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Original unter dem Titel »Alte, veraltete und neue Antipsychiatrie« in: Karin Roth (Hg.): »Antipsychiatrie – Sinnerzeugung durch Entfesselung der Vielstimmigkeit« (Zeitschrift für systemische Therapie, 19. Jg., Nr. 4), Dortmund: verlag modernes lernen Borgmann 2001, S. 264-270 / PDF / Letzte Aktualisierung am 29.9.2023

Peter Lehmann

Alte, veraltete und humanistische Antipsychiatrie

Zusammenfassung: Die Antipsychiatrie entwickelte sich seit den 1960er-Jahren von einer eher akademisch orientierten Disziplin zu einer neuen, im Wesentlichen von Psychiatriebetroffenen getragenen Bewegung. In deren Mittelpunkt steht die Forderung nach nutzergetragenen bzw. nutzerkontrollierten Alternativen zur Psychiatrie und nach Verzicht auf toxische Substanzen sowie Elektroschocks. Die Sozialpsychiatrie machte sich die Psychiatriekritik lediglich zunutze, um unter Ausblendung der Behandlungsschäden ein umfassendes, Rechtsverstöße und Langzeitschäden begünstigendes System der Gemeindepsychiatrie aufzubauen. Die auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie läuft andererseits angesichts vorhandener alternativer Konzepte Gefahr, trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu werden auf dem Weg zur Durchsetzung von Menschenrechten Psychiatriebetroffener und humanistisch orientierten Hilfen für Menschen in psychischen Notlagen.

Summary: Since the 1960s, antipsychiatry has evolved from a more academically orientated discipline towards a new movement, mainly led by (ex-) users and survivors of psychiatry. Its key issue is the demand for user-run and user-controlled alternatives beyond psychiatry and for rejection of toxic drugs. Ignoring treatment damages, social-psychiatry only used the criticism of psychiatry to built a comprehensive system of community psychiatry, which is favouring juridical assault and long-time administration of psychiatric drugs (inclusively long-time damages). In spite of radical positions, the old antipsychiatry that makes no headway runs the risk of becoming an obstacle to progress in view of present alternative, human-rights based concepts.

Alte Antipsychiatrie

Die Antipsychiatrie der 1960er-Jahre wird im Wesentlichen Psychiatern wie zum Beispiel Ronald D. Laing und David Cooper zugeschrieben. Diese machten deutlich, dass es für psychiatrische Diagnosen keine objektiven klinischen Kriterien gibt und sogenannte Schizophrenien lediglich Versuche sind, unter unerträglichen Familienbedingungen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen psychisch zu überleben. Wenn auch dem patriarchalischen Denken verhaftet, schufen sie doch die Grundlagen der neueren Entwicklung der Psychiatriekritik. Der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz leitete die historische Entwicklung der Psychiatrie aus der Hexenverfolgung ab und legte die moderne psychiatrische Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bloß sowie die psychiatrische Lehre als größten wissenschaftlichen Betrug dieses Jahrhunderts.

Seit der Studentenbewegung der 1968er-Jahre des letzten Jahrhunderts treten weltweit noch andere akademisch orientierte Kritiker auf, die sich aufgrund ihrer eher theoretischen und meist männlichen, gelegentlich aber auch feministischen Orientierung als eher unfähig zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Psychiatriebetroffenen erweisen – in Deutschland mit Ausnahme der Sozialistischen Selbsthilfe e.V. Köln, einem in den 1970er-Jahren aktiven Wohn- und Arbeitskollektiv mit ehemals schlagkräftigen Aktionen gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen. So manche sich links gebende und sich als (angehende) AkademikerInnen anderen überlegen vorkommende Besserwisser gefallen sich allerdings darin, Psychiatriebetroffene, die für ihr Selbstbestimmungsrecht und für Alternativen zur Psychiatrie eintreten, in herablassender Weise als doofe Vor-sich-hin-Werkler abzutun, sollten diese sich anmaßen, eigene psychiatriepolitische Schwerpunkte zu setzen und dabei linkspopulistische Sprachhülsen außen vor zu lassen (siehe das Beispiel von K. W.).

