Original in: Wolfram Pfreundschuh (Hg.): Kulturkritisches Lexikon (Internetveröffentlichung vom 31. Januar 2014). Letzte Aktualisierung am 4. Juli 2023

Neuroleptika

Neuroleptika gehören zur heterogenen Gruppe der psychiatrischen Psychopharmaka. Der Begriff »Neuroleptikum« ist zu übersetzen mit »Nervendämpfungsmittel«. Es gibt eine Reihe synonymer Begriffe: »Neuroplegikum« (»Nervenlähmungsmittel«), »major tranquilizer«, »Antischizophrenikum« oder »Antipsychotikum«. Standardkriterien für die Zuordnung einzelner Psychopharmaka zu speziellen Wirkstoffgruppen gibt es nicht. In manchen Ländern werden spezielle Wirkstoffe den Neuroleptika zugeordnet, in anderen Ländern den Antidepressiva. Die Klassifikation kann sich auf die pharmakologische Struktur der Substanz beziehen, ihren biochemischen Wirkmechanismus, ihre Auswirkungen oder die subjektive Intention des Verabreichers.

Die Wirkungsweise der Anfang der 1950er-Jahre in das psychiatrische Behandlungsarsenal aufgenommenen Neuroleptika besteht im Wesentlichen auf einer mehr oder weniger subtilen Beeinträchtigung des Transmitters (Nervenimpulsüberträgerstoffs) Dopamin, wodurch parkinsonoide Störungen hervorgerufen werden nach der Vorstellung »Parkinson löscht Schizophrenie«. Die Hervorrufung eines Parkinsonoids, des Symptomenkomplexes der Parkinson-Krankheit, galt lange als unerlässliche Bedingung dafür, dass eine Substanz als Neuroleptikum eingesetzt werden kann. Die Wirksamkeit von Neuroleptika auf das extrapyramidale System bezeichnet man als neuroleptische Potenz. Das extrapyramidale System ist ein wichtiges Zentrum des zentralen Nervensystems und wird von Nervensträngen gebildet, die vom Großhirn über verschiedene Mittelhirnkerne zum Rückenmark laufen und das Muskelsystem steuern. Unter Bezug auf Chlorpromazin, den Neuroleptika-Prototyp, definieren Mediziner die neuroleptische Potenz als diejenige Dosis, mit der die »neuroleptische Schwelle« überschritten wird, d. h. parkinsonoide Symptome auftreten. Diese sind keine Nebenwirkungen, sondern die definierte Hauptwirkung.

95% aller Patienten mit Diagnosen »Schizophrenie« und »Psychose« erhalten Neuroleptika (z. B. Abilify, Risperdal, Seroquel); auch in vielen Alten- und Pflegeheimen werden die Substanzen zur Ruhigstellung störender Menschen verabreicht; die größten Mengen von Neuroleptika werden in der Allgemeinmedizin umgesetzt. Hier werden sie bei Allergien, übermäßigem Schwangerschaftserbrechen oder psychovegetativen Störungen eingesetzt. In der Anästhesie kann man mit Neuroleptika das Biosystem in einen künstlichen Winterschlaf versetzen. In der Tiermedizin gibt man Neuroleptika zur Ruhigstellung nervöser Zootiere oder bei Eingriffen an gefährlichen Tieren; auch Dressurpferde erhalten gelegentlich Neuroleptika. Werden Neuroleptika in totalitären Staaten benutzt, um politische Gefangene zu quälen, wird von Folter gesprochen.

Die Hemmung spezieller Nervenimpuls-Übertragungssysteme und die Dämpfung vegetativer Zentren sind mit einer Vielzahl von Risiken und Schäden verbunden wie Fettleibigkeit, Hypercholesterinämie (erhöhter Cholesteringehalt im Blut), Diabetes, Schlaganfall, Muskelstörungen. Als weitere Folgewirkungen können zentralnervöse und psychische und Störungen und Persönlichkeitsveränderungen auftreten, z. B. Verminderung der grauen Substanz der Hirnrinde und damit der Intelligenzwerte, Defizit-Syndrom, emotionale Vereisung, Apathie, Willenlosigkeit und Verzweiflungszustände bis hin zur Selbsttötung sowie Verwirrtheit und Psychosen.

Eine Folge der gestörten Dopaminübertragung ist ein Anstieg des Prolaktinspiegels. Die Beeinflussung spezieller Dopaminrezeptoren-Subtypen, sogenannter Dopamin-D2-Rezeptoren, gilt als »kleinster gemeinsame Nenner« aller Neuroleptika. Dopamin hemmt an sich die Absonderung des Hormons Prolaktin. Unter Neuroleptikaeinfluss steigt der Prolaktinspiegel im Blut. Mögliche Folgeerscheinungen dieser Hormonveränderungen sind Impotenz, Ausbleiben der Menstruation, Sterilität und Geschwulstbildung in den Brustdrüsen bis hin zu Brustkrebs. Deutlich erhöhte Prolaktinspiegel können schon bei Niedrigstdosierung auftreten. Manche Ärzte benutzen den erhöhten Prolaktinspiegel im Blut als Messpegel zur Überprüfung der verordneten Neuroleptika-Einnahme. Verantwortungsvollere Ärzte informieren die Patienten über die Bedeutung des erhöhten Prolaktinspiegels, über Frühwarnsymptome und die Notwendigkeit von Blutspiegelkontrollen zur Vermeidung größerer Schäden.

