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des Antipsychiatrieverlags
Vortrag bei der Studientagung »Psychisch Kranke und Menschenrechte
in Deutschland: Eine Herausforderung?«, Katholische Akademie
Trier, 27.-29. März 2000
Peter
Lehmann
Perspektiven einer europäischen Psychiatriecharta
Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Psychiatriebetroffene zu
Hunderttausenden in Deutschland und anderen Ländern ermordet
oder sterilisiert. Seit 1945 wurden sie nur noch lobotomisiert,
elektrogeschockt, insulingeschockt, psychopharmakologisch ruhiggestellt
oder sonstwie manipuliert.
Heute gehören Zwangsbehandlung und deren Drohen zur Tagesordnung.
Am höchsten im europäischen Rahmen ist
die Zwangsbehandlungsrate bei alten Menschen (vor allem Frauen),
Armen und ethnischen Minderheiten. Schwierigkeiten auf sozialer
Ebene werden immer noch ignoriert, obwohl bekannt ist, dass sie
es sind, die vornehmlich zur Entstehung und Eskalation der Probleme
führen. Man sucht lieber in Genen.
I. Der Ausschluss von Psychiatriebetroffenen aus Entscheidungsgremien
In Psychiatriechartas der Vergangenheit wurden Psychiatriebetroffene
nicht einbezogen. Psychiatriebetroffene sind in aller Regel auch
nicht in Entscheidungsgremien der öffentlichen Einrichtungen,
Verwaltungen und der Politik vertreten. Dabei wäre es so
wichtig, ihnen Gehör zu geben.
Die Bedeutung der Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen wurde
deutlich im Rahmen der Konferenz »Balancing Mental Health
Promotion and Mental Health Care« (»Förderung der
psychischen Gesundheit und psychiatrische Betreuung im Gleichgewicht«),
einer gemeinsamen Veranstaltung der WHO (World Health Organization;
Weltgesundheitsorganisation) und der Europäischen Kommission
in Brüssel im April 1999. Neben schätzungsweise 70 psychiatrisch
Tätigen und anderen Personen war auch ich als ENUSP-Repräsentant
eingeladen. Die Notwendigkeit einer zukünftig hoffentlich
verstarkten Einbeziehung Psychiatriebetroffener wurde besonders
deutlich, als sämtliche Vorschläge für eine zukünftige
psychosoziale Versorgung abgelehnt werden sollten.
Erst nach massiver Kritik und mit freundlicher Unterstützung
der Repräsentanten der Europäischen Union wurden einige
unserer Positionen dem Consensuspapier zugefügt:
-
Förderung von Selbsthilfeansätzen und nicht-stigmatisierenden,
nicht-psychiatrischen Ansätzen
-
aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik
-
Freiheit zur Auswahl aus Behandlungsangeboten zur Stärkung
der Menschenrechte (World Health Organization / European Commission
1999, S. 9)
Auch Psychiatriebetroffene wollen Rechtssicherheit. Psychiatriebetroffene
folgen den Gesetzen oder verstoßen gegen sie wie alle anderen
Menschen auch. Menschenrechte sind nicht teilbar. Psychiatriebetroffene
müssen dieselben Rechte haben wie sogenannte normale Patienten.
Und sie sollen eine angemessene, selbst definierte Hilfe bekommen,
wenn sie Hilfe wollen.
Dies ist meine Kernaussage. Eine Psychiatriecharta kann sich
prinzipiell nicht unterscheiden von einer Menschenrechtscharta.
Wenn Menschenrechte als unteilbar gelten, dann müssen sie
uneingeschränkt auch für Psychiatriebetroffene gelten.
Eine Psychiatriecharta muss lediglich auch auf die speziellen
Bedürfnissen Psychiatriebetroffener eingehen, so wie eine
Altencharta auch auf die speziellen Bedürfnisse älterer
Menschen eingehen muss.
II. Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit
Brauchen Psychiatriebetroffene besondere Rechte oder Gleichberechtigung?