Den Schwung der Psychiatriekritik nutzten sozialpsychiatrische ReformerInnen (»Auflösung der Großkliniken«), die von der sogenannten demokratischen Psychiatrie des Italieners Franco Basaglia inspiriert wurden, um das System der Psychiatrie zu verdoppeln: Die Anstalten wurden verkleinert und baulich renoviert, psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern sowie ein umfassendes System der Gemeindepsychiatrie mit unterschiedlichsten Einrichtungen neu geschaffen. Den Betroffenen gelingt kaum noch der Ausstieg aus diesem Komplettsystem, das auf der Verabreichung von psychiatrischen ›Medikamenten‹ mit mehrwöchiger Halbwertzeit basiert, den Depotneuroleptika.

Besonders diese neurotoxischen Psychodrogen können katastrophale Schäden verursachen. In einer Studie von 1991 über eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch behandelter und zum Teil in ›betreutem‹ Einzelwohnen oder ›therapeutischen‹ Wohngemeinschaften lebender BerlinerInnen sprach eine Autorengruppe von einem durchschnittlichen Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien. Dies sind veitstanzartige und von anhaltenden und schmerzhaften Krämpfen begleitete Muskel- und Bewegungsstörungen, die im Laufe der Behandlung, beim Absetzen oder danach im Gesicht, am Rumpf oder an den Extremitäten auftreten, nicht behandelbar sind, sozial stigmatisieren und mit einer Verkürzung der Lebenserwartung einhergehen (Lehmann, 1996b, S. 208 ff.). Sogenannte atypische Neuroleptika, die angeblich weniger tardive Dyskinesien auslösen (dafür aber – anfangs nicht so leicht mitzubekommen – Organe verstärkt schädigen), werden von den Befürwortern der Psychiatrie oft ins Feld geführt, um Kritik an Neuroleptikaschäden abzuschwächen, dabei bergen diese neueren Neuroleptika erhebliche Risiken für das vegetative und Organ-System und tragen mit zur um durchschnittlich zwei bis Jahrzehnte verminderten Lebenserwartung psychiatrischer Patienten bei.

Aufgrund der neuroleptika- und antidepressivabedingten Langzeitschäden kommt auch der im italienischen Faschismus unter Mussolini von Schweineschlachthäusern abgeguckte Elektroschock wieder verstärkt in Gebrauch. Mit ihm werden in den Gehirnen der Behandelten – zu 70-80 % Frauen – epileptische Anfälle ausgelöst, was irreversible Hirnschäden bewirken kann (Lehmann, 1996a, S. 20-24; Frank, 1996; Lehmann, 2017, 2022). Reaktion auch der fortschrittlichen Reformpsychiater war über viele Jahre: Schweigen (Lehmann, 2001). Besonders im Psychiatrieverlag, dessen Ziel es laut eigenen Worten ist, ein humanes und patientengerechtes Gesundheitswesen zu erreichen, erscheinen seit Jahrzehnten Bücher, in denen die Vorzüge von Elektroschockserien angepriesen und Risiken und Schäden bagatellisiert oder verschwiegen werden (Belege, pdf). Artikel, in denen Elektroschockschäden angesprochen werden, werden dagegen unterdrückt mit den Argumenten, sie seien unwissenschaftlich und gegen die Interessen der Betroffenen gerichtet. Zudem würden sie die Gefahr bergen, der »immer wieder gezielt in die Öffentlichkeit getragenen Darstellung der Elektrokrampftherapie als veraltete, überholte oder gar inhumane und grausame Behandlungsmethode« Vorschub zu leisen, und zuletzt würden sie unterstellen, dass Psychiater nicht die Wahrheit zu den Risiken und Schäden sagen (Lehmann, 2019, S. 38 Fußnote).

Ein ebenso lautes Schweigen schwappt einem entgegen, wenn man sie um ihre Meinung zu der vom Europarat verabschiedeten Ethikerklärung zu den Rechten Zwangspsychiatrisierter befragt, die unter anderem eine gewaltsame Neuroleptikaverabreichung inner- und außerhalb von Anstalten sowie Elektroschocks ohne informierte Zustimmung und Zwangsunterbringung auch ohne richterlichen Beschluss rechtfertigen soll (Arbeitskreis des Steering Committee on Bioethics des Europarates, 2000).

