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des Antipsychiatrieverlags
in: Kerstin
Kempker / Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter
Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 68-77
Trude
Unruh
Alte gegen Psychiatrie: Vormund und Pillen oder eigener
Willen
Aufgrund meiner über 20-jährigen Erfahrungen und Begegnungen
im Kampf für Alterswürde weiß ich, dass ältere
Menschen besonders gefährdet sind, psychiatrisch behandelt
zu werden. Mit steigendem Alter wächst auch die Gefahr, in
einen psychiatrischen Teufelskreis zu geraten. Schon heute kommt
jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens aufgrund sogenannter
psychischer Störungen mit Psychopharmaka, Antidepressiva
oder Neuroleptika, in Berührung. Im Alter nimmt eine solche
'Fachbehandlung' dramatisch zu.
Die Ursachen sind breit gefächert und mit wechselnden, angsterzeugenden
Lebenssituationen verbunden. In einer Gesellschaftsform, in der
die Prämisse »jung, dynamisch, erfolgreich« als
Lebensgrundsatz überbewertet wird, als Vorgabe Gültigkeit
besitzt und somit wirkt, wird Alter zwangsläufig zum Störfaktor
mit den uns allen bekannten Auswirkungen. Die Möglichkeiten,
Erfahrungen und erworbenes Wissen für sich und andere einzusetzen,
werden mit gleichzeitigem Verlust von Kompetenzen, welche für
ein selbstbestimmtes, individuelles Altersleben unabdingbar sind,
drastisch eingeschränkt. Die Altersarmut eine Schande
für jede Gesellschaft mit humanistischem Anspruch
führt im Umgang mit alten Menschen zu beschämenden Behandlungsformen
und unwürdigen Situationen. Betroffen sind hauptsächlich
Frauen, deren Lebens-Arbeitsleistung die Anerkennung, z.B. in
Form eines Alterslohns, verweigert wird; betroffen sind aber auch
Männer, die ein reformbedürftiges Rentensystem in die
Altersarmut treibt. In einer selbstzufriedenen kapitalistischen
Gesellschaft arm zu sein, führt zu Ausgrenzung und Vereinsamung,
die psychische Verletzungen und physische Schädigungen hervorbringen
und nur durch eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte
Sozialpolitik beseitigt werden können.
Als Gründerin des 1975 ins Leben gerufenen Senioren-Schutz-Bundes
'Graue Panther' e.V. habe ich gemeinsam mit vielen engagierten
Menschen Ideen und Konzepte entwickelt und in die Praxis umgesetzt.
Mit eigenen finanziellen Mitteln (ohne öffentliche Förderung)
und dem festen Willen, unsere Rechte und Interessen durchzusetzen,
haben wir 'Grauen Panther' es geschafft, uns gegenseitig vor Willkür
und Bevormundung zu schützen. Das Wissen um die Möglichkeiten
gesellschaftlicher Veränderungen setzt eine Aufklärung
über die Zusammenhänge von Großkapital, Industriegiganten
und 'Wohlfahrts'-Konzernen (mit ihrem Monopol auf 'alles Soziale')
voraus. Der Gebrauch einer Sprache, die Lieschen Müller und
Otto Normalverbraucher verstehen, fördert die Umsetzung von
selbstverwalteten und alternativen Konzepten. In den Medien (Presse,
Rundfunk, Fernsehen) benutzen Politik, Wissenschaft, Verwaltung
usw. in aller Regel eine geschulte, aber für die Betroffenen
unverständliche Fachsprache, die jedoch den Eindruck von
bestem Wissen und Gewissen hinterlässt. Besonders schädlich
wirkt ein solches Latein im Umgang mit alten Menschen: zwischen
Arzt und Patient, ob in der Praxis (ambulante Behandlung) oder
im Heim, in der Klinik bzw. der Anstalt (stationäre Behandlung).
Der Respekt vor den 'Kapazitäten' führt letztendlich
dazu, dass sich alte Menschen bei einer solchen Gesprächsführung
in inhaltslose Wortformeln flüchten oder ganz verstummen.
