrieb an anderer Stelle:
»Man weiß jetzt ferner, dass es bei einem Teil der
chronisch Behandelten wegen der unerträglichen Entziehungserscheinungen
schwierig, wenn nicht unmöglich wird, die Neuroleptica
wieder abzusetzen. Wie groß dieser Teil der chronisch
behandelten Fälle ist, ist ebenfalls nicht bekannt.«
(zitiert nach: ebd., S. 432)
Fritz Reimer besprach entzugsbedingte mehrtägige Delire.
In solche rutschte beispielsweise der 27jährige Gunther S.
jeweils nach Absetzen von Haloperidol:
»Am Abend des nächsten Tages, also 20 Stunden nach
Absetzen des Haloperidols, wurde der Patient delirant, nachdem
er schon tagsüber deutlich motorisch unruhig geworden war.
Er sah Tiere herumhuschen, schüttelte Kaninchen aus der
Decke, die sich plötzlich in Eulen und andere Tiere verwandelten.
Er lief unruhig hin und her, halluzinierte wohl auch akustisch,
denn er unterhielt sich mit vier Männern, die er angeblich
plötzlich in den Wachsaal eindringen sah. Dieses delirante
Bild wurde noch in den nächsten beiden Tagen, besonders
aber abends, in langsam abnehmender Intensität beobachtet.
(...) Der wesentliche pathogenetische Faktor für das delirante
Syndrom ist mit Sicherheit das Psychopharmakon. (...) Äußerlich
scheint sich ein Vergleich mit dem Entziehungsdelir des Alkoholikers
(...) aufzudrängen.« (zitiert nach: ebd., S. 412f.)
Die sekundäre psychische Abhängigkeit betrifft Psychiater
wie Betroffene. George Brooks von der Psychiatrischen Anstalt
Waterbury, Vermont, meinte:
»Die Stärke der Entzugssymptome kann den Kliniker
fälschlicherweise denken lassen, er habe einen Rückfall
des psychischen Zustands des Patienten vor sich.« (zitiert
nach: ebd., S. 414)
Uninformierte, nichtorganisierte und demzufolge wehrlose Betroffene
befürchten verständlicherweise, beim Auftreten von Problemen
erneut in die Anstalt gebracht und dort unter Anwendung von Gewalt
behandelt zu werden, so dass sie von sich aus weiterhin Neuroleptika
nehmen wollen. Degkwitz bemerkte zu einer solchen sekundären
psychischen Abhängigkeit:
»Solche Patienten steigern die Dosis nicht, glauben aber,
ohne die Krücke des Psycholeptikums nicht mehr
existieren zu können. Es handelt sich hierbei offenbar
nicht um eine Sucht, sondern um eine aus der eigenen Unsicherheit
resultierenden Abhängigkeit vom Medikament.« (zitiert
nach: ebd., S. 415)
Die in den letzten Jahren ständig steigenden Dosierungen
geben einen Hinweis auf Gewöhnungseffekte. Frank Tornatore
von der University of Southern School of Pharmacy, Los Angeles,
und Kollegen legten nahe, Supersensitivitätspsychosen als
Ergebnis von Toleranzbildung zu verstehen:
»Unter der Langzeittherapie mit Neuroleptika wurden Verschlechterungen
psychotischer Verläufe mit Aktualisierung der Wahnsymptomatik
und verstärkten Halluzinationen beobachtet. Die betroffenen
Patienten sprachen typischerweise auf niedrige oder mittlere
Dosen von Neuroleptika zunächst gut an; Rezidive machten
jeweils Dosissteigerungen erforderlich, bis die Symptomatik
schließlich nur noch durch Gabe von Höchstdosen beherrschbar
war. Es würde sich also um eine Toleranzentwicklung gegenüber
der antipsychotischen Wirkung handeln.« (zitiert nach:
ebd., S. 429)
Fragen: Wo bleibt die Auseinandersetzung über diese
Themen Brustkrebsrisiko, Suizidalität, Abhängigkeit?