Mit einer Vielzahl von gut bezahlten Arbeitsplätzen und Teilhabe an der Machtausübung korrumpiert das psychiatrische System die MitarbeiterInnen. Obwohl die Langzeitschäden von Elektroschocks oder Neuroleptika himmelschreiend sind, bleibt der gewöhnliche psychiatrisch Tätige in aller Regel stumm, die politisch Verantwortlichen in den Parteien und den Gesundheitsbürokratien bleiben tatenlos und die Betroffenen verloren, sofern sie sich nicht zusammenschließen, nach Verbündeten suchen und für die Durchsetzung ihres Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf angemessene Hilfe für Menschen in psychosozialer Not eintreten (Lehmann u.a., 2004).

Neue, humanistische Antipsychiatrie

Ein Vierteljahrhundert, nachdem dissidente Psychiater ihre Wissenschaft als Antipsychiatrie neu erfanden, artikuliert sich seit den frühen 1980er-Jahren zunehmend eine radikale Kritik, die als neue oder auch humanistische Antipsychiatrie bezeichnet werden kann. Sie wird nicht von Professionellen getragen, die für und über ›psychisch Kranke‹ reden wollen, sondern von Psychiatriebetroffenen, die sich auf allgemeine Menschenrechtserklärungen berufen und die wissen, dass es Geisteskrankheiten (im Gegensatz zu Hirnkrankheiten) als medizinische Existenzen mit kategorisierbaren Ursachen, Verläufen und Prognosen nicht gibt. Sie wollen die Psychiatrie nicht »noch besser« machen, sondern ein System mitmenschlicher Hilfeleistung für Menschen in psychischen Notlagen maßgeblich sozialer Natur entwickeln, neue – mehr oder weniger institutionelle – Formen des Lebens mit Verrücktheit und Andersartigkeit (Lehmann & Stastny, 2007). Dabei wird Antipsychiatrie als humanistische Bewegung verstanden. »Anti« kommt aus dem Griechischen und heißt mehr als nur einfach »gegen«. Es gibt auch die Übersetzung »alternativ«, »gegenüber« (zum Beispiel Paros – Antiparos, Libanon – Anti-Libanon, Arktis – Ant arktis, Materie – Antimaterie) oder »unabhängig«.

Antipsychiatrische Psychiatriebetroffene setzen sich zudem ein für deren rechtliche Gleichstellung mit gesunden sowie kranken Normalen (das heißt, straffreie Behandlung nur nach informierter Zustimmung auf Grundlage des allgemeingültigen und von der Haltung zur Psychiatrie unabhängigen Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit), für ihre Organisierung und die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen, für die Unterstützung beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka, für die Ächtung von Elektroschocks, den Schutz vor ambulanter Zwangsbehandlung, die durch den Ausbau der Gemeindepsychiatrie begünstigt wird, sowie die straf- und zivilrechtliche Verfolgung psychiatrisch Tätiger, die gegen Gesetze verstoßen.

Ein prominenter Vertreter der humanistischen Antipsychiatrie ist der Däne Karl Bach Jensen, ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen. Er brachte 1998 die Position der humanistischen Antipsychiatrie auf den Punkt:

»Das überkommene Konzept der psychischen Krankheit und des Bedarfs an synthetischen Psychopharmaka abzulehnen, speziell wenn sie über lange Zeit oder gar lebenslänglich verordnet werden, kann natürlich nicht heißen, die Augen zuzumachen vor den realen Problemen, die viele Menschen haben. Ich will keineswegs darauf hinaus, dass wir uns um andere, wenn sie verrückt werden, etwa gar nicht kümmern sollten, dass die Leute eingesperrt und allein gelassen werden sollten.

Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer Dienste würde darin bestehen, Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen – unter anderem durch gegenseitige Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative Medizin, gesunde Ernährung, natürliche Heilverfahren und spirituelle Übungen. Die alternative Arzneimittelkunde hat beispielsweise ein großes Wissen über die Wirkung von Kräutern und Homöopathika, die dem Körper und der Psyche helfen können, Entspannung zu finden und das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Mit solchen Dingen kann man möglicherweise nicht so viel Geld verdienen, doch sie sind es, die Zukunft haben.