Der in der Geriatrie, d.h. dem Zweig der Medizin, der sich mit
den Krankheiten des alternden und alten Menschen beschäftigt,
mangelhaft ausgebildete Arzt findet keinen Zugang zu dem hilfesuchenden
Menschen und gewinnt demzufolge auch nicht sein Vertrauen. Dazu
kommt ein Abrechnungssystem der Krankenkassen, die zwar alle möglichen
und unmöglichen Verordnungen bezahlen, die notwendigen intensiven
Gespräche aber nicht. Der Trend zu immer mehr Fachärzten
(60% Fachärzte gegenüber 40% Allgemeinärzte) deutet
den Leidensweg alter Menschen an; sie werden zu einer Irrfahrt
von Facharzt zu Facharzt genötigt. Hilfreich wäre ein
ganzheitlicher Ansatz: mit vertrauensvoll geführten Gesprächen
über persönliche Lebensumstände und durchlebte
Krankheiten und gleichzeitiger sozialer Unterstützung. Die
schnelle Verordnung von Psychopharmaka ist es nicht!
Lebensverhältnisse werden wesentlich von den wirtschaftlichen
Verhältnissen und der Politik geprägt und von der jeweiligen
Wissenschaft unterstützt. Aus dieser Erkenntnis haben wir
'Grauen Panther' von Anfang an eine zweigleisige Strategie zur
Veränderung von Lebensumständen entwickelt und durchgesetzt:
-
den Kampf auf der sozialen Ebene: Wir schaffen einen familienähnlichen
Generationenverbund mit gegenseitiger Hilfe und Schutz (ein
zweites 'Standbein' neben der Familie).
-
den Kampf auf der parlamentarischen Ebene, d.h. die politische
Willensbildung im Generationenverbund, um Gesetze durchzusetzen,
die ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben bis hin
zum Tod garantieren.
Mit spektakulären, medienwirksamen Demonstrationen und Aktionen
machten wird Alten, unterstützt von sozial engagierten jungen
Altenpfleger/innen, Zivildienstleistenden, psychiatrisch Tätigen
und Fachkräften von Krankenhäusern, die Öffentlichkeit
auf den Terror gegen Alte aufmerksam, nachzulesen in unserem Buch
»Schluss mit dem Terror gegen Alte« (Unruh/Seniorenschutzbund
1991).
Eine Flut von Briefen mit erschütternden Schicksalen überschwemmte
die Schreibtische in unserer Bundeszentrale in Wuppertal. Die
Schilderungen psychischer Leidenswege und des damit verbundenen
Elends von Betroffenen und ihren Angehörigen, in unglaublicher
Menge und Vielfalt (unser Bundesarchiv gibt Zeugnis davon), zeigen
mehr als deutlich, dass es sich nicht um sogenannte Einzelfälle
handelt, sondern dass ein unmenschliches System verantwortlich
zeichnet und jede/n von uns treffen kann. Die Politiker/innen
egal welcher politischen Farbe, ob rechts oder links, ob
'christlich' oder 'sozial' lassen sich nicht aufrütteln
und verschanzen sich hinter gegenseitigen Kompetenz- und Schuldzuweisungen;
vielleicht glauben wenigstens sie selbst, dass der
Hinweis, jährlich schlügen Milliarden DM in den öffentlichen
Haushalten für die Alten zu Buche, sämtlichen Handlungsbedarf
erübrigt.
Die Lebensqualität der Betroffenen wird aber trotz steigender
Kosten für die Zwangsversicherten unaufhaltsam verschlechtert,
der qualvolle, durch die Apparatemedizin schier endlos hinausgezögerte
Tod tut sein übriges. Der 'soziale Geldstrom' fließt
um die Betroffenen herum und versickert in dunklen Kanälen
(Korruptionsskandale geben Zeugnis vom parteipolitischen Filz).
Besonders bei den bürgerlichen Parteien ist das Interesse
unübersehbar, den Profit auf Kosten der sogenannten Lebensuntüchtigen
und insbesondere der Alten zu steigern. Die Bevölkerungsentwicklung
(es gibt verhältnismäßig immer mehr alte Menschen)
bietet einen fast unerschöpflichen Markt das Geschäft
mit den Alten blüht.
Wir 'Grauen Panther' werden nicht müde in unserem Kampf
um Alterswürde. Von der Altersarmut betroffen sind hauptsächlich
Frauen (Armut ist weiblich), trotz der riesigen Aufbauleistungen
nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland ein einziger Trümmerhaufen
war. Eine Schande! Folgt aus der Lebensleistung etwa ein Alterslohn?
Nein! Aber in unseren Nachbarstaaten oder in weiter entfernten
Ländern sieht es nicht viel anders aus: Armut im Alter ist
kein deutsches Problem. Auch in den sozial schlechter gestellten
Schichten anderer Industrienationen und den 'Dritte'-Welt-Staaten
sind es in aller Regel Frauen, denen unbezahlte Arbeit als Selbstverständlichkeit
abgefordert wird: z.B. Pflege von Kranken und Alten, Haushalt,
Kindererziehung, Feld- und Gartenarbeit, Bedienung des Gatten,
und dies alles oft neben unterbezahlter Fabrik- oder Heimarbeit.
