Zahnschäden unter NeuroleptikaSobald
sich Zahnmediziner ernsthaft um Neuroleptikabetroffene zu kümmern beginnen,
wird deren katastrophaler Zahnbefund offenbar. Die Arbeitsergebnisse fachintern
veröffentlichter Studien decken sich hierbei weitgehend. Laut Dieter Herrmann
vom Fachbereich Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Freien Universität
Berlin kommt es durch die neuroleptikabedingte Verminderung der Mundhygiene zu
Karies (Zahnfäule) und Parodontolopathien (Entzündungen des Zahnfleisches
und Zahnhalteapparates mit Zahnlockerung und Zahnverlust) aller Art 660.
Die Mundtrockenheit vermindert den natürlichen Speichelspülungseffekt,
was zu Parodontitis (Entzündung des Zahnhalteapparates), zum Lösen der
Zähne und zur Kariesverbreitung führt. Daneben, so der Zahnmediziner
Karl-Olov Rydgren aus der schwedischen Stadt Lund, fördert die in Anstalten
übliche Praxis, Psychopharmaka in süßlichen Mixturen aufzulösen,
ebenfalls Karies. Das Trinken zuckerhaltiger Limonaden als Folge der neuroleptikabedingten
abnormen Durststeigerung wirkt sich katastrophal auf die Kariesverbreitung aus.
Eine Untersuchung Bertil Sundquists von der Zahnmedizinischen Fakultät der
Universität Göteborg zeigte, dass mit zunehmender Aufenthaltsdauer in
der örtlichen Anstalt die Kariesfrequenz steigt 1491.
Sein Kollege Berne Erlandsson vom Birgittas Sjukhus in Vadstena/Schweden und die
dortige Krankenhausapothekerin Marianne Birgerson empfahlen deshalb, zur Kariesvorbeugung
die Anstaltsinsassen zum Zähneputzen anzuhalten und auf zuckerhaltige Neuroleptikapräparate
zu verzichten, die von den Herstellerfirmen angeboten werden 409.
(Die neuroleptikabedingten zwanghaften Kiefer-, Zungen- und Lippenbewegungen,
die Abrasionen, d.h. Abkratz- und Abschabschäden, hervorrufen und insbesondere
Zahnprothesenträgern zu schaffen machen, werden im Abschnitt über Bewegungsstereotypen
des Muskelapparats Thema sein.) Rydgren fasste seine Untersuchungsergebnisse zusammen: Das
Resultat zeigt eine gute Übereinstimmung mit den üblichen Erfahrungen,
die in der medizinischen Literatur über chemische Nebenwirkungen in der Psychiatrie
angegeben werden. Es bestätigt auch den Verdacht, dass sich der Zustand des
Mundbereichs bei psychopharmakologisch behandelten Patienten verschlechtert, insbesondere
ihre Kariesaktivität in Kombination mit Xerostomie (Mundtrockenheit)
und extrapyramidalen Nebenwirkungen. 1285:85 Ein
Jahr nach Rydgren veröffentlichten italienische Zahnmediziner weitere Untersuchungsergebnisse
über Neuroleptikawirkungen im Mundbereich. Neben schmerzhaften Schling- und
Schluckstörungen stießen sie auf Trockenheit der Lippen, der Schleimhäute
und der Zunge, auf vermehrten Zahnbelag, vermehrten Zahnstein und vermehrte kariöse
Prozesse, häufig verbunden mit einer starken Vermehrung der Candida albicans
(Syringospora albicans) 724, d.h. von Soorpilz, dem Erreger
der Pilzkrankheit Soormykose. Diese wiederum beinhaltet bei geschwächtem
Allgemeinzustand die Gefahr einer Entzündung der Innenhaut des Herzens und
Blutvergiftung. Häufigkeitsangaben Wie aus den Ausführungen
von Heinrich Gross und Kaltenbäck deutlich wurde, gilt die Austrocknung der
Mundschleimhäute manchem Psychiater als Prüfstein für die Wirksamkeit
der Neuroleptika. Sie wird vermutlich nur selten als unerwünschte Nebenwirkung
registriert. Hier sind einige Häufigkeitsangaben zu Schäden an Schleimhäuten,
Schweiß- und Tränendrüsen und an Zähnen: Über
chlorpromazinbedingte Trockenheit der oberen Atemwege bei 34 (85%) von 40 Betroffenen
und im Selbstversuch publizierte Klaus Ernst: Die unangenehme Trockenheit
in Mund und Nase fehlte nur in sechs Fällen. In acht Fällen kamen dazu
noch jene Atembeschwerden, die bei der gesunden Versuchsperson eingehender beschrieben
wurden. Das Erlebnis des Selbstversuches und die genauen Schilderungen einiger
Kranker lassen uns an die Möglichkeit denken, dass außer der Trockenheit
der oberen Luftwege auch die zentrale Anregung der Atmung in Verbindung mit dem
Schwächegefühl der gesamten und auch der Atmungsmuskulatur hierbei mitwirkt.