In diesem Feld können Psychiatriebetroffene eine wichtige Rolle als MitarbeiterInnen und RatgeberInnen spielen, denn sie haben das Wissen darüber, was ihnen geholfen hat. Solche mit einer positiven Subkultur-Identität und Würde verbundenen Dienste können von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden oder, mit öffentlicher finanzieller Unterstützung, von der Betroffenenbewegung selbst, wobei Menschen einfach ein Ort gegeben würde, sich zu treffen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Falls Menschen eingesperrt werden müssen, um ihnen das Leben zu retten oder um sie davon abzuhalten, anderen ernsthaften Schaden zuzufügen, sollte niemand das Recht haben, ihnen irgendeine Art von Behandlung aufzuzwingen. Zum Schutz vor Zwangsbehandlung sollten Psychiatrische Testamente oder andere Vorausverfügungen (in denen steht, welche Form der Behandlung eine Person wünscht oder nicht wünscht, falls es zu einer Zwangseinweisung kommt) in allen Staaten und Ländern rechtskräftig werden.

Alternative Systeme und dezentrale Dienste müssten sich um die Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen in einer Weise kümmern, dass der Gebrauch von synthetischen und giftigen psychiatrischen Psychopharmaka minimiert und auf lange Sicht überflüssig wird.

Einen integrierten Teil eines zukünftigen, ökologisch und humanistisch ausgerichteten Gesellschaftssystems stellt der Verzicht auf toxische Stoffe in der Natur, im Wohnbereich, in der Ernährung und in der Medizin dar. Der Verzicht auf den Einsatz chemischer Gifte im psychosozialen Bereich könnte unter folgenden Gesichtspunkten entwickelt werden:

  • In der Öffentlichkeit, bei Professionellen wie bei Betroffenen ist ein Bewusstsein über das inhumane, gefährliche und schädliche Kosten-Nutzen-Verhältnis chronischer Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka zu schaffen.

  • Internationale Empfehlungen und nationale Gesetze, die psychiatrische Zwangsbehandlung und speziell juristisch verfügte Auflagen zur Dauereinnahme im ambulanten Bereich ermöglichen, müssen bekämpft und verhindert werden.

  • Es ist wichtig, Wissen über Entzugsprobleme und darüber, wie diese gelöst werden können, zu sammeln und zu verbreiten.

  • Spezielle Hilfsprogramme und Einrichtungen für Menschen mit Abhängigkeitsproblemen müssen entwickelt werden.

  • Die Aufklärung über schädliche Wirkungen und Abhängigkeitsrisiken ist bereits vor der Erstverabreichung psychiatrischer Psychopharmaka sicherzustellen.

  • Die Verursacher psychopharmakabedingter Schmerzen, Leiden und Behinderungen sind zur Zahlung von Schmerzensgeld zu verpflichten.

  • Es müssen Methoden, Systeme, Dienste und Institutionen einer kurz-, mittel- und langfristigen Hilfe und Unterstützung entwickelt werden, die in keiner Weise auf der Verabreichung von synthetischen Psychopharmaka aufbauen.« (Bach Jensen, 2019, S. 371f.)

Die neue Antipsychiatrie in Deutschland wurde im wesentlichen von der Berliner Selbsthilfeorganisation Irren-Offensive e.V. entwickelt. Schon kurz nach ihrer Gründung 1980 hatten ihre Mitglieder, AkademikerInnen wie NichtakademikerInnen, Frauen wie Männer, den entwertenden Krankheitsbegriff über Bord geworfen. All die Schritte der ›alten‹ Irren-Offensive, nachzulesen in Tina Stöckles Buch »Die Irren-Offensive – Möglichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer Selbsthilfe« (Stöckle, 1983 / 2005), sind inzwischen auch von einigen neugegründeten Gruppen in anderen Städten nachvollzogen worden oder werden zumindest teilweise angestrebt:

  • (Nichtangeleitete) Selbsthilfe zur Lösung psychischer Probleme und Verarbeitung verrückter (›psychotischer‹) Erfahrungen – unter Verneinung der Zuständigkeit von MedizinerInnen und unter Abwehr sexistischer Verhaltens- und Denkweisen

  • Organisierung eigener Räume und Beratung von Betroffenen für Betroffene, insbesondere beim Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka

  • Rechtsberatung und Entwicklung eines Rechtsschutzes gegen psychiatrische Übergriffe unter dem Motto »Recht auf psychopharmakafreie Hilfe«

  • Aufbau einer eigenen nationalen Organisation und Zusammenarbeit mit anderen politischen und Menschenrechtsorganisationen

  • Aufbau eines eigenen, nichtzensierbaren Kommunikationssystems

  • Umwidmung psychiatrischer Gelder zugunsten nutzerkontrollierter Alternativprojekte statt eines weiteren Ausbaus der Gemeindepsychiatrie.