Diese Frage spielte eine Rolle bei einem Seminar des Europäischen
Netzwerks von Psychiatriebetroffenen 1994 in Kolding. Hier Statements
von Kerstin Kempker aus Deutschland und von Krystof Paszek aus
Polen:
»Sollten wir besondere Rechte fordern? Nein. Wir sollten
gleiche Rechte fordern: Menschenrechte und das Recht, psychiatrische
Behandlung zu verweigern, so wie dies auch bei jeder anderen
medizinischen Behandlung der Fall ist. Eingesperrtwerden (ohne
ein Verbrechen begangen zu haben), Zwangsbehandlung und fehlende
Aufklärung über die Risiken der Behandlung sollten
verboten und juristisch verfolgt werden. Psychiater sollten
für die Schäden, die sie verursachen, rechtlich belangt
werden. Ihre Opfer sollten Schadensersatz erhalten.« (Kempker
1996)
»Meiner Ansicht nach sollten Menschen mit psychischen
Problemen die gleichen Rechte haben wie andere auch. Wir brauchen
keine besonderen Rechte, um ein humanes Leben zu führen.
Die Tatsache, dass wir psychische Probleme haben, ist kein Indikator
dafür, dass wir besser oder schlechter als andere Gesellschaftsmitglieder
sind. Wichtiger ist (...) der Kampf um Menschenrechte. (...)
Grundsätzlich brauchen wir das Recht, über unser Leben
selbst zu entscheiden.« (Paszek 1996, S. 20f.)
III. Bedrohung der Menschenrechte durch das White Paper
Ganz neu ist das »WHITE PAPER zum Schutz der Menschenrechte
und der Würde von Personen, die an psychischen Störungen
leiden, speziell denjenigen, die in psychiatrischen Einrichtungen
zwangsuntergebracht sind«, Entwurf einer Arbeitsgruppe des
Steering Committee on Bioethics des Europarats. Es geht um die
Aktualisierung der Europarat-Empfehlung R 2 von 1983 über
den juristischen Schutz von Zwangsuntergebrachten und der Empfehlung
1235 von 1994 über Psychiatrie und Menschenrechte. Das Papier
beinhaltet eine massive Diskriminierung der Menschenrechte.
Passiert es den Beratungsausschuss und wir in eine Konvention
geformt, die vom Europarat verabschiedet wird, so setzte es ein
umfassendes Recht der Psychiater auf Behandlung durch, innerhalb
der Anstalt wie auch außerhalb.
Selbst nach Verlassen von psychiatrischen Einrichtungen nach
akuten Aufenthalten sollen Psychiatriebetroffene möglicherweise
lebenslang in der »Freiheit« zur vorbeugenden Dauerbehandlung
mit psychiatrischen Psychopharmaka gezwungen werden können.
Selbst in psychiatrischen Kreisen ist ambulante Zwangsbehandlung
ein umstrittenes Thema: So nahm die Vollversammlung der World
Federation for Mental Health im September 1999 in Santiago de
Chile auf ihrer Vollversammlung diese Resolution des World Network
of Users and Survivors of Psychiatry (WNUSP) an:
»Aufgrund der Sorge über die Ausbreitung gemeindenaher
Zwangsbehandlung wurde beschlossen, dass die WFMH den Widerstand
von WNUSP gegen gemeindenahe psychiatrische Zwangsbehandlung
unterstützt.«
Sogar Elektroschocks sollen gegen des Willen der Betroffenen
verabreicht werden können. All dieses ist ein eklatanter
Verstoß gegen Artikel 3 (körperliche und geistige Unversehrtheit)
der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie gegen
Art. 8 EMRK (Privatleben). Bei Ablehnung seitens der Betroffenen
soll in einigen Ländern noch nicht einmal eine unabhängige
richterliche Entscheidung nötig sein, statt dessen soll die
Erlaubnis eines Anstaltssozialarbeiters oder Anstaltsmanagers
für den Vollzug der Behandlung ausreichen können.
In einer Stellungnahme an das Bundesministerium für Justiz
sah der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. in all diesen
Vorschlägen eindeutige Verstöße gegen sämtliche
Bemühungen um Aufhebung rechtlicher Ungleichbehandlung und
um rechtliche Gleichstellung mit körperlich Kranken.
