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Peter Lehmann (Hg.)

Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern. E-Book


Vorworte von Pirkko Lahti, Loren R. Mosher und Peter Lehmann


Vorwort von Pirkko Lahti

Dieses weltweit erste Buch zum Thema »Erfolgreiches Absetzen von Psychopharmaka«, erstmals veröffentlicht 1998 in Deutschland, richtet sich vor allem an Menschen, die aus eigener Entscheidung absetzen wollen. Es wendet sich aber auch an ihre Angehörigen und TherapeutInnen.

Millionen Menschen nehmen psychiatrische Psychopharmaka, zum Beispiel Haldol, Fluctin oder Zyprexa. Für sie sind detaillierte Erfahrungsberichte darüber, wie man diese Substanzen abgesetzt hat, ohne wieder im Behandlungszimmer des Arztes zu landen, von existentiellem Interesse.

Viele meiner KollegInnen im psychosozialen Arbeitsfeld verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, Kriterien für die Verabreichung von Psychopharmaka zu entwickeln. Diagnosen wie Zwangshandlung, Depression, Hautentzündung, Hyperaktivität, Schwangerschaftserbrechen, Schlaflosigkeit, Bettnässen, Psychose, Stottern oder Reiseübelkeit können zur Anwendung von Neuroleptika führen, von Antidepressiva, Lithium, Tranquilizern und anderen Psychopharmaka. Die Entwicklung von Indikationen ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, reich an Konsequenzen.

Diagnosen und Indikationen führen oft zur Behandlung mit Psychopharmaka, die langwierig sein kann. Wer kann vorhersagen, ob die Psychopharmaka – wenn die Zeit kommt – problemlos abgesetzt werden können? Von Tranquilizern, besonders von Benzodiazepinen, kennen wir die abhängig machende Wirkung bereits. Absetzen ohne therapeutische Hilfe und ohne Kenntnisse über die Risiken kann einen dramatischen Verlauf nehmen. Welche Risiken gibt es beim Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva und Lithium?

Welche Bedingungen können zu einem schnellen Rückfall nach dem Absetzen führen? Hörten wir nicht schon von psychopharmakabedingten Absetzproblemen, von Rezeptorenveränderungen, Supersensitivitäts- und Absetzpsychosen? Wer kann Rückfälle von verdeckten Entzugsproblemen unterscheiden?

Welche Bedingungen unterstützen ein erfolgreiches Absetzen – erfolgreich in dem Sinn, dass die PatientInnen danach nicht sofort wieder im Behandlungszimmer des Arztes sitzen, sondern frei und gesund leben, so wie wir uns das alle wünschen?

Lassen wir unsere PatientInnen nicht allein mit ihren Sorgen und Problemen, wenn sie sich – aus welchem Grund auch immer – selbst entscheiden, ihre Psychopharmaka absetzen zu wollen? Wo können sie Unterstützung, Verständnis und positive Vorbilder finden, wenn sie sich enttäuscht von uns abwenden (und wir uns von ihnen)?

Peter Lehmann, Vorstandsmitglied des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen (ENUSP) und ehemaliges Vorstandsmitglied von Mental Health Europe, der europäischen Sektion der World Federation for Mental Health (Weltverband für psychische Gesundheit), hat Anerkennung geerntet für die schwierige Aufgabe, als weltweit erster Experte Erfahrungen von Betroffenen und ihren TherapeutInnen zu sammeln, die Psychopharmaka erfolgreich abgesetzt oder ihre KlientInnen dabei unterstützt haben. In diesem Buch schreiben Betroffene aus Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Serbien & Montenegro, Neuseeland, den Niederlanden, Österreich, Schweden, der Schweiz, Ungarn und den USA über ihre Absetzerfahrungen. Darüber hinaus berichten ExpertInnen aus der Medizin, Psychiatrie, Sozialarbeit, Psychotherapie und Naturheilkunde davon, wie sie ihren KlientInnen beim Absetzen helfen. Durch die Internationalität der AutorInnen bietet das Buch ein umfassendes Bild von Erfahrungen und Wissen.