Veraltete und humanistische Antipsychiatrie im Konflikt

Letztlich spiegelt sich in der Entwicklung der Irren-Offensive in den letzten zwölf Jahren der Konflikt zwischen alter und humanistischer Antipsychiatrie. Nahezu alle ehemals antipsychiatrisch aktiven Mitglieder dieser Gruppe wechselten Anfang der 1990er-Jahre zum Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und seinem Weglaufhausprojekt über, nachdem eine Reihe der damaligen Mitglieder zum Schritt von reiner Selbsthilfe hin zum Aufbau einer nutzerkontrollierten Alternative zur Psychiatrie ansetzten (Lehmann, 1998). Während das 1996 in Berlin eröffnete Alternativprojekt durch seine Praxis Positionsklärungen ermöglichte bzw. erzwang, blieben die bei reiner Psychiatriekritik stehengebliebenen Mitglieder der neuen Irren-Offensive letztlich auf dem Szasz'schen Entwicklungsstand verhaftet: mit der Abschaffung der Psychiatrie würden die Probleme psychiatrisierter Menschen verschwinden. Spiegelbildlich findet sich diese primitive Einstellung bei den Vertretern der biologischen Psychiatrie, die davon ausgehen, dass mit der Verabreichung von Psychopharmaka und Elektroschocks die Probleme psychiatrisch diagnostizierter Menschen verschwinden. Wenig verwunderlich, dass auch diese nicht in der Lage oder willens sind, sich mit den Positionen der nutzergetragenen humanistisch orientierten neuen Antipsychiatrie auseinanderzusetzen. So endet das Kapitel »Antipsychiatrie« in dem 2006 erschienenen Buch »Geschichte der Psychiatrie« beispielsweise mit ›revolutionären‹, antipsychiatrisch eingestellten Studenten, die in den 1970er-Jahren in psychiatrische Anstalten gekommen seien, ».. um angesichts der damaligen Personalnöte bei der Betreuung der Patienten zu helfen (und zugleich die Verhältnisse kritisch zu studieren).« (Schott & Tölle, 2006, S. 212)

Nicht ›zufällig‹ war es die Person von Thomas Szasz, an der sich am 1. Mai 1998 der Konflikt zwischen veralteter und humanistischer Antipsychiatrie konkretisierte. Im Jahr zuvor hatte der neoliberale und mit der Scientology-Sekte eng verquickte Psychiater in Berlin sein Buch »Grausames Mitleid« präsentiert. Darin stellte er Psychiatriebetroffene auf eine Stufe mit Verbrechern und Landstreichern und forderte den Verzicht auf jegliche sozialstaatliche Tätigkeit, das Wahlrecht nur für Steuerzahler, dafür das Recht auf Armut, auf Obdachlosigkeit, Sucht und Drogentod für alle übrigen. Er formulierte unter anderem:

»Ein Individuum, das nicht produktiv werden kann oder will, muss ein Abhängiger oder ein Räuber werden oder zugrunde gehen. (...) Einfach ausgedrückt, jemand, der Diabetes oder Bluthochdruck hat, ist nicht notwendigerweise unproduktiv oder kriminell, während Personen, bei denen Schizophrenie oder antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, typischerweise unproduktiv sind und sich häufig in einer Weise verhalten, die als gesellschaftsfeindlich oder kriminell bezeichnet wird. (...) Die simple Wahrheit ist, dass manche Menschen es vorziehen, ihr Geld nicht für eine Behausung aufzuwenden (sondern vielleicht lieber für den Kauf von Drogen), dass sie es ablehnen, bei Familienmitgliedern zu wohnen, die bereit wären sie aufzunehmen, und ein Leben in psychischer Krankheit, Verbrechen und Landstreicherei bevorzugen.« (Szsaz, 1997, S. 213, 211, 140)

In seiner Presseerklärung zur Einladung zum »Foucault-Tribunal«, einem von der ›neuen‹ Irren-Offensive 1998 in Berlin veranstalteten Tribunal gegen die Psychiatrie, schrieb der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.:

»Sehr geehrte Damen und Herren von den Medien, wir möchten unseren Unmut ausdrücken darüber, dass beim ›Foucault-Tribunal‹ ausgerechnet Thomas Szasz als Vertreter der antipsychiatrischen Anklage auftreten soll bzw. sollte. Wir halten dies für einen Affront gegenüber Psychiatriebetroffenen, die Strategien entwickeln, um die psychiatrische Bedrohung abzuwehren und Möglichkeiten echter Unterstützung für Menschen in psychischen Notlagen sozialer Natur zu schaffen, die sich für den politischen Zusammenschluss mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen einsetzen sowie für neue Formen des Lebens mit Verrücktheit, für Verrückten- und Weglaufhäuser.