Die positiven Seiten des Entwurfs treten angesichts der anstehenden
Bedrohung unserer Menschenrechte völlig in den Hintergrund
bzw. nehmen eine geradezu zynischen Charakter an: Während
Psychiatriebetroffenen die Verfügungsgewalt über die
eigene körperliche Unversehrtheit umfassend abgesprochen
werden kann, sollen sie mit dem Recht auf ein Nachtkästchen
in stationären psychiatrischen Einrichtungen abgespeist werden.
Letztlich atmet das Papier dieser neuen Bioethik-Konvention (die
Autoren dieses Entwurfs sind nicht namentlich erwähnt) denselben
Geist wie die bekannte Bioethik-Konvention der 90er Jahre, die
die Forschung an sogenannten Nichteinwilligungsfähigen erlaubt.
In den Jahren des Faschismus zeigten sich zum ersten Mal auf breiter
Ebene die verhängnisvollen Konsequenzen der völligen
Entrechtung sozial Schwacher.
Eine Behandlung gegen den eigenen Willen sollte grundsätzlich
auf denselben Rechtsgrundlagen basieren wie im medizinischen Bereich:
Behandlung nach informierter Zustimmung. Die Aufklärungspflicht,
gegen die in psychiatrischen Einrichtungen offenbar ständig
verstoßen wird, ist endlich durchzusetzen. Ist der bzw.
die Untergebrachte zu einer rechtsgeschäftlichen Erklärung
außer Stande, ist auf seinen bzw. ihren natürlichen
Willen abzustellen. Kann er bzw. sie auch diesen nicht äußern,
dann ist auf eine vorher abgegebene Erklärung abzustellen.
Ist eine solche nicht erkennbar, dann ist von einer Versagung
der Einwilligung auszugehen.
Anstelle einer Ausdehnung des Anwendungsbereich nicht
unumstrittener psychiatrischer Sondergesetze auf »psychische
Störungen«, worunter alles und nichts zu fassen ist,
sollten nur solche Personen ihrer Freiheit beraubt und in geschlossene
Einrichtungen gebracht werden, die durch nicht nur vorübergehenden
Verlust der Selbstkontrolle ihr eigenes Leben oder das Leben andere
erheblich gefährden sofern diese Gefahr nicht anders
abgewendet werden kann.
IV. Sonderbehandlung Elektroschock
Wie wichtig eine vernünftige Psychiatriecharta ist, zeigt
der Skandal, dass nicht einmal dem Einsatz von Elektroschocks
ohne informed consent (Einwilligung nach Aufklärung über
die Risiken) ein Riegel vorgeschoben werden soll. In den letzten
Jahren werben Psychiater und deren journalistische Lobby wieder
für mehr Elektroschocks. Gegenüber der Münchner
Illustrierten äußerte Fritz Reimer, ehemaliger
Vorsitzender den Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Nervenheilkunde e.V. (DGPN), 1988:
»Ich hoffe, dass bald alle wieder schocken. In Schweden,
der Schweiz, England oder Holland hat die Psychiatrie einen
wesentlich höheren Standard, d.h. es wird dort sehr viel
mehr geschockt als bei uns.« (zitiert nach: Förster
1988, S. 22)
Here Folkerts von der Universitätsanstalt Münster forderte
1995 in der Psychiater- und Neurologenzeitschrift 'Nervenarzt',
auch verschiedenste neurologisch begründete Krankheiten sollten
zum Anlass für Elektroschocks genommen werden. Bedenken seien
zumeist nicht angebracht: »Entgegen der Erwartung mancher
Neurologen oder Internisten gibt es kaum Kontraindikationen...«
U.a. nannte er folgende Indikationen für Elektroschocks:
Schüttellähmung, Encephalomyelitis disseminata (multiple
Sklerose; entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems),
Alzheimer-Demenz, Jakob-Creutzfeld-Erkrankung (mit Muskelstörungen
und deliranten Symptomen einhergehende Erkrankung des ZNS), Veitstanz,
Alkohol- und Barbituratentzugsdelir, Wernicke-Enzephalopathie
(Stammhirnerkrankung u.a. bei chronischem Alkoholismus und der
Vitaminmangelkrankheit Beriberi), Schädelhirntrauma, Hirntumor,