Die Anerkennung der Lebens-Arbeitsleistung haben wir 'Grauen
Panther' in unserer politischen Forderung nach einer existenzsichernden
Mindestrente von derzeit (März 1993) 1650 DM für Einzelpersonen,
ähnlich der Beamtenmindestversorgung von derzeit 1940 DM
(ohne eigene Einzahlung) zum Ausdruck gebracht. Dieses Einkommen
ist unabdingbar für ein würdiges Leben im Alter. Die
Erfahrung, in einer von Angeboten strotzenden Umgebung im Alter
arm zu sein, erzeugt bei den meisten Menschen zwangsläufig
Resignation, Isolation, Depression und schließlich Flucht
in Krankheiten. Diese Faktoren führen auf einem langen Weg
in das kostspielige und die Versicherungsprämien in schwindelerregende
Höhen treibende psychiatrische 'Pflegebett'. Die Wucherpreise
sind gesetzlich abgesichert, ein gerontopsychiatrisches Pflegebett
kostet zur Zeit 8400 DM monatlich! Ein Bruchteil der Summe, vorbeugend
eingesetzt, reichte aus, die beschämende Armut und den damit
verbundenen Mangel an sozialen Kontakten zu beseitigen. Die Teilnahme
an der Gemeinschaft erhält die Freude am Leben und ist damit
unverzichtbar, um psychische wie physische Krisen zu vermeiden
oder zu bewältigen.
Mit unseren familienähnlichen Kultur-, Wohn- und Lebenshäusern
als Einheit haben wir modellhaft eine Ebene geschaffen, die menschliches
Miteinander, gleich welchen Alters, im Sinne von 'Wahlverwandtschaften'
in würdiger Form möglich macht. Die in Selbstverwaltung
organisierten Graue-Panther-Häuser und -Treffs zeigen seit
17 Jahren, wie Menschen bis ins hohe Alter aktiv sein können
wenn sie ihre 'Wertigkeit' und Würde geachtet wissen
und die Geborgenheit nicht fehlt. Die Selbstverwaltung bringt
automatisch einen hohen Anteil an Mitbestimmung. Mitreden und
Mitgestalten garantieren, dass auch die geringste Fähigkeit
und jedes noch so kleine Talent gebraucht und anerkannt wird.
Die geistige Beweglichkeit wird gefördert und ist in ihrer
vorbeugenden Wirkung gegen Altersverwirrtheit (sogenannte senile
Demenz) nicht hoch genug einzuschätzen. In der Gewissheit
zu leben, die notwendigen organisatorischen und liebevollen Hilfen
zu erhalten, was auch kommen mag, lässt Menschen vertrauensvoll
aus sich herausgehen.
Das 'Lebensrisiko' verliert seinen krankmachenden Schrecken,
die Geborgenheit zählt. Wir tauschen wertvolle Tips aus,
sei es im Umgang mit Behörden, eigenen Familienproblemen
oder der Nachbarschaft mit ihrem möglichen Unverständnis
gegenüber alten Menschen. Die alternative Medizin (Homöopathie
und Naturheilkunde) gewinnt an Bedeutung, weil man bekanntlich
nicht 'mit Kanonen auf Spatzen schießen' soll. Aber genau
das geschieht häufig, wenn alte Menschen mit Beschwerden
zum Arzt gehen. Die Verordnungen von schweren chemischen Medikamenten
und Psychopharmaka (mit den dazugehörenden schädigenden
Nebenwirkungen) sind oftmals der Einstieg in einen Drogen-Teufelskreis,
der zu Tablettenabhängigkeit und -missbrauch führt.
Sogenannte Geriatrie-Seminare für Ärzte reichen bei
weitem nicht aus, um Körper und Seele bei verwirrten alten
Menschen zutreffend zu beurteilen und damit mögliche Heilungschancen
aufzuzeigen. In unserer Zeitschrift Grauer Panther ist
eine ganze Reihe guter Vorschläge abgedruckt, die der Berliner
Ärztekammerpräsident Ellis Huber zur Überwindung
der Apparatemedizin und zur Eindämmung der Tablettenflut
gemacht hat. Würden die Ärzte z.B. in selbstverwalteten
Gesundheitszentren angestellt und nach BAT (Bundesangestelltentarif)
Ib bezahlt, könnte bei gleichen Gesamtkosten die Zahl behandelnder
Ärzte verdoppelt werden. Die hätten dann mehr Zeit für
den einzelnen Patienten und müssten ihr Einkommen nicht mehr
durch die Verschreibung unnützer Medikamente in die Höhe
treiben. Ihre Arbeit sollte teamorientiert sein, kooperativ, mit
pflegerischen und sozialen Diensten vernetzt und auf die Förderung
von Selbsthilfe ausgerichtet. Vorrang sollten teilstationäre,
ambulante und wiedereingliedernde Hilfen haben, deren Nutzen am
Beispiel von Schlaganfall-Patienten besonders deutlich würde.