Das Buch hat eine provokante Botschaft: Lebenserfahrungen weichen manchmal von wissenschaftlichen Übereinkünften ab. Es basiert auf persönlichen Erfahrungen von Betroffenen sowie von Professionellen, die beim Absetzen von Psychopharmaka helfen. Somit ist es ein guter Ansatzpunkt, in die Diskussion einzusteigen. Das Buch sollte in jeder Arztpraxis, jeder Therapiestation und in jeder Patientenbibliothek verfügbar sein.

Pirkko LahtiPirkko Lahti
Präsidentin der World Federation for Mental Health (2001-2003)
Helsinki, 19. August 2002

 

Vorwort von Loren R. Mosher

»There is no tyranny so great as that which is practiced for the benefit of the victim.«
(»Es gibt keine größere Tyrannei als diejenige, die im Interesse des Opfers praktiziert wird.«) – C.S. Lewis

Dieses Buch ist einem Thema gewidmet, zu dem es heutzutage eine Menge abwegiger Vorstellungen gibt. Wir leben in einem Zeitalter der ›Pille für jedes Leiden‹. Speziell den Pillen, die auf unsere Psyche wirken, widmen die Menschen jedoch zu wenig Aufmerksamkeit. Was bedeutet es, die Seele, das Selbst, den menschlichen Geist medikamentös zu behandeln? Unser Standardlexikon »Webster« definiert Psyche auf all diese drei Arten. Greifen diese Chemikalien (»Psychopharmaka«) nicht in den Kern der menschlichen Natur ein? Sollte man diesem Prozess nicht viel Vorsicht und Umsicht schenken? Wenn einmal begonnen, sollte er nicht kontinuierlich überwacht werden? Wenn doch alle drei – Seele, Selbst, menschlicher Geist – das Wesen des Menschen ausmachen, sollten dann nicht die Betoffenen aufgrund ihrer eigenen subjektiven Erfahrung mit den Psychopharmaka entscheiden, ob sie diese nehmen wollen? Die Antwort ist natürlich ein lautes und deutliches Ja.

Lassen Sie uns realistisch werden. Da es nur wenige objektive Indikatoren für die Wirkung dieser Medikamente gibt, sind die Berichte der PatientInnen entscheidend. Beschäftigen sich die psychopharmakaverschreibenden Ärzte und Psychiater sorgfältig mit der persönlichen Erfahrung der PatientInnen mit einzelnen Medikamenten? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich unterschiedlich, aber wenn man eine andere Sprache spricht, einer Minderheit angehört, arm ist, als ›sehr krank‹ angesehen wird oder in der Psychiatrie zwangsuntergebracht ist, nimmt die Wahrscheinlichkeit, wirklich angehört zu werden, dramatisch ab – dabei ist sie für alle schon nicht sehr hoch.

Daher ist der Kern dieses Buches sehr wichtig: die Geschichten von Personen, denen nicht zugehört wurde, als ihre Seele, ihr Selbst und ihr menschlicher Geist durch die – oft zwangsweise verabreichten – Psychopharmaka Qualen erlitten. Da gibt es die Geschichten von mutigen Entscheidungen, die im Widerspruch zur Meinung von einflussreichen Experten (und manchmal gegen Familie und FreundInnen) getroffen wurden – und vom Leiden, das manchmal folgte. Nach dem Absetzen der Medikamente begann das Gehirn, wieder den ursprünglichen Zustand herzustellen. Die meisten wurden nie davor gewarnt, dass die Medikamente möglicherweise hirnverändernd wirken (oder noch schlimmer, Hirnbereiche abtöten), so dass Entzugserscheinungen fast zwangsläufig auftreten. Ebensowenig wussten sie, dass diese langwierig sein und als »Rückfall« interpretiert werden können. Es gibt Horrorgeschichten davon, was passieren kann (aber nicht muss), wenn man versucht, das Gehirn zum normalen Funktionieren zurückkehren zu lassen, nachdem es voll unter dem Einfluss ›therapeutischer‹ Chemikalien gestanden hatte. In der Regel war dieses Leiden leider notwendig, um die Seele, das Selbst und den menschlichen Geist – den Kern der menschlichen Natur – wieder herzustellen.