410:581f. Eine Angabe stammt von dänischen
Psychiatern und betrifft abnorme Mundtrockenheit unter Chlorprothixen: sie wird
mit 9,7% beziffert 1224. Eckart Rüther von der
Universitätsanstalt München gab für das Vorkommen von Mundtrockenheit
unter Neuroleptika 14% an 1284. Unter Clozapin kommt
es laut einer US-amerikanischen Studie bei 13% der Behandelten zu abnormem Speichelfluss
803. Auch unter Reserpin treten in erheblichem Ausmaß solche Symptome auf.
Der Pflegeleiter der Anstalt Landeck berichtete in seinem Aufsatz
»Pharmakeule aus der Sicht des Pflegepersonals«, wie nach
Verabreichung dieser Substanz ... die Patienten stocksteif, seibernd
(mit fließendem Speichel) durch die Wachsäle schlichen. Oft hatten
sie auch noch ausgeprägte Akathisien... 609:59 Irvin
Buck und Livia Kalnins von der Zahnambulanz der staatlichen Psychiatrischen Anstalt
von Rochester, New York, stießen bei einer Untersuchung bei 62% von 3000
Psychiatriebetroffenen, denen man Neuroleptika und/oder Antidepressiva verabreicht
hatte, auf eine Vielzahl von Erkrankungen im Bereich der Mundhöhle. Der Prozentsatz
der Kontrollgruppe von 723 Patientinnen und Patienten eines Krankenhauses lag
bei 4,2%. Man prüfte auch andere Körperpartien: Bei 21%
der weiblichen Patienten, denen man psychopharmakotherapeutische Medikamente verabreicht
hatte und die unter Mundverletzungen litten, trat auch vaginale Moniliasis
(Soorinfektion der Scheide durch Pilzbefall) auf. Man fand ein hohes Vorkommen
von Moniliasis in den intertriginösen Bereichen (Berührungsstellen
der Haut: vor allem Achseln, Leisten, Damm, Analspalte, Nabel, zwischen den Zehen
und Fingern, unter den Brüsten) und zwischen den Zehen dieser Patienten,
besonders bei älteren Patienten mit ausgebreiteter Onychogryposis (Nagelverkrümmung).
1186:385 Unter seinen 68 untersuchten Neuroleptikabehandelten
sah Windgassen bei 17 (25%) Hypo- oder Hypersalivation 1631:45/62.
In anderen Studien betrug die Häufigkeit von Mundtrockenheit zwischen 16%
1284 und 27,6% 568. Häfner
und Kutscher sprachen von einer neuroleptikabedingten Infektionsrate von 6,4%,
wobei fast die Hälfte der eingestandenen Infekte im Gebiet der Nase und des
Rachens auftraten 594. Rydgren zeigte, was dabei herauskommt,
wenn sich Mediziner für die Gesundheitsversorgung in der Anstalt verantwortlich
fühlen. Er hatte den Neuroleptikabetroffenen offenbar auch in die Mundhöhle
geschaut und bei 79% bis 90% der 253 neuroleptisch Behandelten eine abnorme Mundtrockenheit
gefunden. Ca. 50% der Untersuchten, insbesondere diejenigen mit Mundtrockenheit,
litten unter Zahnfleischentzündung 1285. Eine
Untersuchung an je 103 Anstaltsinsassinnen und -insassen sowie nichtpsychiatrisierten
Kontrollpersonen, die 1979 in Médicine et Hygiène veröffentlicht
wurde, erbrachte bei 34,9% der unter Neuroleptika (z.B. Haloperidol oder Chlorpromazin)
Stehenden eine bukkale Candidiasis (Pilzerkrankung der Schleimhaut im Wangenbereich),
wobei Candida albicans der häufigste Erreger war. In der Kontrollgruppe litten
nur 7,9% an dieser Pilzerkrankung: Das Auftreten dieser bukkalen
Candidiasis scheint gekoppelt zu sein an die Verknüpfung mehrerer Faktoren,
die allesamt Folgen der Neuroleptikabehandlung sind: Hyposalie (verminderter
Speichelfluss), Acidification (Versäuerung) der Mundhöhle
und Verminderung der Laktobazillen (Milchsäurebakterien mit der Funktion,
Säure zur Erhaltung der Wasserstoffionenkonzentration zu bilden). (...)
Die bukkal-dentären (Wangenschleimhäute und Zahnapparat betreffenden)
Probleme sind gleichfalls die Regel: Mundtrockenheit, Karies. 22:1572
Quellen siehe: Peter
Lehmann, Schöne neue Psychiatrie. Band 2: Wie Psychopharmaka
den Körper verändern, Berlin: Antipsychiatrieverlag
1996 (eBook 2022) |