Ellis Huber:
Deren rehabilitative Chancen werden in der akuten Versorgung
vertan, und mancher rüstige Rentner wird im Akutkrankenhaus
zum resignierten und hilflosen Versorgungsfall. Die Trennung der
Versorgungsinstitutionen für Akut-Kranke und Chronisch-Kranke
oder die Aufsplitterung von Einrichtungen in kurative (pflegerische)
und rehabilitative Versorgungseinheiten ist ebenso lebensfeindlich
wie die Aufspaltung von Problemen älterer Menschen in Krankheit
und Pflegebedürftigkeit. (zit.n. »Absicherung«
1992, S. 28)
Die Geriatrie steckt, auch in Deutschland, noch in den Kinderschuhen
ein Verhängnis für alte Menschen. Psychopharmaka
aller Art, insbesondere Antidepressiva und Neuroleptika, sind
in der Arztpraxis und im Altersheim die häufigste Antwort
auf psychische Probleme. Folge ist oft die Einweisung in eine
Psychiatrische Anstalt. Ein Bett, ein Nachtschränkchen, ein
Handtuch, die Abhängigkeit vom Sozialamt und viele Pillen
ist alles, was einem so behandelten alten Menschen bis zum Tode
bleibt. Wie schädlich die normale psychiatrische 'medikamentöse'
Behandlung ist, haben in letzter Zeit einige Studien zutage gebracht.
So haben Mediziner z.B. nachgewiesen, dass in psychiatrischen
Einrichtungen Neuroleptika-behandelte alte Menschen unter der
Wirkung dieser Mittel überdurchschnittlich oft hinfallen,
Oberschenkelhalsbrüche usw. erleiden und deshalb vergleichsweise
früher sterben als alte Menschen, die keine psychiatrischen
'Medikamente' einnehmen müssen (Ray u.a. 1987). Drei Jahre
zuvor hatten schottische Forscher eine Untersuchung über
die Ursachen der Schüttellähmung veröffentlicht,
die bei 95 älteren Menschen zur Überweisung in eine
Geriatriestation geführt hatte. Dabei stellte sich heraus,
dass es die psychiatrischen 'Medikamente' waren, die bei mehr
als der Hälfte der teilweise nicht einmal mehr gehfähigen
Kranken die Schüttellähmung verursacht hatten; in keinem
einzigen dieser Fälle war die Verabreichung der Psychopharmaka
berechtigt gewesen (Stephen/Williamson 1984). Der US-Amerikaner
Wolf Wolfensberger beschreibt in seinem Buch »Der neue Genozid
an den Benachteiligten, Alten und Behinderten« (1991) die
Hintergründe des vielfältigen direkten und indirekten
»Totmachens« durch Täter, die subjektiv nicht einmal
glauben, dass sie Menschen töten, und durch Methoden, die
perfekter und umfassender als die der Nationalsozialisten seien:
Menschen werden als abweichend definiert, gesellschaftlicher Missachtung
preisgegeben, zu Objekten unpersönlichen staatlichen Handelns
gemacht, abgesondert und nicht ausreichend versorgt, dabei werden
all diese, gegen den einzelnen und oft wehrlosen Menschen gerichteten
Maßnahmen nach außen als Wohltaten ausgegeben. Ein
schlimmer Faktor unter vielen anderen ist laut Wolfensberger
die bewusstseinsverändernden psychiatrischen 'Medikamente',
die lebensnotwendige Körperfunktionen schwächen; tritt
schließlich als Endglied einer 'unschuldigen' Ereigniskette
der Tod ein, würde, wie dies häufig vorkomme, die Todesursache
als unerklärlich definiert. Wolfensberger:
Man steht fassungslos davor, in welchem Ausmaß
alltäglich getötet werden kann, ohne dass jemand auch
nur auf die Idee kommt, dass dies Töten sei. (S. 63)
Es gibt keinen Grund anzunehmen, in Deutschland oder in anderen
Ländern sei für die Sicherheit der alten Menschen gesorgt.
