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Original in: Wolfram Pfreundschuh (Hg.): Kulturkritisches Lexikon (Internetveröffentlichung vom 31. Januar 2014). Letzte Aktualisierung am 1. Februar 2024

Tranquilizer

Tranquilizer sind eine chemisch uneinheitliche Gruppe. Man meint mit ihnen diejenigen psychiatrischen Psychopharmaka, mit denen Angst- und Spannungszustände tranquiliert, das heißt beruhigt werden sollen. Andere Begriffe für Tranquilizer sind »Ataraktika« (ausgleichende Mittel), »Anxiolytika« (angstlösende Mittel) und »minor tranquilizers«. Als wesentlicher Unterschied zu anderen Psychopharmaka, speziell Neuroleptika (»Antipsychotika«, major tranquilizers), gelten die geringere Toxizität und das Ausbleiben von Muskelstörungen. Psychiater verabreichen Tranquilizer auch bei der Diagnose »Schizophrenie«, dann allerdings in hohen Dosierungen. Zur Gruppe der Tranquilizer zählt man unter anderem Benzodiazepine (z. B. Lexotanil, Rohypnol, Tavor, Valium), Diphenylmethan-Derivate (z. B. Atarax) und Nicht-Barbiturat-Tranquilizer (z. B. Buspar).

Tranquilizer greifen im Zentralnervensystem an, vor allem im Großhirn, im limbischen System und im Bereich der Formatio reticularis. Durch die verminderte elektrische Aktivität werden der Einfluss innerer und äußerer Impulse auf höhere psychische Zentren geringer, die psychische Verarbeitung der ursprünglichen Probleme erschwert und unerwünschte psychische und körperliche Begleiterscheinungen unterdrückt.

Als Indikationen für Tranquilizer gelten niedergedrückte Stimmung, Angst- und Erregungszustände, psychovegetative Beschwerden, Schlafstörungen u.v.m. Manche Benzodiazepin-Tranquilizer werden auch zur Vorbeugung epileptischer Anfälle und zur Sedierung vor diagnostischen und operativen Eingriffen sowie im Rahmen der Narkoseeinleitung verwendet.

Tranquilizer bergen ein enormes Abhängigkeitsrisiko. Schon nach kürzerem Gebrauch können Entzugssymptome auftreten wie z. B. Zittern, Unruhe, Übelkeit, Erbrechen, Herzklopfen, Kopfschmerz, Schweißausbrüche, Schwindel, Angstzustände, Schlafstörungen, Depressionen, Delirien, epileptische Anfälle. Unter Verweis auf das Suchtpotenzial und Abhängigkeitsrisiko werden Tranquilizer seit Jahren in abnehmender Menge verabreicht und verstärkt durch Antidepressiva und Neuroleptika ersetzt; diese können allerdings ebenso zur körperlichen Medikametenabhängigkeit führen. Dies wird jedoch von – die Interessen der Pharmaindustrie vertretenden – Psychiatern gegenüber der Öffentlichkeit, den Konsumenten und ihren Angehörigen mit dem hanebüchenen Argument bestritten, letztgenannte Psychopharmaka würden kein Suchtverlangen hervorrufen (was nie jemand ernsthaft behauptet hat) und deshalb nicht abhängig machen.

In der Not, wenn alle Möglichkeiten der Selbsthilfe, naturheilkundlicher Mittel oder Psychotherapie ausgereizt sind und die Unterbringung in die Psychiatrie droht, kann die Einnahme von Benzodiazepinen und Benzodiazepin-ähnlichen Wirkstoffen Sinn machen. Ihr Schadensrisiko ist geringer als das von Antidepressiva und Neuroleptika. Aufgrund ihres Suchtpotenzials sollten Benzodiazepine allerdings nur vorübergehend eingenommen werden, maximal ca. vier bis sechs Wochen – je kürzer desto besser –, und wenn man zwei, drei Tage schlafen konnte, sollte man besser eine Medikamentenpause machen. Wegen möglicher Entzugsprobleme sowie zwecks Vermeidung eines sogenannten Hangovers (»Katers«) sollte man sich zudem auf Präparate mit mittlerer Halbwertszeit (ca. 8 Stunden) beschränken. Angaben zu Halbwertszeiten finden sich auf der Website des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA).

Literaturempfehlungen zu Tranquilizer-Risiken, unerwünschten Wirkungen, zum Absetzen und zu Alternativen

Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken. Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern

Peter Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern

Peter Lehmann: Gibt es eine Abh�ngigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika? Wem n�tzt welche Antwort? Und was folgt daraus f�r die Praxis?

Peter Lehmann / Craig Newnes (Hg): Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige

Peter Lehmann / Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2

Ernst Pallenbach: Die stille Sucht. Missbrauch und Abhängigkeit von Arzneimitteln (Tranquilizer: S. 70-108) (Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2009)

Josef Zehentbauer: Ärztliche Begleitung beim Umgang mit Psychopharmaka und der Suche nach Alternativen, in: Peter Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer: Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika – Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen, S. 185-197

Josef Zehentbauer: Chemie für die Seele – Psyche, Psychopharmaka und alternative Heilmethoden