Myasthenia gravis (fortschreitende Schwäche der quergestreiften
Muskulatur), Muskeldystrophie (fortschreitende entzündliche
Muskelerkrankung mit Schwund der rumpfnahen Muskulatur), Friedreich-Ataxie
(mit fortschreitendem Muskelschwund einhergehende Erkrankung des
ZNS), Morbus Wilson (Symptomenkomplex mit u.a. Leber und Gehirn
betreffender Degeneration). Allerdings, so Folkerts bedauernd,
»... sind die immer noch grassierenden Vorurteile gegenüber
der EKT auszuräumen. Diese effektive Behandlung sollte
keinem Patienten aus Unkenntnis oder wegen emotionaler Ablehnung
vorenthalten bleiben...« (Folkerts 1995a, S. 249)
Folkerts unkritische und einseitige Haltung (es gäbe keine
Berichte über Hirnschäden, die Geschockten seien mehrheitlich
sehr zufrieden) (Folkerts 1995b) fand im folgenden Jahr in der
gleichen Zeitschrift immerhin eine radikale Absage, und zwar durch
die Ärztin Eva Heim aus Karlsruhe. Eva Heim wies Folkerts
zurecht: Tierversuche, bei denen man schon bei vergleichsweise
sehr geringer Dauer und Stärke erhebliche Hirnschäden
nachwies, habe er ebenso verschwiegen wie die eher gestiegene
Krampfdauer und Stromstärke:
»Doch selbst wenn dem nicht so sein sollte, bleibt die
conditio sine qua non dieser Therapie der iatrogen provozierte,
in kurzen Abständen mehrfach wiederholte Grand-mal-Anfall,
ein Ereignis, das neurologischerseits unter Einsatz massiver
Medikation zu vermeiden versucht wird, vor allem wegen der im
Verlauf der Krankheit erworbenen Hirnschädigung und der
daraus folgenden epileptischen Demenz.« (Heim 1996, S.
C137)
Wenig überraschend, dass es vor allem Frauen sind, die elektrogeschockt
werden, und zwar vorwiegend ältere Frauen, denen die bekannten
Gefahren der künstlich herbeigeführten epileptischen
Anfälle in aller Regel verheimlicht werden und denen der
Bären aufgebunden wird, Elektroschocks würden auf Dauer
Depressionen zum Verschwinden bringen, die Methode sei sicher
und harmlos, Gedächtnisstörungen würden nach kurzer
Zeit wieder verschwinden, das Schocken nur einer Hirnseite wäre
harmlos, der Strom wäre so verändert, dass er nicht
schade, der Schock sei lebensrettend, insbesondere bei sogenannter
Therapieresistenz und bei febriler Katatonie. Dass es Psychiater
mit ihrer Betrachtung des Menschen als Stoffwechselprodukt sind,
die aufgrund ihrer organfixierten Ausbildung zu einer sozialwissenschaftlichen
Betrachtung psychosozialer Probleme kaum in der Lage sein können
und in ihrem patriarchalisch geprägten Weltbild mit den Leiden
der meist älteren depressiven Frauen nichts anzufangen wissen,
ist ebenso evident wie die Tatsache, dass es seit Jahrzehnte längst
risikoarme medikamentöse Behandlungsformen der febrilen Katatonie
gibt (z.B. des Spasmolytikum Dantrolen), was Psychiater, so die
Berichte von Medizinern, bloß noch nicht gemerkt haben
oder, so der Verdacht, nicht zur Kenntnis nehmen wollen, um Laien
gegenüber das Beharren auf ihren Elektroschocks legitimieren
zu können.
Als Regelbehandlung gilt in der Psychiatrie die Verabreichung
von Antidepressiva und Neuroleptika; auf die Schäden, ob
motorisch, zentralnervös oder vegetativ, wird von psychiatrischer
Seite kaum eingegangen. Ist es denn so egal, dass Neuroleptika
in großem Ausmaß auch bei geringer Dosierung Schäden
und oft genug in chronischer Form verursachen? Angesprochen sein
sollen Rezeptorenveränderungen, Persönlichkeitsveränderung,
psychotische Zustände, Depressionen, Suizidalität, Chromosomenveränderungen,
Leberwertveränderungen, Herzrhythmusstörungen, Prolaktinerhöhung,
tardive Dyskinesien, gerade im gemeindenahen Bereich (Lehmann
1996; Kempker 2000).