Henning Hülsmeier, offenbar ein Psychiater, beschreibt in
einer Untersuchung von 222 Zwangsuntergebrachten einer Psychiatrischen
Anstalt in Rheinland-Pfalz (1980) die lebensgefährlichen
Folgen der oft formalgesetzlich fragwürdigen vorläufigen
psychiatrischen Unterbringung, unter der alleinstehende, ältere
Frauen aus sozial benachteiligten Schichten besonders zu leiden
haben. Der jeweilige Richter würde zu einem »Erfüllungsgehilfen«
der Betreiber der Unterbringung (Familie, Gemeinde, Psychiater),
statt deren Berechtigung objektiv zu überprüfen: »...
er wird zu einer Art Jasager, wenn ein Minimum an Begründungen
formell und inhaltlich zusammengekommen ist.« (S. 106) Einmal
vorläufig in der Anstalt, zögern Gerichte und Psychiater
eine Anhörung, bei der sich die Untergebrachten verteidigen
könnten, oft über mehrere Wochen hinaus. Dann sind letztere
mit Psychopharmaka vollgepumpt und apathisch, so dass sie sich
nicht mehr wehren können, oder es kommt überhaupt nicht
mehr zum Gerichtstermin:
Der Grund lag einmal im Tod des Untergebrachten. Die
Häufung der Todesfälle in den ersten zwei bis drei Wochen
ist erschreckend: 40%. (...) 95,5% aller Todesfälle lagen
bei Personen jenseits des 50. Lebensjahres. (S. 108)
Von den 57 untersuchten über 62jährigen, die den Gerichtstermin
nicht mehr erlebten, waren 15 innerhalb von zwei Wochen tot, 19
innerhalb eines Monats und 28 innerhalb zweier Monate. Hülsmeier:
... dass 60% dieser 57 Patienten in der Altergruppe
über 62 Jahre in den ersten Wochen nach der Entwurzelung
sterben, ist barbarisch. Selbst von den Patienten zwischen 52
und 61 Jahren stirbt ja auch fast noch ein Viertel ziemlich kurz
nach der Zwangsunterbringung. (S. 108)
Auch in anderen Einrichtungen, die von Psychiatern 'betreut'
werden oder in denen Pflegepersonal Psychopharmaka verabreicht,
wie z.B. in den meisten Altenheimen, können sich die Betroffenen
ihres Lebens nicht sicher sein. Auf einer der letzten Rechtsmediziner-Kongresse
wurde dementsprechend gewarnt, wie die Frankfurter Rundschau
am 13. September 1990 unter der Überschrift »'Welle
von unnatürlichen Todesfällen' in Altenheimen?«
berichtet:
Rechtsmediziner befürchten in der Bundesrepublik
eine starke Zunahme unnatürlicher Todesfälle bei alten
Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Es gebe »genügend
Anhaltspunkte, dass wir am Beginn einer solchen Entwicklung stehen«,
erklärte der Rechtsmediziner an der Universität des
Saarlandes, Professor Hans-Joachim Wagner, am Mittwoch in Köln
zum Auftakt der 69. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Rechtsmedizin. Zur Begründung seiner »makabren Prognose«
führte Wagner an, dass aus Sicht der Rechtsmediziner schon
jetzt die Zahl der Todesfälle »in besonderem Maße«
zugenommen hat, bei denen Patienten offenbar zu viel Psychopharmaka
oder Herzmittel verabreicht bekommen haben und vergiftet worden
seien. Bei den seltenen Ermittlungsverfahren in diesen Fällen
sei es für den Rechtsmediziner aber schwierig, sämtliche
Hintergründe des Todes zu erhellen. Es sei zu fragen, ob
die in Kliniken und Pflegeheimen in Wuppertal, Nürnberg und
Wien bekannt gewordenen Fälle von Morden an Patienten nur
»die Spitze eines Eisberges« seien. (»Welle«
1990)
Vergessen sollten wir angesichts neuerer Entwicklungen auch nicht,
dass Psychiater weltweit wieder verstärkt elektroschocken
und dass von dieser hirnschädigenden Behandlung insbesondere
immer mehr ältere Menschen und unter diesen am häufigsten
Frauen betroffen sind (Frank 1990, S. 494; siehe auch »Auf
dem Weg zum Verbot des Elektroschocks« von Peter Breggin
in diesem Buch).
Mangelnde Flüssigkeitszufuhr ist bis zu ca. 50% verantwortlich
für Altersverwirrtheit; alte Menschen, besonders wenn sie
unter Psychopharmakawirkung dahindämmern, trinken zuwenig.