Neuroleptika können zu bleibenden Rezeptorenveränderungen im Nervensystem führen, zur Toleranzbildung und körperlichen Abhängigkeit, die allerdings von der herrschenden Medizin vertuscht wird. Dauerhaft parallel eingenommene Antiparkinsonmittel, die neuroleptikabedingte Muskelstörungen unterdrücken sollen, erhöhen das Abhängigkeitsrisiko, da Störsymptome, welche negative Reaktionen des Körpers auf die Neuroleptika anzeigen, in ihrer Entäußerung unterdrückt werden.

Aufgrund von möglichen Entzugsproblemen sollte nicht nur die Einnahme, sondern auch der Entschluss zum Absetzen und dessen Prozess gut durchdacht sein. Hilfen beim selbstbestimmten Absetzen von Neuroleptika wird in aller Regel nicht gewährt. Wirken Neuroleptika nicht wie von Psychiatern gewünscht, verabreichen sie gerne zur Augmentation (Wirkungsverstärkung) weitere Psychopharmaka oder Elektroschockserien. Auch die Verweigerung der Einnahme von Neuroleptika kann eine Indikation für Elektroschocks sein.

Informieren Sie sich gründlich, bevor Sie sich zur Einnahme überreden lassen oder entschließen. Insbesondere die um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verminderte Lebenserwartung »ernsthaft psychisch Erkrankter« (Diagnosen: Schizophrenie, Psychose, bipolare Störung, schwere Depression, Persönlichkeitsstörung) sollte beachtet werden, wenn man sich entschließt, Neuroleptika längerfristig einzunehmen. Wer Klarheit über die Risiken will, muss sich mit deren Wirkungsweise und Auswirkungen auseinandersetzen, erst recht, wenn ärztlicherseits das Interesse an einer umfassenden Aufklärung zu wünschen übrig lässt.

Achtung: In der letzten Jahren wurden sogenannte atypische Neuroleptika (z. B. Leponex, Solian, Zyprexa) entwickelt, die wie eine Kombination aus Neuroleptika und Antiparkinsonmittel wirken und die diskreditierenden typischen Muskelstörungen weniger oder nicht sofort bewirken und deshalb als nebenwirkungsarm verharmlost werden. Es handelt sich jedoch nicht um weniger unerwünschte Wirkungen, sondern um andere, die aber ebenfalls sehr einschneidend sein können, auch wenn sie von den Patienten nicht unmittelbar wahrgenommen werden, weswegen man sie leichter zur Einnahme dieser Substanzen motivieren kann – so Gerhard Ebner, Präsident der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte. Besonders zu nennen ist die Gefahr von Supersensitivitätspsychosen und tardiver Psychosen. Manche Ärzte schreiben, dass sich seit Einführung dieser neueren Neuroleptika die Sterblichkeit psychiatrischer Patienten noch weiter beschleunigt hat.

Reichen Selbsthilfemaßnahmen nicht aus, gibt es sinnvolle Alternativen zu Neuroleptika: Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie, systemische Verfahren, tiefenpsychologische Verfahren), naturheilkundliche oder homöopathische Mittel (z. B. Baldrian), Aromatherapie, Akupunktur, Sport, Physiotherapie und Entspannungsverfahren (Joggen, Gymnastik, Schwimmen, Yoga, Meditation, autogenes Training etc.), kreative Therapien und Ergotherapie (Tanz-, Musik-, Kunst- oder Ergotherapie), spezielle Ernährungsmaßnahmen, psychosoziale Hilfen und Sozialberatung (z. B. bei Problemen im Bereich Arbeit, Wohnen, Finanzen).

Literaturempfehlungen zu Neuroleptika-Risiken, unerwünschten Wirkungen, zum Absetzen und zu Alternativen:

Peter Lehmann / Craig Newnes (Hg): Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige

Peter Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer: Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika – Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen

Peter Lehmann: Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen

Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken. Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern

Peter Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern

Peter Lehmann, Peter / Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2

Peter Lehmann: Gibt es eine Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika? Wem nützt welche Antwort? Und was folgt daraus für die Praxis?

Josef Zehentbauer: Chemie für die Seele – Psyche, Psychopharmaka und alternative Heilmethoden

Aufklärungsbögen Neuroleptika in Umgangssprache, in Leichter Sprache, auf Griechisch und Arabisch, Englisch, Französisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Spanisch, Serbokroatisch und Türkisch