Peter
Lehmann
Psychiatrische Psychopharmaka: Anlass zu großer Sorge
Als krank definierte Gefühle und damit verbundene Handlungsweisen
lassen sich leicht mit Antidepressiva und Neuroleptika (sogenannten
antipsychotischen Medikamenten) unterdrücken. Doch diese synthetischen
Substanzen bergen erhebliche Gesundheitsrisiken. Ob unter psychopharmakologischem
Einfluss eine vernünftige, konfliktaufdeckende und -verarbeitende
Therapie möglich ist, scheint zudem mehr als fraglich.
Sofern sie überhaupt wie gewünscht eintritt, zieht die
kurzfristige Pharmawirkung mittel- und langfristig häufig eine
Chronifizierung der ursprünglichen Probleme nach sich, ganz
zu schweigen von den vielfältigen schädigenden Wirkungen
auf das zentrale Nervensystem, das Vegetativum und den Muskelapparat
sowie Tendenzen zur Abhängigkeit und damit verbundene Entzugsprobleme.
Oder es entstehen neue störende Gefühle, die, basierend
auf Veränderungen im Nervenreizleitungssystem, kaum noch mit
lebensgeschichtlichen Konfliktverarbeitungsversuchen zu tun haben
und zu ihrer jeweils momentanen Neutralisierung neue, noch tiefer
eingreifende Maßnahmen mit noch größeren Risiken
und Folgeschäden nach sich ziehen, zum Beispiel Elektroschocks.
Auch die neuen Psychopharmaka, ob antidepressive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
à la Fluctin oder atypische Neuroleptika à la Leponex,
Risperdal und Zyprexa, können gravierende Auswirkungen haben,
basierend auf tiefen Eingriffen ins Transmittersystem.
Die Gefühle der Behandelten mögen zwar gebessert erscheinen
und Unwohlsein, Ratlosigkeit, Angst und Verzweiflung durch die angewendeten
Maßnahmen unterdrückt werden: Die Chemobehandlung bewirkt,
dass nur noch die Betroffenen selbst von ihren Gefühlen gestört
werden, sofern sie diese überhaupt noch spüren. Entäußern
können sie diese Gefühle jedoch nicht mehr, sie sind quasi
chemisch geknebelt.
Antidepressiva
Antidepressiva wirken sich im psychischen Bereich tendenziell in
der Weise aus, dass ein Teil der Behandelten ruhiggestellt wird,
passiv, stumpf, emotionslos; andere reagieren mit Unruhe, Verwirrtheit,
Aggressivität. Die Persönlichkeit ändert sich, das
Suizidrisiko steigt. Alle diese Störungen treten unter sogenannten
therapeutischen sowie unter moderaten und niedrigen Dosierungen
auf, unabhängig vom Anlass der Verabreichung und auch bei als
normal geltenden Versuchspersonen. Unter der Hand werden Bedenken
geäußert, Antidepressiva könnten Depressionen chronifizieren.
Schon Mitte der 60er Jahre zeigte sich, dass depressive Phasen bei
sogenannten endogen Depressiven in zunehmendem Ausmaß nicht
mehr richtig aufhörten, sondern es notwendig erschien, die
Antidepressiva immer weiter zu verabreichen. Frühere Phasen
der gleichen Patienten hatten ohne Antidepressiva wesentlich kürzer
gedauert. So kam der Verdacht auf, diese ungewöhnliche Verlängerung
von Phasen sei das Ergebnis der Antidepressiva selbst.
Auch die neuen Antidepressiva, die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(SSRI), verändern das Transmittersystem; im synaptischen Spalt
steigt die Konzentration von Serotonin. Der Organismus reagiert
jedoch mit einer Abnahme der Rezeptoren: Folge der Down-Regulation,
des Kompensationsversuchs des Körpers auf von außen kommende
Eingriffe. Auf die Dauer kommt es zu einer verminderten Serotoninwirkung.
Marc Rufer, Arzt und Psychotherapeut in Zürich, warnte denn
auch: "Wenn die Serotoninmangel-Hypothese der Depression richtig
wäre, müssten die SSRI schwerste Depressionen bewirken."
Neuroleptika
Bei Neuroleptika tritt tendenziell eine Senkung des psychischen
Energieniveaus auf mit der Folge von Apathie, gefühlsmäßiger
Stumpfheit, emotionaler Panzerung und Einfrierung des Gefühlslebens.