Der derart unterversorgte Mensch reagiert mit dem Abbau seiner
körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Diese Erkenntnis
hat aber bis heute nicht dazu geführt, dass alte Menschen
in Anstalten, Kliniken und Pflegeheimen ausreichend mit Flüssigkeit
versorgt werden, und das, obwohl sie zu Preisen untergebracht
sind, wie sie in Luxushotels üblich sind. In welcher Gesellschaft
leben wir eigentlich?
Die schnellebige hochtechnisierte Computerwelt, der ständig
wachsende Straßenverkehr mit allen seinen absurden Auswüchsen
und die riesigen Einkaufszentralen ohne persönliche Kontakte
haben ihre verwirrende Wirkung auf viele Menschen, ganz besonders
auf alte, die in einer ganz anderen Welt großgeworden sind
und jetzt ein friedliches, ihren Erfahrungen gemäßes
Leben wollen. Ein Unglücksfall, ganz gleich ob zu Hause oder
in fremder Umgebung, ruft ein Notarztsystem auf den Plan, welches
ungeeignet ist, alten Menschen in Akutsituationen in sanfter Weise
zu helfen. Wir 'Grauen Panther' haben Vorschläge ausgearbeitet,
die alte Menschen vor übereilten Einweisungen in Anstalten,
Großkliniken usw. bewahren. Jeder Notarzteinsatz sollte
mit einem Pflegeteam (z.B. für die Nacht) ausgerüstet
sein, um alten Menschen kostspielige und angsterzeugende Einweisungen
zu ersparen. Aus einer Akutsituation heraus entsteht erschreckend
häufig ein Langzeitpatient, ohne wiedereingliedernde (rehabilitative)
Maßnahmen gar ein Pflegefall. Familienangehörige sind
oftmals hoffnungslos überfordert. Mit sich und ihren eigenen
Problemem beschäftigt (hohe Scheidungsrate, Berufstätigkeit,
überfüllte und zu kleine Wohnungen) wird die Frage,
welche Tochter oder Schwiegertochter (90% der Pflegenden sind
Frauen) den pflegerischen und psychischen Beistand leisten soll,
zum Familiendrama. Sozialarbeiter in Krankenhäusern raten
mangels vorhandener ambulanter oder finanzierbarer pflegerischer
Angebote in solchen Extremsituationen oft zu Heimeinweisungen,
zum Teil weit weg vom Heimatort. Diese ungenügende Unterstützung
lässt Betroffene sowie Angehörige verzweifeln. Die wirksame
Reform der Gesundheitsreform ist aus volkswirtschaftlichen wie
auch aus rein menschlichen Erwägungen dringend notwendig!
Der Leitsatz muss sein: So wenig stationär wie nötig
so viel ambulant wie möglich.
Vielfältige Angebote à la Graue-Panther-Modelle sind
vonnöten, damit individuelle Lösungen altersspezifischer
Probleme sofort machbar werden. In jeder Kirchengemeinde könnten
solche Modelle organisiert werden und wären endlich glaubhafte
Beiträge christlicher Nächstenliebe. (»Nehmet einander
an« war z.B. das Motto des Kirchentags 1991; ist dies vereinbar
mit der Abschiebung alter Menschen?) Die Ausgrenzung von schutzlosen
alten Menschen in unbewältigten Situationen ist menschenverachtend.
Es muss ein Altenschutzgesetz her, das die Voraussetzung zur
Sicherung der Würde, zum Verbot der Diskriminierung von alten
Menschen und zum Durchsetzen von Geborgenheit schafft. Niemand
weiß, wann sie bzw. er in den Teufelskreis der verfehlten
Sozialpolitik gerät. Deshalb fordern wir 'Grauen Panther'
seit Jahren Politiker, Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen,
Psychiater, Fachpersonal, Betroffene und ihre Angehörigen
auf, wenn sie diesen unhaltbaren, unwürdigen Zustand ändern
wollen, mit uns für eine individuelle Lebensgestaltung bis
zum Tod zu kämpfen und uns zu unterstützen. Denn es
gilt für alle, auch wenn manche nicht daran glauben wollen:
»Heute wir morgen ihr!« Es geht uns alle an:
Im Alter dem Psychiater ausgeliefert sein? Nein danke!