Wieso werden die Betroffenen (und vielleicht auch das Personal
und die Angehörigen) nicht über diese Risiken aufgeklärt?
Ist die Sozialpsychiatrie blind gegenüber diesen Risiken?
Wieso hört man als Entgegnung auf den Bericht über suizidale
Wirkungen der Neuroleptika nur immer die Plattheit, es gäbe
auch noch andere Gründe, sich das Leben zu nehmen? Wird die
DGSP die Forderung des BPE an das BMG nach Einführung eines
speziellen Suizidregisters unterstützen, unter besonderer
Berücksichtigung von beteiligten Psychopharmaka/Elektroschocks,
von vorangegangener Fixierung und von anderen Formen vorangegangener
psychiatrischer Zwangsmaßnahmen, um geeignete Formen der
Suizidprophylaxe zu entwickeln?
Blinder Fleck Nr. 4:
Behandlungsbedingte Schäden allgemein kein Thema
Eine Neuroleptika-Verabreichung nach dem Prinzip des informed
consent findet in der Psychiatrie in aller Regel nicht statt.
Dies ergaben übereinstimmende Untersuchungen von Betroffenen
sowie Psychiatern. Eine Aufklärung, die ihren Namen verdienen
würde, findet nicht statt zu Beginn der Behandlung, nicht
in deren Verlauf und nicht beim Übergang zur Langzeitbehandlung.
Hanfried Helmchen, ein schlauer Kopf im Feld der biologischen
Psychiater, publizierte 1981 in einem ausgerechnet »Psychiatrie
und Rechtsstaat« betitelten Buch die Gründe für
die psychiatrische Zurückhaltung, als er Vorschläge
referierte, über das Risiko einer tardiven Dyskinesie spätestens
zum Zeitpunkt ihrer beginnenden Manifestation (Sichtbarwerdung)
zu informieren oder aber drei Monate oder ein Jahr nach Beginn
der Behandlung, denn:
»Vermutlich wäre die Ablehnungsrate sehr hoch, wenn
alle akut schizophrenen Patienten über dieses Nebenwirkungsrisiko
vor Beginn einer notwendigen neuroleptischen Behandlung informiert
würden.« (zitiert nach: ebd., S. 245)
In der Sozialpsychiatrie ist die Auseinandersetzung mit Neuroleptikarisiken
und -schäden eher die Ausnahme. 1989 hatte der Bremer Verband
der DGSP ein Neuroleptika-Tribunal mit kritischen Fachleuten geplant
(Thomas Szasz, Peter Breggin, Lars Martensson, Josef Zehentbauer,
Marc Rufer, Peter Lehmann). Leider wurde das DGSP-Tribunal vom
damaligen Vorstand unter Klaus Dörner abgeblockt. Über
die nächsten Jahre, so das von Klaus Dörner verfasste
Protokoll, solle bei Jahrestagungen immer wieder der Kontext der
Neuroleptika eingebracht werden (DGSP 1989, S. 2). Bitte klären
Sie mich auf, wer außer mir und den beiden ebenfalls außerhalb
der Sozialpsychiatrie stehenden Marc Rufer und Josef Zehentbauer,
mit denen ich in den letzten Jahren bei DGSP-Kongressen Arbeitsgruppen
durchführte, einen Aspekt der Neuroleptikarisiken eingebracht
hat.
