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des Antipsychiatrieverlags
Original in: Wolfram Pfreundschuh (Hg.): Kulturkritisches Lexikon.
Online-Ressource vom 31. Januar 2014. Letzte Aktualisierung am 4.
Juli 2023
Atypische Neuroleptika
Atypische Neuroleptika stellen eine Revolution im psychiatrischen
Behandlungsarsenal dar, heißt es, sie seien besser verträglich,
da sie weniger Bewegungsstörungen bewirken. Schon 1952, im
Jahr der Einführung des Neuroleptika-Prototyps (Muttersubstanz)
Chlorpromazin, wurde in den chemischen Laboratorien der Berner Wander
AG Clozapin synthetisiert. Clozapin (im Handel unter anderem als
Leponex) gilt als Prototyp atypischer Neuroleptika. Auch
die ebenfalls als atypisch geltenden Benzamide, eine andere Gruppe
von Neuroleptika, wurden in den 1950er-Jahren entwickelt. Je nach
Wirkungsschwerpunkt werden sie in der Gastroenterologie (Teilgebiet
der Inneren Medizin, das sich mit Krankheiten der Verdauungsorgane
befasst), der Gynäkologie oder der Psychiatrie und Neurologie
eingesetzt. Amisulprid (Solian) wird seit 1968 verwendet, Sulpirid
(Dogmatil) seit 1968, Tiaprid (Tiaprid) seit 1968, Remoxiprid (Roxiam)
seit 1984, Perospiron (Cremin) seit 1990, Aripiprazol (Abilify)
seit 1994. Als weitere atypische Neuroleptika kamen nach
und nach Risperidon (Risperdal), Sertindol (Serdolect), Quetiapin
(Seroquel), Zotepin (Nipolept), Paliperidon (Invega), Ziprasidon
(Zeldox), Olanzapin (Zyprexa), Asenapin (Saphris, Sycrest), Lurasidon
(Latuda), Cariprazin (Reagila) und und Brexpiprazol (Rexulti) auf
den Markt. Da die den atypischen Neuroleptika verschiedensten
chemischen Wirkstoffgruppen zuzuordnen sind, d. h. eine völlig
uneinheitliche Gruppe darstellen, macht es keinen Sinn, von »den«
atypischen Neuroleptika zu sprechen; ersatzweise könnte
man den Begriff der clozapinähnlich wirkenden Neuroleptika
verwenden.
Der Wirkung liegt offenbar die Blockade spezieller Dopaminrezeptoren-Subtypen
zugrunde, so dass seltener Muskel- und Bewegungsstörungen auftreten
und viele Betroffene von einer besseren Verträglichkeit ausgehen.
Wie der Psychiater Hans-Joachim Haase allerdings erklärte,
verhält sich Clozapin lediglich »ähnlich wie andere
Neuroleptika, denen man eine zunehmend hohe Dosis eines Antiparkinsonmittels
hinzugibt«. Sein Kollege Walter Müller, Professor am Biozentrum
der Universität Frankfurt/Main, spricht von dirty drugs: Substanzen
mit mehr als einem Wirkungsmechanismus. Gerhard Ebner, Mitglied
des Advisory Board bei Janssen-Cilag zur Einführung des Risperdal
Consta und gleichzeitig Präsident der Schweizerischen Vereinigung
Psychiatrischer Chefärzte, betonte die unerwünschten Wirkungen,
die besonders im vegetativen und Organbereich auftreten, die allerdings
von den Betroffenen nicht unmittelbar wahrgenommen würden,
weswegen man sie leichter zur Einnahme dieser Antipsychotika motivieren
könne.
1991, 34 Jahre nach Leponex, wurde als nächstes clozapinähnliches
Neuroleptikum Remoxiprid (Roxiam) als »Rose ohne Dornen«,
d. h. als Medikament ohne Nebenwirkungen angekündigt. Drei Jahre
später wurde es wieder vom Markt genommen: wegen einer Reihe
lebensgefährlicher Fälle von aplastischer Anämie,
d. h. Blutarmut mit Verminderung der roten und weißen Blutkörperchen,
beruhend auf einem Defekt im blutbildenden System. Sertindol (Serdolect)
galt lange als nebenwirkungsarm, im November 1998 fand sich im Internet
in medizinischen Datenbanken sogar der Begriff »nebenwirkungsfrei«.
Am 2. Dezember 1998 meldete die Ärzte Zeitung: »Vertrieb
von Serdolect®) gestoppt Anlass sind schwere kardiale (das
Herz betreffende) Nebenwirkungen und Todesfälle.«
Moderne clozapinähnliche Neuroleptika stehen generell unter
Verdacht, vegetative und Organschäden wie etwa neuroleptische
maligne Syndrome und Leberstörungen zu produzieren. Agranulozytosen
(abruptes Absterben der weißen Blutkörperchen mit lebensbedrohlichen
Folgen) wurden ebenso publik wie die unübersehbare und rasche
Zunahme des Körpergewichts bis hin zur Fettleibigkeit mit ihrer
für Herz und Kreislauf immensen Gefahren. Clozapinähnliche
Neuroleptika erhöhen auch die Blutkonzentration des Hormons
Prolaktin; mit dieser psychopharmakatypischen Störung
einher geht ein 9,5 mal höheres Brustkrebsvorkommen, das Gynäkologen
laut einer 1996 im American Journal of Psychiatry veröffentlichten
Studie bei Psychiatriepatientinnen fanden. An Risiken müssen
weiterhin genannt werden: das neuroleptikabedingte Defizit-Syndrom,
Hypercholesterinämie (erhöhter Cholesteringehalt im Blut),
Diabetes, Schlaganfall, erhöhte Apoptose (Sichabstoßen
von Zellen aus dem Gewebe, d. h. Zelltod), erhöhte Sterblichkeit
vor allem bei Verabreichung von Neuroleptika in Kombination mit
anderen Medikamenten und für tardive Psychosen verantwortliche
irreversible Rezeptorenveränderungen (siehe auch
tardive Psychosen).
Wer Clozapin absetzt, sollte sich sofern gewünscht
unbedingt mit einer Psychosozialen
Patientenverfügung gezielt vor der Verabreichung von Elektroschockserien
schützen. Die Verweigerung der Einnahme von Clozapin gilt Psychiatern
als Indikation für Elektroschocks.
Literaturempfehlungen zu Risiken atypischer Neuroleptika,
unerwünschten Wirkungen, zum Absetzen und zu Alternativen:
Peter
Lehmann / Craig Newnes (Hg): Psychopharmaka reduzieren und absetzen
Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige
Peter
Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer: Neue
Antidepressiva, atypische Neuroleptika Risiken, Placebo-Effekte,
Niedrigdosierung und Alternativen
Peter Lehmann:
Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist
und Psyche wirken. Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern
Peter
Lehmann: Risiken und Schäden durch »atypische« (moderne)
Neuroleptika Übersichtsseite im Internet
Peter
Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen Erfolgreiches Absetzen
von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und
Tranquilizern
Peter Lehmann
/ Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2
Josef
Zehentbauer: Chemie für die Seele Psyche, Psychopharmaka
und alternative Heilmethoden
Aufklärungsbögen Neuroleptika in Umgangssprache,
in Leichter
Sprache und auf
Arabisch, Englisch, Französisch, Polnisch, Rumänisch,
Russisch, Spanisch, Serbokroatisch und Türkisch
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