V. Weitere Vorgaben für eine europäische Psychiatriecharta
Es gäbe aber noch weitere juristische Aspekte außer
dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, die in eine europäische
Psychiatriecharta einfließen sollten:
-
Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen mit Patientenanwälten
oder Patientenvertrauenspersonen
-
Stärkung der Rechtswirksamkeit von Vorausverfügungen
zur Verbesserung der Rechtssicherheit.
-
Verbot jeglicher Form der Registrierung von Menschen mit
psychiatrischen Diagnosen bei Polizei- und Meldestellen
-
Verbot klinischer Versuche und experimenteller Behandlungen
an Zwangseingewiesenen
-
Bessere Durchsetzbarkeit von Regressansprüche bei Behandlungsschäden
und bei Experimenten. Beispiel für die desolate Rechtsposition
ist das psychiatrische Schicksal von Kerstin Kempker, dargestellt
in ihrem Buch »Mitgift Notizen vom Verschwinden«.
Der Bericht eignet sich zur Veranschaulichung des Problems,
da die Erinnerungen und Dokumente Kerstin Kempkers direkt
und nachvollziehbar mit psychiatrischen Akteneinträgen
korrespondieren. Man erkennt die verheerenden persönlichen,
gesundheitlichen (und daraus resultierenden finanziellen Folgeschäden
des Mangels an gesprächspsychotherapeutischer Hilfen,
der Behandlung mit Elektroschocks, der Behandlung mit gefährlichen
Psychopharmaka-Kombinationen, der mangelnden Aufklärungspflicht,
der mangelnden Regressmöglichkeiten, des fehlenden Rechts
auf Akteneinsicht und der fehlenden Beratungsstellen von Psychiatrie-Erfahrenen
auch für Angehörige.
-
Durchsetzung der Aufklärungspflicht: Wie nötig
eine Durchsetzung der Aufklärungspflicht ist, zeigte
die Diskussion von 1981, die Prof. Hanfried Helmchen, ehemaliger
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie
und Nervenheilkunde, publik machte: z.B. bei der Verordnung
von Neuroleptika über das Risiko einer tardiven Dyskinesie
(bei normaler Dosierung im Lauf der Verabreichung häufig
auftretende, veitstanzförmige oder durch Krämpfe
gekennzeichnete nicht behandelbare und mit der Verkürzung
der Lebenserwartung einhergehende Muskelerkrankung) drei Monate
nach Beginn der Verabreichung zu informieren oder nach einem
Jahr oder Zeitpunkt ihres Auftretens. Unterlassene Aufklärung
kann nicht weiterhin ein Kavaliersdelikt sein. Psychiater,
die ohne informierte Zustimmung behandeln, sollten ihre ärztliche
Zulassung verlieren [sofern keine im Einzelfall nachgewiesene
Lebensgefahr und kein nachgewiesenes Fehlen einer natürlichen
Einsichtsfähigkeit vorliegen.]
Ich komme noch einmal auf den mir entscheidenden Punkt: Falls
Menschen eingesperrt werden müssen, um ihnen das Leben zu
retten oder um sie davon abzuhalten, anderen ernsthaften Schaden
zuzufügen, sollte niemand das Recht haben, ihnen irgendeine
Art von Behandlung aufzuzwingen. Dies gilt ebenso für unser
aller extramurales Leben.
VI. Statt Diskriminierung: Förderung von Selbsthilfeansätzen
und nicht-stigmatisierenden, nicht-psychiatrischen Hilfe-Ansätzen
Das überkommene Konzept der psychischen Krankheit und des
Bedarfs an synthetischen Psychopharmaka abzulehnen, speziell wenn
sie über lange Zeit oder gar lebenslänglich verordnet
werden, kann natürlich nicht heißen, die Augen zuzumachen
vor den realen Problemen, die viele Menschen haben. Ich will keineswegs
darauf hinaus, dass wir uns um andere, wenn sie verrückt
oder depressiv werden, etwa gar nicht kümmern sollten, dass
die Leute eingesperrt und allein gelassen werden sollten. Aber
wir brauchen angemessene, alternative Einrichtungen.
a) Angemessene Hilfen
Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer
Dienste würde darin bestehen, Menschen bei der Bewältigung
ihrer Probleme zu helfen unter anderem durch gegenseitige
Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative Medizin, gesunde Ernährung,
natürliche Heilverfahren und spirituelle Übungen. Die
alternative Arzneimittelkunde hat beispielsweise ein großes
Wissen über die Wirkung von Kräutern und Homöopathika,
die dem Körper und der Psyche helfen können, Entspannung
und Wiederherstellung des Gleichgewichts zu finden. Mit solchen
Dingen kann man möglicherweise nicht so viel Geld verdienen,
doch sie sind es, die Zukunft haben sollten.