Da die Medikamente gedankenlos, in paternalistischer Manier und oft unnötig gegeben wurden, um eine nicht identifizierbare ›Krankheit‹ zu heilen, ist das Buch auch eine Anklage gegen Ärzte. Den Hippokratischen Eid – in erster Linie keinen Schaden zufügen – missachtete man regelmäßig in der Eile, ›etwas zu tun‹. Wie ist es möglich zu klären, ob es Seelenmord geben kann, wenn man die Erfahrungsberichte von PatientInnen mit Medikamenten nicht kennt, die direkt auf das Wesentliche ihres Menschseins abzielen? Auch wenn sie sich anders geben: Ärzte sind nur Doktoren der Medizin, keine Medizingötter. Im Gegensatz zu richtigen Göttern müssen sich Ärzte für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen lassen.

Dieses Buch ist ein Muss für alle, die mit dem Gedanken spielen, diese legalen persönlichkeitsverändernden Medikamente zu nehmen oder nicht mehr zu nehmen, und vielleicht noch eher für diejenigen, die sie verschreiben können.

Loren MosherDr. med. Loren R. Mosher (1933-2004)
Direktor, Soteria Associates
Klinischer Professor für Psychiatrie, University of California, San Diego, Medizinische Fakultät
26. August 2002

Vorworte von Peter Lehmann

Zur aktualisierten eBook-Ausgabe von 2023

Acht Jahre sind seit der im Vorwort zur eBook-Ausgabe von 2022 erwähnten Forderung der Arbeitsgruppe Willkürliche Unterbringung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen nach Hilfeprogrammen für Menschen vergangen, die sich für das Absetzen von Psychopharmaka entscheiden. Die Forderung wurde im selben Jahr 2015 im selben Wortlaut in die Richtlinie 14 (»Freiheit und Sicherheit der Person«) der UN-Behindertenrechtskonvention aufgenommen (CRPD, 2015). Obwohl diese Konvention von den deutschen, liechtensteinischen, österreichischen und Schweizer Regierungen unterzeichnet wurde und somit Gesetzeskraft erlangte, scheint dies psychiatrische Interessenorganisationen wie beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Ärzte-, Ethik- und Psychotherapeutenkammern, Gesundheitsministerien und -verwaltungen, Krankenversicherungen, Gesundheitsökonominnen und -ökonomen und fast alle übrigen Akteurinnen und Akteure im psychosozialen Bereich wenig zu interessieren.

Skepsis ist auch angebracht, dass sich an diesem Desinteresse etwas ändern wird, nachdem im Oktober 2023 die Weltgesundheitsorganisation und der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte in ihrem Leitfaden »Mental health, human rights and legislation« (»Psychische Gesundheit, Menschenrechte und Gesetzgebung«) nicht nur einen höheren Standard für die Aufklärung über Behandlungsrisiken und -alternativen einforderte; auch Dienstleistungsnutzer müssten über ihr Recht informiert werden, eine psychiatrische Behandlung mit Psychopharmaka zu beenden und dabei Unterstützung erhalten:

»Die Länder sollten angesichts der potenziellen kurz- und langfristigen Risiken von Psychopharmaka einen höheren Standard für die freie und informierte Zustimmung zu diesen Substanzen einführen. Die Länder können beispielsweise eine schriftliche oder dokumentierte Einwilligung nach Aufklärung (z. B. durch eine Aufzeichnung in Video- oder Audioformaten) vorschreiben, nachdem ausführliche Informationen über mögliche negative und positive Wirkungen und die Verfügbarkeit alternativer Behandlungsmethoden und nichtmedizinischer Optionen gegeben wurden. Der Gesetzgeber kann das medizinische Personal dazu verpflichten, Dienstleistungsnutzer über ihr Recht zu informieren, die Behandlung zu beenden und dabei Unterstützung zu erhalten. Es muss Unterstützung angeboten werden, damit Menschen die Behandlung sicher beenden können. Die Verschreibung von Psychopharmaka und die Nachsorge erfordern eine sorgfältige Abklärung und Überwachung der körperlichen Gesundheit.« (WHO & United Nations High Commissioner, S. 57 – Hervorhebung P.L.)