Wie lebenswichtig für die Betroffenen eine
Reflektion behandlungsbedingter Schäden wäre, zeigt
sich immer wieder an deren authentischen Berichten. Als Beispiel
möchte ich die Behandlung Kerstin Kempkers darstellen, die
ihr in der Unianstalt Mainz durch Hendrik Uwe Peters widerfuhr,
nachzulesen in ihrem Buch »Mitgift Notizen vom Verschwinden«
(Kempker 2000, S. 51/52):
»Sechzehn Jahre später, durch einen Diebstahl in
den Besitz der Akten gekommen, erfahre ich, welche Unmengen
an Psychopharmaka mir neben den Elektro- und Insulinschocks
das Leben, das Denken und Erinnern austreiben sollten. In insgesamt
125 Tagen komme ich in den Genuss folgender exzessiver Psychopharmaka-
und Schock-Therapien:
| 20.12.75 25.4.76 |
Handelsname |
Gesamtdosis |
| Neuroleptika |
Triperidol |
1515 Tropfen |
| |
Lyogen |
240 mg |
| |
Melleril |
17025 mg |
| |
Atosil |
350 mg |
| |
Leponex |
75 mg |
| |
Haldol |
1540 Tropfen |
| |
Neurocil |
1650 mg |
| |
Inofal |
1 Ampulle |
| Antidepressiva |
Sinquan |
2600 mg |
| |
Pertofran |
1650 mg |
| |
Pertofran-Infusion |
825 mg |
| Tranquilizer |
Valium |
635 mg |
| |
Tavor |
305 mg |
| Barbiturate |
Medomin |
29 Tabletten |
| |
Luminal 0,1 |
45 Tabletten |
| Schockbehandlung |
Alt-Insulin i.m. |
2764 Einheiten |
| |
Alt-Insulin i.v. |
4260 Einheiten |
| |
E-Schock |
6 x |
| Antiparkinsonmittel |
Akineton retard |
118 Tabletten |
| Kreislaufmittel |
Effortil-Depot |
36 Tabletten |
| |
Ordinal retard |
135 Dragees |
| |
Dihydergot |
5520 Tropfen« |
40 Insulinkoma-Behandlungen, Elektroschocks, Psychopharmaka en
masse, wen wundert es da, dass die damals Jugendliche, die vor
der Behandlung lediglich mit der Diagnose einer »krisenhaften
Pubertätsentwicklung« versehen war, die anschließenden
drei Jahre in verschiedenen Anstalten als nunmehr »Schizophrene«
versuchte, ihrem Behandlungstrauma ein Ende zu setzen, indem sie
aus allen möglichen Fenstern sprang, sich vor alle möglichen
Züge warf und Gifte und Chemikalien aller Art schluckte?
Ein Bewusstsein über die potentielle Schädlichkeit psychiatrischer
Vorbehandlung hätte vielleicht eine Spur von Unterstützung
in einer der nachfolgenden Anstalten bewirkt, z.B. in der Sozialpsychiatrischen
Anstalt von Häcklingen, in der Kerstin Kempker am Ende ihrer
Odysseus angelangt war. Zu Ehrenrettung Herrn Niels Pörksens,
dem damaligen Behandler und Anstaltsleiter, sei allerdings gesagt,
dass er Kerstin Kempker immerhin geholfen hat, an die Häcklinger
Akten zu kommen. Nach deren Studium schrieb sie:
»Meine Häcklingen-Akte ist mit sechsundzwanzig Seiten
extrem dünn und voll gröbster Fehler. In der Anamnese
fehlt die Zeit in der Mainzer Uni-Anstalt völlig...«
(ebd., S. 113)
Frage: Wie kann man jemandem helfen wollen, wenn man die
Augen selbst vor massiven Schäden verschließt, die
in der Psychiatrie gesetzt werden?
Blinder Fleck Nr. 5:
Rechtsverletzung in Heimen
Verstöße gegen das Gesetz zur Regelung der Allgemeinen
Geschäftsbedingungen sind in sozialpsychiatrischen Einrichtungen
offenbar gang und gebe, jedenfalls nach meinem Rechtsverständnis.
Richter sehen dies ähnlich, siehe der Bericht über ein
Urteil des Landgerichts Berlin (Az: 26 O 133/96).