In diesem Feld können Psychiatriebetroffene eine wichtige
Rolle als MitarbeiterInnen und RatgeberInnen spielen, denn sie
haben das Wissen darüber, was ihnen geholfen hat. Solche
mit einer positiven Subkultur-Identität und Würde verbundenen
Dienste können von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt
werden oder, mit öffentlicher finanzieller Unterstützung,
von der Betroffenenbewegung selbst, wobei Menschen einfach ein
Ort gegeben würde, sich zu treffen und ihr eigenes Leben
zu gestalten. Wir brauchen Selbsthilfe- und Beratungsstellen von
Psychiatriebetroffenen für Psychiatriebetroffene.
Alternative Systeme und dezentrale Dienste müssten sich
um die Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen
in einer Weise kümmern, dass der Gebrauch von synthetischen
und giftigen psychiatrischen Psychopharmaka minimiert und auf
lange Sicht überflüssig wird. Es müssen also Methoden,
Systeme, Dienste und Institutionen einer kurz-, mittel? und langfristigen
Hilfe und Unterstützung entwickelt werden, die in keiner
Weise auf der Verabreichung von synthetischen Psychopharmaka aufbauen.
b) Soweit psychiatrische Einrichtungen noch bestehen:
In jeder vorhandenen Einrichtung sollte ausreichend Platz vorhanden
sein. Folgendes sollte in psychiatrischen Einrichtungen vorhanden
sein:
-
Patiententelefone in einer Kabine auf jeder Station
-
Münzkopierer
-
deutlich sichtbarer Anschlag auf jeder Station, dass auf
Wunsch Briefpapier, Briefumschläge und Briefmarken zur
Verfügung gestellt werden
-
Möglichkeiten zum Aufhängen von Informationsschriften
von lokalen, regionalen und nationalen Selbsthilfegruppen
-
Angebot eines täglichen Spaziergangs unter freiem Himmel
von mindestens einer Stunde Dauer
-
Teeküche auf jeder Station, damit man sich rund um die
Uhr etwas zu essen und zu trinken machen kann.
Außerdem sollten die Rechte von NichtraucherInnen auf gesunde
Luft berücksichtigten werden, ebenso die Rechte von RaucherInnen,
soviel zu rauchen wie sie wollen.
Die Nahrung in psychiatrischen Einrichtungen sollte ernährungswissenschaftlichen
Erkenntnissen entsprechen. Auf Bedürfnisse von Personen,
die einer Diät bedürfen, ist einzugehen.
Familienangehörigen, die das wollen, sollten das Recht haben,
vom Personal Hilfe und Unterstützung zu verlangen und rund
um die Uhr bei den Untergebrachten zu bleiben (sollten diese das
wollen).
c) Flankierende Hilfen
Hinsichtlich der Frage »Sollten wir besondere soziale Rechte
fordern? Wenn ja, welchen Rechten sollten wir Priorität schenken?«
werden unterschiedliche Positionen vertreten. Hans Bergström,
Schweden, äußerte beim bereits genannten Seminar 1994
in Kolding:
»Gleichberechtigung sollte das Ziel sein, aber manchmal
sind spezielle Rechte für schwer leidende Menschen notwendig.
In Schweden haben wir diese Rechte bezüglich Arbeit, besonderer
Wohnmöglichkeiten und persönlicher Assistenz. Einige
von uns haben nicht die Kraft, gleiche Rechte zu fordern. Solange
dies so ist, sollten wir eine besondere Gesetzgebung haben für
Menschen, die sich nicht erheben können, um ein würdevolles
Leben zu fordern.« (Bergström 1996)
Gegenwärtig sind 70 80% der Psychiatriebetroffenen
arbeitslos. Dies ist nicht auf Unwilligkeit zu arbeiten zurückzuführen,
sondern auf unflexible Strukturen. Aufgrund von Vorurteilen werden
Psychiatriebetroffene nicht eingestellt.