Die Persönlichkeit der Behandelten ändert sich. Hinzu
können Gefühle der Leistungsunfähigkeit kommen, der
Minderwertigkeit und der Verzweiflung einschließlich der Tendenz,
bei einem noch mobilisierbaren Rest von Energie diesem Leiden ein
Ende zu setzen, insbesondere bei ausgesprochen quälenden körperlichen
Wirkungen wie zum Beispiel der Sitzunruhe. Mit eindeutigen Worten
machte Frank Ayd von der Psychiatrischen Abteilung des Franklin
Square Hospital in Baltimore bereits 1975 auf mögliche Suizidtendenzen
als Neuroleptikawirkung aufmerksam:
"Es besteht nun eine allgemeine Übereinstimmung, dass
milde bis schwere Depressionen, die zum Suizid führen können,
bei der Behandlung mit jedem Depotneuroleptikum auftreten können,
ebenso wie sie während der Behandlung mit jedem oralen Neuroleptikum
vorkommen können."
In Deutschland forderte deshalb der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener
e.V. (www.bpe-online.de) 2000 vom Bundesministerium für Gesundheit
die Einführung eines Suizidregisters unter besonderer Berücksichtigung
von beteiligten Psychopharmaka/Elektroschocks, vorangegangener Fixierung
und anderen Formen psychiatrischer Zwangsmaßnahmen. Eine staatenübergreifende
Meldepflicht für Psychiatrie- und Psychopharmaka-assoziierte
Suizide könnte dafür sorgen, dass Vorsorgemaßnahmen
möglich und endlich verlässliche Studien durchgeführt
werden, die den Zusammenhang insbesondere zwischen Psychopharmakawirkungen
und Suizidalität weiter erforschen.
Neuroleptika, die eigentlich einen vermuteten Dopaminüberschuss
bekämpfen sollen, können im Lauf der Zeit zu einer spezifischen
Veränderung des Nervensystems führen: zu einer unnatürlichen
und chronischen Erhöhung der Zahl der Dopaminrezeptoren sowie
zu einem erhöhten Dopaminspiegel. Der Organismus reagiert auf
die künstliche chemische Blockade der Dopaminrezeptoren mit
der Bildung zusätzlicher Rezeptoren, die sich nach dem Ende
der Neuroleptikaverabreichung nicht immer zurückbilden, so
dass es zu einem Ungleichgewicht von Transmittern und Rezeptoren
und/oder einer Übersensitivität der Dopaminrezeptoren
kommen kann. Es tritt eine Toleranzentwicklung gegenüber der
sogenannten antipsychotischen Wirkung auf, d.h. die Dosis muss ständig
erhöht werden, um die ursprüngliche Wirkung aufrechtzuerhalten.
Insbesondere atypische Neuroleptika bergen diese Gefahr, die im
Tierversuch nachgewiesen wurde. In Schweden beispielsweise, wo man
Clozapin (Leponex) intensiv einsetzte, wurden bei einer ganzen Reihe
von Betroffenen beim Absetzen von Clozapin psychotische Symptome
in einer Stärke festgestellt, die vorher nicht vorhanden war.
Urban Ungerstedt und Tomas Ljungberg vom Stockholmer Karolinska
Institut fragten 1977 nach Neuroleptikaexperimenten an Ratten, ob
die 'antipsychotischen Medikamente', die 'spezifische' Rezeptoren
blockieren, nicht etwa eine 'spezifische' Rezeptorensupersensibilität
und somit 'spezifische' Nebenwirkungen verursachen, d.h. das behandelte
psychische Problem selbst pharmakologisch potenzieren.
Atypische Neuroleptika werden als nebenwirkungsarm angepriesen.
Remoxiprid (Roxiam) war als modernes atypisches Neuroleptikum 1991
als "Rose ohne Dornen" angekündigt worden, d.h. als
gut verträgliches Medikament ohne Nebenwirkungen. Drei Jahre
später wurde es allerdings von der Herstellerfirma wieder vom
Markt genommen: wegen einer Reihe von lebensgefährlichen Fällen
aplastischer Anämie Blutarmut mit Verminderung der roten
und weißen Blutkörperchen, beruhend auf einem Defekt
im blutbildenden System. Ein anderes Beispiel ist Sertindol (Serdolect),
das lange als nebenwirkungsarm galt. Im November 1998 fand sich
im Internet in medizinischen Datenbanken noch der Begriff nebenwirkungsfrei.
Am 2.12.1998 meldete dann die 'Ärzte Zeitung': "Vertrieb
von Serdolect(R) gestoppt Anlass sind schwere kardiale Nebenwirkungen
und Todesfälle".
Risperidon (Risperdal) ist ein weiteres atypisches Neuroleptikum,
das die Lebensqualität erhöhen und die Reintegration ins
gesellschaftliche Leben erleichtern soll. "Zurück ins
Leben", "Anna ist wieder da", so oder ähnlich
lauten die Werbesprüche. In der 'Medical Tribune' vom 26. Mai
2000 lobte Psychiater Dieter Naber aus Hamburg Risperidon als "gut
verträgliches Medikament". Aber nicht nur Anna ist wieder
da; auch tardive Dyskinesien sind wieder da. Just am gleichen 26.