Wie wir in der Einleitung sehen werden, sind die Probleme, die Antidepressiva und Neuroleptika bei längerfristiger Einnahme verursachen können, seit ihrer Einführung in das Behandlungsarsenal in der Ärzteschaft bekannt. Nahezu siebzig Jahre brauchte es, bis Gerhard Gründer von der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und als ehemaliger Vorsitzender der Task Force Psychopharmakologie der DGPPN ein einflussreicher Vertreter der Mainstreampsychiatrie wenigstens fachöffentlich vor dem Teufelskreis warnte, den seine Kollegen vor Jahrzehnten angekündigt hatten:

»An der Entwicklung supersensitiver dopaminerger Systeme wird das Dilemma der antipsychotischen Pharmakotherapie deutlich: Jede Behandlung mit D2-Rezeptorantagonisten (gegen die Wirkung von Dopamin2 gerichteten Substanzen) birgt potenziell das Risiko, dass sich eine Supersensitivität der Zielrezeptoren entwickelt. Hat sich diese aber erst einmal eingestellt, so folgt daraus oft ein Teufelskreis von Toleranzentwicklung, Dosissteigerung und weiterer Progression des pathophysiologischen Prozesses (Fortschreiten des Prozesses krankhaft veränderter Körperfunktionen).« (2022, S. 70)

Der italienische Psychiater Giovanni Fava von der State University of New York in Buffalo beschrieb sein Toleranzmodell und denselben Tatbestand bei Antidepressiva:

»Eine fortgesetzte Behandlung mit antidepressiven Medikamenten kann Prozesse stimulieren, die den anfänglichen akuten Wirkungen eines Medikaments entgegenlaufen. (...) Nach Beendigung der medikamentösen Behandlung stoßen die gegenläufigen Prozesse nicht mehr auf Widerstand, was zum möglichen Auftreten neuer Entzugssymptome, zu anhaltenden Störungen nach dem Entzug, zu Hypomanie, zu Behandlungsresistenz bei Wiederaufnahme der Behandlung und zu Refraktärität (Unempfindlichkeit gegenüber therapeutischen Maßnahmen) führt.« (2023, S. 44)

Fehlinformationen über Abhängigkeits- und Entzugsprobleme, verweigerte oder inkompetente Hilfe beim Absetzen, unterlassene Absetzversuche und körperliche Abhängigkeit haben einen volkswirtschaftlichen Milliardenschaden zur Folge, den zu errechnen sich bisher niemand traut: die Kosten der Langzeitverabreichung, der Therapie behandlungsbedingter Schäden, der Betreuung der Geschädigten in Behindertenwerkstätten und betreutem Wohnen, der Unterbringung in Heimen, der Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit, der Frühberentung usw. Und neben dem materiellen Schaden wäre noch der immaterielle Schaden zu nennen, der mit der reduzierten Lebenserwartung aufgrund der kaskadenhaften Verabreichung potenziell toxischer Substanzen an meist von vornherein körperlich vulnerable Menschen einhergeht. Und die massive Einbuße ihrer Lebensqualität sowie der Lebensqualität ihrer Familien sollten auch nicht vergessen werden. Dabei gibt es gerade in Deutschland einige, wenn auch nur wenige Leuchtturmprojekte institutionalisierter kompetenter Absetzbegleitung sowohl in Kliniken, Institutsambulanzen und bei niedergelassenen Psychiatern (Lehmann & Newnes, 2023). Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis diese Best-Practice-Modelle Schule machen.

4. November 2023
Peter Lehmann

Zur aktualisierten eBook-Ausgabe von 2022

Psychiater halten es für einen großen Fortschritt, wenn ihre Patientinnen und Patienten bei der Frage, ob ihre Psychopharmaka abgesetzt werden sollen, mitentscheiden dürfen. Geteilte oder gemeinsame Entscheidungsfindung ist sicher besser als die bisherige Situation, wenn Psychiater über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Viele Psychiater schicken ihre Patientinnen und Patienten aus der Praxis, wenn sich diese für das Absetzen entschieden haben und um Beistand bitten. Die einen Psychiater halten ein solches Vorgehen für therapeutisch und ethisch korrekt; andere für unethisch und einen Kunstfehler, so beispielsweise Asmus Finzen (siehe oben).