Das neue Betreuungsgesetz, ab 1. Januar 1992 gültig, ermöglicht
eine individuelle Lebensgestaltung in bezug auf Willensäußerungen
der Betroffenen und Umsetzung durch die jeweiligen Betreuer, sofern
diese den Willen der Betroffenen respektieren (siehe der Beitrag
»Zwangspsychiatrie und Zwangsbehandlung in Deutschland. Ein
Ratgeber für Psychiatrie-Betroffene« von
Rudolf Winzen in diesem Buch). Wer sich über die Rechtslage
älterer Menschen besonders intensiv informieren will, dem
sei empfohlen, sich in der Bibliothek das Buch von Thomas Klie:
»Recht der Altenhilfe. Gesetzes- und Vorschriftensammlung
für die Altenhilfe und Altenpflege« (Hannover: Vincentz
Verlag 1991, 820 Seiten, DM 76,) anzuschauen. Es ist eine
unkommentierte Sammlung deutscher Gesetzestexte unter anderem
aus den Bereichen Recht 'psychisch Kranker', Gesundheitsschutzrecht,
Heim-, Sozial- und Mietrecht, unter Berücksichtigung des
Einigungsvertrags, des Betreuungsgesetzes und der Entwürfe
geplanter Gesetze, z.B. des Gesundheitsreformgesetzes und des
neuen Heimgesetzes.
Besonders häufig wird gegen den Willen von vereinzelten
alten Menschen in Institutionen verstoßen. Eine Reihe mehr
oder weniger altersspezifischer Krankheiten, wie z.B. Schüttellähmung
(Parkinson-Erkrankung) oder Alzheimer'sche, kann zusätzlich
die Widerstandskraft gegen Bevormundung und unerwünschte
medizinisch-psychiatrische Behandlung schwächen. Fritz Hasper
und Peter Lehmann vom Berliner Verein zum Schutz vor psychiatrischer
Gewalt e.V. empfehlen deshalb ein sogenanntes Psychiatrisches
Testament, d.h. eine rechtswirksame Vorausverfügung für
den Fall einer möglichen unerwünschten psychiatrischen
Behandlung in Situationen, in denen die einzelnen Betroffenen
sonst wehrlos wären:
Sollten Sie, wie viele Leute, die noch nicht in der
Anstalt waren, glauben, es sind nur die anderen, die sich in der
Gefahr der Psychiatrisierung befinden, Ihnen könne das nicht
passieren, so kennen Sie möglicherweise Menschen, die schon
von psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen betroffen waren.
Sie können diese Menschen von einem großen Angstdruck
befreien, wenn Sie sie auf die Möglichkeit des Psychiatrischen
Testaments hinweisen. Übrigens: Alle Menschen in Altenheimen
brauchen den Schutz des Psychiatrischen Testaments. (Hasper/Lehmann
1988; siehe auch den Beitrag »Theorie und Praxis des Psychiatrischen
Testaments« von Peter Lehmann in diesem Buch).
Der Senioren-Schutz-Bund 'Graue Panther' e.V. übt im Rahmen
des selbstentwickelten Ringmodells seit Jahren diese Betreuung
aus und schafft damit die notwendigen Voraussetzungen zur positiven
Wirkung des Betreungsgesetzes.
Die Pflegeversicherung muss kommen, allerdings so, dass die Betroffenen
selbst über ihr Pflegegeld verfügen können und
leben und sterben dürfen, wo und wie sie es selbst wollen...
egal ob Haus- oder Heimpflege, ob mit oder ohne Betreuungsperson
(siehe »Absicherung« 1992).
Ich selbst, mit meinen 67 Jahren, lebe geborgen mit 29 weiteren
Mitgliedern (von 9 bis 92 Jahren), zu denen auch mein Ehemann
gehört, im familienähnlichen Kulturhaus in Wuppertal;
auch meine Lebensfreundin Christa Aulenbacher, im Seniorenschutzbund
'Graue Panther' e.V. Bundesbeauftragte für Psychiatrie, gehört
seit fünf Jahren dazu. Eine Reihe von 'Grauen Panthern' ziehen
es vor, alleine oder in einer Kleinfamilie zu leben. Gemeinsam
kämpfen wir für eine menschlichere Politik.
Ich werde nichts unversucht lassen, um 1994 mit Herz, Unruh und
Verstand und gemeinsam mit 50 weiteren 'Grauen Panthern' wieder
in den deutschen Bundestag zu kommen. Ich wünsche mir, dass
auch in anderen Staaten sofern sie nicht schon damit begonnen
haben die 'Grauen Panther' aus ihrem Dornröschenschlaf
aufwachen, aktiv werden und ihre Geschicke wieder in die eigenen
Hände nehmen. »Grau kommt« ... im Generationenverbund:
Das ist die menschliche Zukunft für alt und jung! In dieser
Hoffnung lebe und kämpfe ich.
Immer dabei!