Drei konkrete Beispiele:
-
Psychiatrische Tagesklinik Nürnberg; deren Aufnahmekriterien
sind: die
»Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht
gegenüber dem/r betreuenden Sozialarbeiter/in, der
jeweiligen Vertretung sowie des/r betreuenden Sozialarbeiter/in
gegenüber dem behandelnden Arzt«
sowie die
»Bereitschaft zur regelmäßigen Einnahme
der vom Arzt verordneten Medikamente« (Psychiatrische
Tagesklinik 1996).
Nach meinem Rechtsverständnis werden hilfesuchende Betroffene
genötigt zur Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber
Hinz und Kunz sowie die zum Verzicht auf das Recht auf körperliche
Unversehrtheit.
-
Verein für Sozialpsychiatrie Saarlouis; der Verein hat
einen Konsiliarpsychiater, mit dessen »fachmedizinischen
Betreuung und Beratung« die einzelnen Betroffenen sich
einverstanden erklären müssen.
»Sollte sich der Rehabilitand einen anderen Arzt wählen,
erklärt er sich damit einverstanden, dass der behandelnde
Arzt insoweit von der Schweigepflicht entbunden wird, dass
der Konsiliararzt des Vereins für Sozialpsychiatrie
gem. e.V. über seinen aktuellen Gesundheitszustand
und den daraus ergebenden Konsequenzen informiert wird,
damit eine kontinuierliche Abstimmung für die Einrichtung
gewährleistet bleibt. (... ) Der/Die Bewohner/in gibt
sein/ihr Einverständnis, dass der Einrichtungsträger
Rehabilitationsverlauf- und Abschlussberichte an Fachdienste
und Institutionen weitergibt, die ihm für die Förderung
des/der Betroffenen notwendig erachten lassen. Der/Die Bewohner/in
entbindet desweiteren den Träger der Einrichtung von
der Schweigepflicht gegenüber wiederum Fachdiensten,
Institutionen, aber auch Personen, von denen es fachlich
zum Wohle des/der Betroffenen angezeigt ist, sie am Rehabilitationsgeschehen
zu beteiligen.« (Verein für Sozialpsychiatrie...
1993)
Nach meinem Rechtsverständnis beinhaltet auch dieses
1997 allerdings geänderte Heimvertragsformular
die Nötigung zur Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber
Hinz und Kunz. Darüber hinaus wird nach wie vor die vorauseilende
Zustimmung zur Anstaltsunterbringung verlangt offenbar
ohne gerichtliche Entscheidung, sondern einzig aufgrund des
Psychiaterurteils:
»Der/Die BewohnerIn ist damit einverstanden, dass
er/sie auf ärztliche Anordnung bei schwerer oder länger
dauernder Krankheit in ein Krankenhaus eingewiesen wird.«
(Verein für Sozialpsychiatrie... 1997, S. 4) [Nachtrag:
Der Verein für Sozialpsychiatrie teilte inzwischen
mit, dass er ein geändertes Vertragsformular benutzt;
P.L. Juni 2001]
-
Verein zur Betreuung psychisch Kranker e.V., Gießen;
dessen Anlage zum Heimvertrag verspricht zwar eine freie Arztwahl,
fordert jedoch:
»Die Bewohner verpflichten sich, die Medikamente entsprechend
der ärztlichen Verordnungen einzunehmen und den Arzt
von seiner Schweigepflicht gegenüber dem Team zu entbinden.
Ebenso wird das Team von seiner Schweigepflicht gegenüber
den behandelnden Ärzten entbunden. Ziel ist eine selbstverantwortliche
Medikamenteneinnahme. Auf Anordnung des Arztes oder infolge
von Absprachen wird die Einnahme der Medikamente vom Team
kontrolliert.« (Verein zur Betreuung... 1992)
Auch dieser Heimvertrag beinhaltet nach meinem Rechtsverständnis
die Nötigung zum Verzicht auf das Recht auf körperliche
Unversehrtheit bzw. die Nötigung zur Entbindung von der
Schweigepflicht.