Mai 2000 wurde in Philadelphia/USA der Psychiatriebetroffenen Elizabeth
Liss 6,7 Millionen US-Dollar Schmerzensgeld zugesprochen, zahlbar
vom behandelnden Psychiater. Frau Liss war nach vierzehnmonatiger
Verabreichung von Risperidon an tardiver Dyskinesie erkrankt, Unterform
tardive Dystonie in Form von Krämpfen der Gesichts- und Nackenmuskulatur.
Therapie unter Psychopharmaka?
Abgesehen von der Gefahr akuter toxischer Reaktionen oder chronischer
Psersönlichkeitsveränderungen stellt sich schon bei normaler
Psychopharmakawirkung die Frage, wie unter emotionaler Panzerung
speziell unter Antidepressiva und Neuroleptika eine Psychotherapie
stattfinden kann, die verborgene Konflikte aufdecken und lösen
hilft. Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit,
sich an die Lösung psychischer Probleme zu machen, ist ein
von chemischen Beeinträchtigungen freies psychisches Potential.
Ob sich die Betroffenen alleine, gemeinsam mit Nahestehenden, in
Selbsthilfegruppen, in psychotherapeutischen Beziehungen oder durch
Hilfe von Homöopathen oder Naturheilkundlern mit der eigenen
Lebenssituation, mit Schwächen, Problemen, Ängsten und
Blockaden auseinandersetzen wollen: dies ist unter Psychopharmakaeinfluss
ebenso schwer vorstellbar wie unter Alkohol oder dem Einfluss sonstiger
persönlichkeitsverändernder und benommen machender psychotroper
Substanzen. Mit dem Glauben an die wirksame Hilfe durch den richtigen
Arzt und seine richtige Psychopille in der richtigen Dosis endet
zu oft die Möglichkeit, eine Krise als Chance angemessener
Wirklichkeitsverarbeitung zu erkennen, Einsicht in die Kontinuität
des eigenen Lebens in all seiner Vielfalt zu gewinnen und die vorhandenen
realen existentiellen Probleme in eigener Verantwortung und eventuell
mit geeigneter fachlicher Hilfe anzupacken.
Dieser kritischen Darstellung wird von der herrschenden Medizin
mit Sicherheit vehement widersprochen. Psychopharmaka würden
ein neues Gleichgewicht gestörter Transmitterfunktionen herstellen
und die Behandelten dadurch auch psychotherapeutischen Maßnahmen
zugänglich machen. Bei vielen psychischen Problemen unter Psychopharmakabehandlung
handle es sich um Symptomverschiebungen der postulierten primären
Krankheit. Liest man jedoch die Fachliteratur, sieht man sich eines
besseren belehrt und erkennt in dieser Argumentation eine leicht
durchschaubare Schutzbehauptung. Durch Auslass- und Doppelblindversuche,
unter denen sich der psychische Zustand der Behandelten jeweils
dramatisch veränderte, wird es leicht, Störungen als Auswirkungen
der Psychopharmaka zu erkennen. Auch die übereinstimmenden
Ergebnisse von Selbst- und Tierversuchen sprechen eine klare Sprache.
Ernsthafte Therapeuten sollten sich wirklich nicht mehr wundern,
weshalb ihre Klienten unter psychopharmakologischem Einfluss oft
so verschlossen wirken. Therapeuten, die sich nicht auf Aussagen
der Pharmawerbung oder wohlklingende Lehrbuch-Versprechungen von
Psychiatern verlassen wollen, tun gut daran, sich näher mit
der Wirkungsweise von Psychodrogen zu befassen und sich eine fundierte
und unabhängige Meinung zu bilden. Detaillierte Erfahrungsberichte,
wie diese Substanzen abgesetzt wurden, ohne gleich wieder im Behandlungszimmer
des Arztes oder in der Anstalt zu landen, wirken entängstigend
und bilden eine vernünftige Betrachtungsgrundlage.
Weiterführende Literatur
-
P.
Lehmann: Blinde Flecken in der sozialpsychiatrischen Wahrnehmung,
in: Soziale Psychiatrie, 25. Jg. (2001), Nr. 1, S. 10-14
-
P.
Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen Erfolgreiches
Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin
und Tranquilizern, Berlin 1998 (5., aktualisierte und erweiterte
Auflage 2019; E-Book
2023)
-
P. Lehmann: Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken, Band 2:"Wie
Psychopharmaka den Körper verändern, Berlin 1996
(E-Books 2022)
Copyright by Peter Lehmann 2002 |