Ihre Trude Unruh
P.S. Wer mehr von uns, unseren Vorstellungen, Modellen,
Aktionen und Erfahrungen wissen will, ist herzlich aufgefordert,
mit uns Kontakt aufzunehmen. Adresse: Senioren-Schutz-Bund (SSB)
'Graue Panther' e.V., Rathenaustr. 2, 42277 Wuppertal, Tel. 02
02 / 66 55 43. Wir können Ihnen mitteilen, wie Sie in Ihrer
Nähe mit organisierten 'Grauen Panthern' in Verbindung kommen
können. In unserer gleichnamigen Zeitschrift finden Sie zudem
regelmäßig Hinweise auf Veranstaltungen und Reisen,
die unser Generationen Bildungswerk 'Graue Panther' e.V.
unternimmt und denen Sie sich gerne anschließen können.
Programme können Sie sich aber auch vom Generationen Bildungswerk
'Graue Panther' e.V., Dickmannstr. 24, 45143 Essen, Tel.
02 01 / 64 25 20, direkt zuschicken lassen.
Quellen
-
"Absicherung des Pflegerisikos für alte und junge Menschen.
Keine neue staatliche Bevormundung der Bürger" (1992),
in: Mitteilungen der Überpartei Die Grauen, Juli 1992, S. 7-8,
Beilage zu: Grauer Panther, 10. Jg., Nr. 9
-
Frank,
Leonard Roy (1990): Electroshock: Death, Brain Damage, Memory
Loss, and Brainwashing, in: Journal of Mind and Behavior,
Vol. 11, Nr. 3/4, S. 489 502 (deutsche Übersetzung:
»Elektroschock« in: Peter Lehmann, Schöne neue
Psychiatrie, Band 1: Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
Berlin 1996, S. 287-319 (E-Book 2022)
-
Hasper,
Fritz / Lehmann, Peter (1988): "Wollen Sie elektrogeschockt
werden, sollten Sie mal ausrasten? Oder lieber nicht? Wie können
Sie sich schon jetzt vor unerwünschten psychiatrischen Maßnahmen
schützen?", Berlin: Flugblatt
-
Hülsmeier, Henning (1980): "Justiz und Anstaltsunterbringung.
Zwangseinweisung von Geisteskranken und Suchtkranken in Rheinland-Pfalz",
in: Medizin, Mensch, Gesellschaft, 5. Jg., Nr. 2, S. 100-110
-
Ray, Wayne u.a. (1987): "Psychotropic drug use and the
risk of hip fracture", in: New England Journal of Medicine,
Vol. 316, Nr. 7, S. 363-369
-
Stephen, Pamela J. / Williamson, J. (1984): "Drug-induced
parkinsonism in the elderly", in: Lancet, II, Nr. 8411,
S. 1082-1083
-
Unruh, Trude / Seniorenschutzbund 'Graue Panther' (Hg.) (1991):
"Schluss mit dem Terror gegen Alte. Fallbeispiele und
Gegenaktionen", Essen: Klartext Verlag
-
"'Welle von unnatürlichen Todesfällen' in Altenheimen?"
(13. September 1990), in: Frankfurter Rundschau, S. 32
-
Wolfensberger, Wolf (1991): "Der neue Genozid an den Benachteiligten,
Alten und Behinderten", Gütersloh: Jakob van Hoddis Verlag
Über die Autorin
Geboren am 7. März 1925 in Essen. Fast 50 Jahre verheiratet,
2 Söhne. 1975 Gründerin des Senioren-Schutz-Bundes (SSB) 'Graue
Panther' in Wuppertal. Von 1987 bis 1990 Mitglied des Deutschen
Bundestags für die Grünen. Bundesvorsitzende der Überpartei
Die Grauen, initiiert vom SSB 'Graue Panther', gegründet 1989.
Buchveröffentlichungen: "Aufruf zur Rebellion. 'Graue Panther'
machen Geschichte", Essen: Klartext 1984; "Grau kommt das
ist die Zukunft. Ein politisches Bekenntnis", München: Goldmann
1990; Herausgeberin von: "Trümmerfrauen. Biografien einer betrogenen
Generation", Essen: Klartext 1987; "Tatort Altenheim. Zivildienstleistende
berichten", Essen: Klartext 1989; "Schluß mit dem Terror gegen
Alte. Fallbeispiele und Gegenaktionen", Essen: Klartext 1991 (gemeinsam
mit dem Seniorenschutzbund 'Graue Panther'); u.v.m. (Stand: 1993).
Trude Unruh starb am 30. November 2021.
© 1993 by Trude Unruh
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