Fragen: Warum ist die Sozialpsychiatrie so blind gegenüber
diesen Rechtsverletzungen? Oder besteht gar ein spezielles Interesse,
diese aufrechtzuerhalten? Wer schickt offen oder anonym
Heimverträge an den Vorstand des BPE, z.Hd. Klaus
Laupichler, Am Alten Sportplatz 10, 89542 Herbrechtingen, um sie
von Verbraucherschutzvereinen prüfen und die Trägereinrichtungen
gegebenenfalls abmahnen zu lassen?
Blinder Fleck Nr. 6:
Unersättlichkeit der sozialpsychiatrischen Zuständigkeit
Diesen auffälligen Bereichen der sozialpsychiatrischen Nichtzuständigkeit
stehen viele Bereiche entgegen, für die sich die Sozialpsychiatrie
zuständig erklärt Bereiche, die nichts mit einer
möglichen Stärkung der Rechtsposition von Psychiatriebetroffenen
oder mit der Abwehr von Behandlungsrisiken zu tun haben. Meine
Frage lautet: Gibt es in diesen Bereichen Probleme, für die
die Sozialpsychiatrie sich nicht zuständig wähnt?
Neuestes Beispiel ist das Thema Empowerment, das sozialpsychiatrische
Profis für die Betroffenen aufgegriffen haben und nun ausschlachten.
Einige Bücher liegen schon vor, wobei die Autoren und Herausgeber
Betroffene manchmal immerhin gelegentlich zu Wort kommen lassen,
andere dagegen gar nicht. Heißt Empowerment nicht etwa,
wie dies Judi Chamberlin schon zu Beginn der 90er Jahre definiert
hat, »mit der eigenen Stimme sprechen«? Weshalb fühlen
sich sozialpsychiatrische Profis nun auch für Empowerment
zuständig? Wollen sie demnächst auch noch Weglaufhäuser
eröffnen, Asyle für Menschen, die vor der psychiatrischen
Behandlung in Anstalten und in gemeindepychiatrischen Einrichtungen
weglaufen? Wie wäre es mit Selbsthilfezentren und Beschwerdestellen?
Abschließend erinnere ich an Franco Basaglia und Franca
Basaglia-Ongaro und ihren Aufsatz in dem Buch »Befriedungsverbrechen«:
»Es ist grotesk und tragisch, dass Intellektuelle, indem
sie sich an die Institutionen der Macht anbinden, unter dem
Schein der Hilfeleistung die Opfer der Macht vollends entwaffnen:
In der Pose des Samariters geben sie ihnen den tödlichen
Kuss.« (Basaglia / Basaglia-Ongaro 1975, S. 22)
Bevor mir jetzt jemand den Spruch Basaglias entgegenhält,
richtig angewandt seien Neuroleptika ein Schritt zur Befreiung,
schließe ich mit der Bemerkung, dass das Urteil darüber,
was richtig und was falsch ist, einzig denen zusteht, die diese
Substanzen einnehmen bzw. eingenommen haben bzw. denjenigen, denen
sie mit Gewalt verpasst wurden. Alles andere wäre ein weiterer
Verstoß gegen das Menschenrecht der Betroffenen auf Selbstbestimmung.
Wer mir vorhält, ich hätte nichts zu den von Psychopharmaka
unabhängigen psychischen Leiden von Psychiatriebetroffenen
gesagt, dem muss ich antworten, dass dies nicht das Thema war,
das ich mir gestellt habe. Ich habe auch nichts zu den Gefahren
einer Formaldehydvergiftung gesagt, auch nichts zum Waldsterben.
Ich hoffe, ich habe dazu beigetragen, Sie für die nicht
immer optimale Beachtung unserer Grundrechte auf Leben, körperliche
Unversehrtheit und Menschenwürde zu sensibilisieren. Ich
bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Literatur