Grundsätze für Chancengleichheit und gleiche soziale
Rechte:
-
Menschen, die psychosoziale Behinderungen erfahren, soll
Chancengleichheit zustehen
-
diese Chancengleichheit soll sich auf alle Bereiche der Arbeitsorganisation
und des Managements erstrecken;
-
jeder Arbeitsplatz soll nutzerkontrollierten Qualitätsstandards
entsprechen;
-
spezielle Maßnahmen wie z.B. Lohnkostenzuschüsse
und geschützte Beschäftigung sollen nicht als Stigmatisierung
oder Diskriminierung benutzt werden.
4. Aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik
Psychiatriebetroffenen sind auf allen internationalen, nationalen,
regionalen und lokalen Ebenen einzubeziehen in:
-
Gesetzeskommissionen
-
Zulassungskommissionen für Behandlungsverfahren
-
Wirksamkeitsstudien
-
Ethik-Kommisionen
-
Ausbildung, Prüfungs- und Stellenkommissionen
-
Kongresse und sonstige Veranstaltungen: Keine öffentlichen
Gelder sollten mehr für Einrichtungen und Veranstaltungen
ausgegeben werden, bei denen Psychiatriebetroffene kein wirksames
Mitbestimmungsrecht haben.
5. Antidiskriminierungsmaßnahmen
Diskriminierung findet statt aufgrund Geschlechtszugehörigkeit,
sexueller Neigungen, ethnischer Zugehörigkeit, Religion,
sozialer Stellung. Zwangssterilisationen gibt es immer noch in
einer Reihe von europäischen Ländern. Missbrauchserfahrungen
in Kindheit oder aktuell werden kaum als Ursache von Verrücktheit,
Depression und Psychiatrisierung wahrgenommen. Frauen und Männern
werden oft wegen psychiatrischer Diagnosen Erziehungsrechte aberkannt.
Heimbewohner, rechtlich und sozial mit am schlechtesten gestellt,
sollten ebenso geschützt werden. Oft werden
-
von ihnen Zustimmungen erpresst mit der Drohung, den Heimvertrag
zu kündigen, d.h. die Betroffenen auf die Straße
zu setzen
-
von ihnen pauschale Schweigepflichtentbindungen verlangt,
ohne dass sie Kenntnis darüber erhalten, von welchen
Daten und Akten sie entbinden
-
von ihnen vor Eintritt ins Heim Verpflichtungen verlangt,
alle angebotenen sogenannten Therapieformen mitmachen zu müssen,
eine Ablehnung einer einzelnen Maßnahme führe zur
Kündigung des Vertrags,
-
von ihnen Voraberklärungen zur möglichen späteren
Anstaltseinweisung ohne Gerichtsbeschluss gefordert,
-
sie genötigt, den mit dem Heim kooperierenden Arzt aufzusuchen
und sich pauschal und vorab mit dessen Behandlungsvorschlägen
abzufinden, womit ihnen das Recht auf freie Arztwahl und das
Selbstbestimmungsrecht über ihre körperliche Integrität
abgesprochen wird.
Deshalb ist in einer europäischen Psychiatriecharta ein
Diskriminierungsverbot zu verankern:
Niemand darf aufgrund einer psychiatrischen Diagnose diskriminiert
werden. Angehörigen von ethnischen Minderheiten, Mitglieder
von benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Alte,
Menschen in Betreuungsverhältnissen, Kinder und sozial Schwache
sind in ihrer Rechtsstellung besonders zu schützen.