Behandlungsleitlinien von Psychiaterverbänden legen es Psychiatern inzwischen nahe, ihre Patientinnen und Patienten beim Absetzen zu unterstützen, sofern sie, die Psychiater, dies für richtig halten. Für die Masse der Betroffenen, die unverschuldet in eine Abhängigkeit von Psychopharmaka geraten sind, die vor Behandlungsbeginn nicht über dieses Risiko aufgeklärt wurden und die keine unterstützungswillige und kompetente Ärzte finden, Psychiater inklusive, bleibt ihre verhängnisvolle doppelte Abhängigkeit von Psychiatern und von Psychopharmaka weiter bestehen. Mit ihrer willkürlichen Entscheidung, wegen fehlender psychologischer Sucht nach Antidepressiva oder Neuroleptika nicht von körperlicher Abhängigkeit zu sprechen (Lehmann, 2021, S. 91f.), setzen die verordnenden Ärzte ihre Patientinnen und Patienten immensen Risiken aus, wenn diese nun auf Dauer die oft gesundheitsschädlichen Psychopharmaka weiter einnehmen sollen oder aber auf eigene Faust den insbesondere nach längerer Einnahmezeit schwierigen Weg des Entzugs ohne Informationen über mögliche Entzugsprobleme und risikomindernde Maßnahmen und ohne Verschreibungen verringerter Dosierungseinheiten alleine gehen müssen.

2015 forderte die Arbeitsgruppe Willkürliche Unterbringung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen Hilfeprogramme, die (der Gruppe der Menschen mit Behinderungen zugeordneten) Psychiatriebetroffenen, die psychiatrische Einrichtungen verlassen wollen, Zugang zu Wohnraum, zu Unterhaltsmitteln und anderen Formen der wirtschaftlichen und sozialen Unterstützung gewähren. Damit soll das Recht auf ein unabhängiges Leben und die Integration in die Gesellschaft gefördert werden:

»Solche Hilfeprogramme sollten sich nicht auf die Bereitstellung psychosozialer Dienste oder Behandlungen konzentrieren, sondern kostenlose oder erschwingliche gemeindenahe Dienste einschließen, ebenso Alternativen, die frei von medizinischen Diagnosen und Eingriffen sind. Der Zugang zu Medikamenten und die Unterstützung beim Absetzen von Medikamenten sollte denjenigen zur Verfügung gestellt werden, die sich dafür entscheiden.
Menschen mit Behinderungen erhalten im Falle einer willkürlichen oder rechtswidrigen Freiheitsentziehung eine Entschädigung sowie andere Formen der Wiedergutmachung. Bei dieser Entschädigung ist auch der Schaden zu berücksichtigen, der durch mangelnde Verfügbarkeit, die Verweigerung angemessener Vorkehrungen oder fehlende medizinische Versorgung und Rehabilitation bei Personen mit einer Behinderung entstanden ist, denen die Freiheit entzogen wurde.« (Working Group, 2015, S. 25 – Hervorhebung P.L.)

Sieben Jahre sind seither vergangen. Bei einer Nachfrage 2021 zeigte sich, dass die oben erwähnten Angebote stationärer Hilfen beim Absetzen im Landeskrankenhaus Andernach und in der Berliner Soteria-Station nicht oder nicht mehr bestehen oder sich nicht für einen längerfristigen Entzug eignen (Lehmann, 2022). Nur ausnahmsweise finden sich hier und da lokale Angebote der Hilfe, jeweils abhängig von einzelnen psychosozial Engagierten. Es gibt jedoch weder die geforderten Hilfeprogramme für absetzwillige Menschen noch Entschädigungen für das ihnen zugefügte Leid.