Dabei sind die historischen Verdienste von Thomas Szasz um die Kritik der Psychiatrie unbenommen. Allerdings hat er in letzter Zeit, speziell in seinem Buch ›Grausames Mitleid‹, eine immer drastischere Wendung unternommen in Richtung Primitivstkapitalismus (sinngemäß ›Rechte nur für diejenigen, die Geld machen‹), wobei er zuletzt diejenigen, die am Ende der sozialen Hierarchie stehen, nämlich Psychiatriebetroffene und insbesondere wohnungslose Psychiatriebetroffene, als tendenziell kriminelle Sozialschmarotzer diffamiert und für die Abschaffung des Sozialstaats eintritt.

Am 1. Januar 1996 nahm das Weglaufhaus in Berlin-Reinickendorf seinen Betrieb auf. 13 obdachlose Psychiatriebetroffene, die das psychiatrische Netz verlassen haben und ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen wollen, finden für maximal ein halbes Jahr Unterkunft und Unterstützung bei der Bewältigung ihrer vielfältigen Probleme. Im Team arbeiten zehn Teilzeitkräfte (unter anderem SozialarbeiterInnen, ehemalige Psychiatriebetroffene, PsychologInnen). Die MitarbeiterInnen und BewohnerInnen finden es absurd, Thomas Szasz als antipsychiatrisches Zugpferd einzuladen und ihm publizistische Gelegenheit zu geben, weiter Wasser auf die Mühlen derer zu kippen, die derzeit den Sozialstaat demontieren. Szasz steht mit seinen Aussagen diametral entgegengesetzt zu den existentiellen Bedürfnissen vieler Psychiatriebetroffener nach sozialer Unterstützung. Insbesondere im Weglaufhaus, in dem weggelaufene wohnungslose Psychiatriebetroffene Unterstützung suchen, finanziert nach § 72 BSHG (›Hilfe in besonderen sozialen Schwierigkeiten‹), findet die Einladung von Thomas Szasz keinerlei Verständnis. Unklar bleibt auch, wie Angehörige der Freien Universität Berlin, die gegen Mittelstreichung im Bildungswesen eintreten, hinter der Einladung eines Mannes stehen, der offenbar in den USA eine solche Mittelstreichung publizistisch unterstützt und anscheinend letztlich den gesamten Staat privatisieren möchte – mit Ausnahme vielleicht von Gefängnissen, in die er am liebsten Psychiatriebetroffene gesteckt haben möchte (...).

Wir werden nicht sprachlos zusehen, wie das – auch von uns – mühevoll aufgebaute positive Image der neuen Antipsychiatrie zerstört wird von einigen Besserverdienenden, die möglicherweise gerne einfach im Rampenlicht stehen möchten und sich nicht um mögliche Konsequenzen ihres Tuns für die sozial Schwächsten kümmern. Deshalb sehen wir uns gezwungen, mit unserer Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen. (...) Übrigens beschimpft Thomas Szasz nicht nur (Psychiater und) Psychiatriebetroffene als tendenzielle Feinde der Freiheit, sondern auch Kommunisten, Psychoanalytiker, Feministinnen und Laingianer.« (Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V., 1998)

Die humanistische Antipsychiatrie in der Praxis

Wie die Ablehnung der psychiatrischen Ideologie den Blick auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen geradezu erzwingt – Empathie und Interesse für diese Menschen vorausgesetzt –, geht aus einem 2000 von Thilo von Trotha verfassten Diskussionspapier des Weglaufhausteams hervor. Mit seiner Reflexion reagierten die MitarbeiterInnen auf spezifische Fragen, die ihnen häufig vor allem von Professionellen aus anderen Einrichtungen gestellt werden, wenn diese mit dem Weglaufhaus konfrontiert werden. Das Papier setzt daher schon gewisse allgemeine Kenntnisse über das Projekt voraus und gibt, für sich allein genommen, kein vollständiges und angemessenes Bild der Arbeit des Weglaufhauses, sondern beleuchtet nur einen sehr spezifischen Ausschnitt:

»Antipsychiatrie bedeutet für unsere tägliche Praxis, dass im Weglaufhaus der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung, Entwicklung und Stärkung der Selbstbestimmung von psychiatrieerfahrenen Menschen liegt. Maßgeblich für die Unterstützung, die die BewohnerInnen des Weglaufhauses erfahren, sind die jeweils eigenen Vorstellungen der BewohnerInnen darüber, welche Formen der Beratung, der Hilfe und des Schutzes ihnen wünschenswert erscheinen.

Der psychiatrische Krankheitsbegriff und die entsprechenden Diagnosen spielen für die Arbeit mit den BewohnrInnen keine Rolle und werden von den MitarbeiterInnen als Arbeitsgrundlage prinzipiell abgelehnt. Die BewohnerInnen gelten weder als krank, noch als fremdbestimmt, sondern bleiben für ihr Leben, für ihre Handlungen und Äußerungen selbst verantwortlich. Einer der zentralen antipsychiatrischen Positionen besteht in der Überzeugung, dass es psychische Krankheit als medizinische Kategorie nicht gibt und dass mit der Diagnostizierung einer solchen ›Krankheit‹ neue Probleme erst geschaffen werden, statt bei der Lösung der bestehenden zu helfen.

Diese Position leugnet jedoch nicht – wie häufig fälschlich behauptet – den großen Bedarf an Unterstützung, Zuwendung und Beistand, den Menschen mit Erfahrungen von Verrücktheit, in Lebenskrisen und in den damit einhergehenden sozialen Existenznöten haben, im Gegenteil: Die Ablehnung der psychiatrischen Raster ermöglicht überhaupt erst einen unvoreingenommenen Blick auf die besonderen Schwierigkeiten der Einzelnen und führt zu einer radikalen individuellen Anpassung der jeweiligen Formen der Unterstützung an die spezifische Situation der Betroffenen. Eine zentrale Aufgabe der MitarbeiterInnen des Weglaufhauses besteht unter diesen Voraussetzungen darin, die Balance zwischen der Hilfebedürftigkeit und der Selbstverantwortung der BewohnerInnen immer wieder neu auszutarieren und Umgangsweisen zu finden, die beiden Aspekten so weit als irgend möglich gerecht werden, ohne dabei auf allgemeine Richtlinien oder Patentrezepte zurückgreifen zu können. (...)

Der Trägerverein hat die Konzeption des Weglaufhauses als praxisbezogene und um die Erfahrungen der Selbsthilfebewegung bereicherte Umsetzung antipsychiatrischer Positionen der siebziger und achtziger Jahre entwickelt. Das Weglaufhaus konnte sich so zu einem beschützten Ort entwickeln, an dem die Betroffenen meistens zum ersten Mal die Gelegenheit haben, zwischen Alternativen zu wählen und konkrete psychiatriefreie Lebensentwürfe auch praktisch zu erproben.

Ohne die antipsychiatrische Grundhaltung des Projekts und die daraus resultierende bewusste konzeptionelle Abgrenzung von psychiatrischen Diskursen und Praktiken würde sich das Weglaufhaus in einer psychosozialen Landschaft, die in aller Regel eng mit der Psychiatrie zusammenarbeitet, nach kurzer Zeit in wesentlichen Aspekten nicht mehr von Einrichtungen des sozialpsychiatrischen Versorgungsangebots unterscheiden und damit als Alternative entfallen.

In den Alltag des Weglaufhauses fließen antipsychiatrische Positionen unter anderem in folgende konkrete Verhaltens- und Arbeitsweisen ein:

  • Es gilt das Prinzip vollständiger Transparenz bei der Einsicht von Berichten und Stellungnahmen für Behörden oder andere Einrichtungen und bei Aufzeichnungen der MitarbeiterInnen, die sich auf die BewohnerInnen beziehen. Darüber hinaus gibt es für die BewohnerInnen die Möglichkeit, diese aktiv mitzugestalten. Die BewohnerInnen haben immer das Recht zur Teilnahme an Teamsitzungen oder auswärtigen Terminen, bei denen über sie gesprochen wird. Mit Dritten sprechen die MitarbeiterInnen über die BewohnerInnen nur mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung.