Zur Notwendigkeit der Stärkung von Menschenrechten hatte
1982 der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder diese Resolution
unterzeichnet:
»Wir treten ein für das Selbstbestimmungsrecht aller
Menschen. In den psychiatrischen Anstalten der Bundesrepublik
Deutschland und Berlin werden wie selbst die Psychiatrie-Enquete
der Bundesregierung gezeigt hat die Menschenrechte der
Betroffenen nicht beachtet. Wir sind empört, dass Psychiater
Menschen nicht nur in ihren Anstalten lebenslang einsperren,
sondern auch diejenigen lebenslang entmündigen wollen,
denen es gelungen ist, aus ihren Fängen zu entrinnen. Gerade
aus den schlimmen und noch immer unbewältigten Massentötungen
sogenannter Psychisch Kranker unter Mitwirkung von Psychiatern
während der unheilvollen Zeit des Nationalsozialismus müssen
endlich Konsequenzen gezogen werden. Die Betroffenen dürfen
Psychiatern nicht mehr völlig rechtlos ausgeliefert sein...«
(Schröder 1982)
Angesichts der ständigen Bedrohung der Menschenrechte von
Psychiatriebetroffenen muss der Schutz der Menschenrechte und
speziell des Rechts auf körperliche Unversehrtheit den einen
Stützpfeiler einer Psychiatriecharta bilden. Nichtpsychiatrische
Alternativen für Menschen, die psychosoziale Hilfe, aber
keine Diagnosen und Psychopharmaka und Elektroschocks wollen,
fehlen allerorts. Deshalb muss ein nicht auf der Psychopharmakaverabreichung
aufbauendes psychosoziales Hilfesystem den anderen Stützpfeiler
bilden.
Quellen
-
Bergström, Hans: Antwort auf die Frage: »Should
we demand special social rights? If so, which rights would
be our priorities?«, in: European Network of Users and
ex-Users in Mental Health: Our own understanding of ourselves.
Report about the seminar in Kolding/Denmark (December 1994)«,
Broschüre, 2. Auflage, Rotterdam: European Network of
Users and ex-Users in Mental Health 1996, S. 19
-
Förster, Andreas: »Skandal: E-Schock wieder im
Aufwind«, in: Münchner Illustrierte, 1988, Nr. 12,
S. 21-22
-
Folkerts, Here: »Elektrokrampftherapie Schocktherapie
oder ein differenziertes Behandlungsverfahren?«, in:
Deutsches Ärzteblatt, 92. Jg. (1995), Nr. 6, S. A358-A364
-
Folkerts, Here: »Elektrokrampftherapie bei neurologischen
Krankheiten«, in: Nervenarzt, 66. Jg. (1995), Nr. 4,
S. 241-251
-
Heim, Eva: »Elektrokrampftherapie: Schocktherapie
oder ein differenziertes Behandlungsverfahren?«, in:
Deutsches Ärzteblatt, 93. Jg. (1996), Nr. 4, S. C137-C138
-
Kempker,
Kempker: Mitgift Notizen vom Verschwinden, Berlin:
Antipsychiatrieverlag 2000 (eBook 2016)
-
Kempker, Kerstin: Antwort auf die Frage: »Should we
demand special social rights? If so, which rights would be
our priorities?«, in: European Network of Users and ex-Users
in Mental Health: Our own understanding of ourselves. Report
about the seminar in Kolding/Denmark (December 1994)«,
Broschüre, 2. Auflage, Rotterdam: European Network of
Users and ex-Users in Mental Health 1996, S. 20
-
Lehmann,
Peter: »Schöne neue Psychiatrie, Band 1: »Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken, Band 2:
»Wie
Psychopharmaka den Körper verändern«, Berlin:
Antipsychiatrieverlag 1996 (eBook 2022)
-
Paszek, Krystof: Antwort auf die Frage: »Should we demand
special social rights? If so, which rights would be our priorities?«,
in: European Network of Users and ex-Users in Mental Health:
Our own understanding of ourselves. Report about the seminar
in Kolding/Denmark (December 1994)«, Broschüre,
2. Auflage, Rotterdam: European Network of Users and ex-Users
in Mental Health 1996, S. 20-21
-
Schröder, Gerhard: »Unterstützungserklärung«
(Appell an den Bundesgerichtshof zur Bestätigung des
Kammergerichtsurteils vom 1.6.1981 über die Gewährung
des Rechts auf Einsicht in die eigenen Psychiatrieakten) vom
1.4.1982
-
World
Health Organization / European Commission: Balancing mental
health promotion and mental health care: A joint World Health
Organization / European Commission meeting, Broschüre
MNH/NAM/99.2, Brüssel: World Health Organization 1999
Copyright by Peter Lehmann 2000