  • Die BewohnerInnen werden in alle wichtigen Entscheidungen, die das Zusammenleben im Haus betreffen, einbezogen, zum Beispiel bei der Einstellung neuer MitarbeiterInnen und PraktikantInnen, bei der Aufnahme von neuen BewohnerInnen, der Gestaltung des Hauses und des Gartens oder Änderungen der Hausordnung.

  • Mindestens die Hälfte der MitarbeiterInnen haben selbst Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht. Bei Neueinstellungen wird darauf geachtet, dass diese Quote erfüllt bleibt. Für alle Entscheidungen des Trägervereins gilt ein Vetorecht der Mehrheit der betroffenen Mitglieder.

  • Innerhalb des Teams selbst gibt es keine Hierarchien, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.

  • Im Weglaufhaus besteht die Möglichkeit, mit Hilfe der MitarbeiterInnen ein Psychiatrisches Testament zu verfassen, in dem die Betroffenen mit größtmöglicher juristischer Absicherung festgelegen können, wie sie in der Psychiatrie (nicht) behandelt werden wollen.

Aus der antipsychiatrischen Kritik folgt keine eindeutige und detaillierte Handlungsanweisung für die Realisierung eines alternativen Ortes zur Bewältigung tiefgreifender sozialer und psychischer Krisen. Eine Institution, die lediglich Theorie und Praxis der Psychiatrie mit umgekehrten Vorzeichen zu ihrer eigenen machte, brächte sich um die Chance, etwas ganz Anderes und Neues in ihre Praxis zu integrieren. Deshalb ist das Weglaufhaus ein auf der Grundlage dieser Kritik konzipierter geschützter Ort, an dem die jeweiligen BewohnerInnen gemeinsam mit den MitarbeiterInnen und den Mitgliedern des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt die Praxis einer antipsychiatrischen Institution überhaupt erst hervorbringen, entwickeln und immer wieder revidieren.« (Weglaufhaus »Villa Stöckle«, 2000)

Resümee

Vieles an Angeboten haben die wenigen antipsychiatrisch ausgerichteten Gruppen verständlicherweise nicht zu bieten. Sie haben notorisch zu wenig Geld und zu wenig MitarbeiterInnen. Psychiatriekritische Gruppen werden in aller Regel von staatlicher Förderung ausgeschlossen. Ständig droht zudem die Gefahr, in den iEinflusskreis dogmatischer Gruppierungen zu gelangen und populistischen Positionen auf den Leim zu gehen.

Propsychiatrische Einrichtungen werden dagegen vom Staat und der Pharmaindustrie mit Milliardenbeträgen bedacht. Anliegen aller psychiatriekritischer Gruppen ist es deshalb, mit Spenden oder aktivem Engagement unterstützt zu werden. Das mindeste ist, ihr humanistisches Anliegen zu respektieren: Menschen in psychischen Nöten sozialer Natur nicht weiter den Anspruch auf Unterstützung und Hilfe zu verwehren, nicht weiter stumm zuzuschauen, wie diese Menschen elektrogeschockt oder mit synthetischen Psychopharmaka ruhiggestellt und als psychisch krank und damit als gemeingefährlich und behandlungsbedürftig, letztlich nicht mehr ernst zu nehmen, verunglimpft werden.

Nur wenn Psychiatriebetroffene in ihrem Streben nach Menschenrechten, rechtlicher Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen und nach finanzieller Absicherung und Unterstützung solidarisch unterstützt werden, kann sich an der jetzigen miserablen Situation etwas ändern. Ein klarer Blick auf die bestehenden Probleme soll dabei helfen.

Angesichts der fortschreitenden Organisierung von Psychiatriebetroffenen und der Konkretisierung der von ihnen entwickelten alternativen Konzepte gerät eine auf der Stelle tretende alte Antipsychiatrie in die Gefahr, sich trotz radikaler Positionen zum Bremsklotz zu entwickeln. Die bloße Kritik an psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen, und mögen diese noch so drastisch sein, wird den Interessen und Problemen vieler Betroffener, die in ihren Nöten mangels Alternativen in der Psychiatrie Hilfe suchen, nicht mehr gerecht, wenn Alternativkonzepte und Organisationsformen der humanistischen Antipsychiatrie ignoriert werden.

Quellen

Copyright 2001 by Peter Lehmann