Im deutschsprachigen Raum existiert seitens Parteien und Organisationen, die sich die Vertretung von Patienteninteressen und die Durchsetzung gleicher Rechte für Menschen mit Behinderungen auf die Fahnen geschrieben haben, von Psychexit abgesehen noch nicht einmal die Forderung nach solchen Hilfeprogrammen und Entschädigungen. In aller Regel müssen Betroffene deshalb beim ärztlicherseits nicht unterstützten Absetzwunsch notfalls eigene Wege finden, um die ursprünglich verordneten Psychopharmaka risikoarm wieder abzusetzen. Ändern könnte sich an dieser Situation dann etwas, wenn eine – eventuell durch eine Rechtsschutzversicherung abgesicherte – Musterklage auf Schadenersatz wegen der Verweigerung von Hilfen und Rehabilitationsangeboten erfolgreich wäre.

Etwas günstiger wurden inzwischen die Aussichten auf eine erfolgreiche Schadensersatzklage wegen der Verursachung einer Medikamentenabhängigkeit. In seinem Urteil C-621/15 vom 21. Juni 2017 legte der Europäische Gerichtshof die 1985 beschlossene Richtlinie 87/374/EWG der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Poos, 1985) in einer betroffenenfreundlichen Weise aus. In der Richtlinie ist im Interesse der Pharmaindustrie verfügt, dass es die Geschädigten sind, die die Beweise des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Produktfehler und einem eingetretenen Schaden erbringen müssen. Mit dem Urteil C-621/15, das einen Schaden nach einer Impfung mit einem Produkt der Fa. Sanofi Pasteur betraf, könnte nun – zumindest theoretisch – im Falle einer (krankhaften) Medikamentenabhängigkeit ein Schadensersatzanspruch durchgesetzt werden, wenn ein Gericht

»... in Ausübung seiner Befugnis zur Beweiswürdigung annehmen kann, dass trotz der Feststellung, dass ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des betreffenden Impfstoffs (oder evtl. des betreffenden Psychopharmakons? – P.L.) und dem Auftreten der Krankheit, an der der Geschädigte leidet, in der medizinischen Forschung weder nachgewiesen noch widerlegt ist, bestimmte vom Kläger geltend gemachte Tatsachen ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien darstellen, die den Schluss auf das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffs (oder evtl. des betreffenden Psychopharmakons? – P.L.) sowie auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zulassen.« (EuGH, 2017, S. 6)

Um es in einfacheren Worten zu sagen: Die Chancen auf Schadensersatz steigen, wenn der Schaden »mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit« (Redaktion beck-aktuell, 2017) auf einen Fehler des betreffenden Produkts zurückgeführt werden kann.

Auch sogenannte Instruktionsfehler können Anlass zu Klagen geben: Abhängigkeitsrisiken, die Herstellerfirmen in ihren Fachinformationen nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechend benennen, sowie extrem kurze (oder gar völlig fehlende) Zeitvorgaben für ein risikoarmes Absetzen (Langfeldt, 2020). Beides kann als Verstoß gegen § 84 des (deutschen) Arzneimittelgesetzes (AMG) ausgelegt werden. Dort heißt es in Absatz 1 (2):

»Ersatzpflicht besteht (...), wenn der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten ist.«

Haftbar zu machen sind nicht nur die Hersteller, sondern alle, die diese Produkte in Verkehr bringen. Hierzu zählen auch und insbesondere die Verordner.

10. März 2022
Peter Lehmann

Zur eBook-Ausgabe von 2021

Neu in der 5. eBook-Auflage ist der Artikel »Pflegerische Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka« von Hilde Schädle-Deininger & Christoph Müller. Er ersetzt den Artikel »Biodynamische Körper- und Auraarbeit mit Bach-Blüten, Steinen und Farben« von Elke Laskowski.

24. September 2021
Peter Lehmann

Zur aktualisierten eBook-Ausgabe von 2020

Herstellerfirmen und die Verabreicher von Antidepressiva und Neuroleptika vermeiden weiterhin in aller Regel, von körperlicher Abhängigkeit zu sprechen, die ihre Psychopharmaka hervorrufen können. Herstellerfirmen tun dies bisher einzig bei den Antidepressiva Tianeptin und Sertralin. Psychiaterverbände weigern sich, die Diagnose der körperlichen Neuroleptika- oder Antidepressiva-Abhängigkeit in ihre Diagnosensammlung aufzunehmen.

Ohne eine solche Diagnose aber fehlt die Warnung an die Betroffenen vor zu schnellem Absetzen und die Information über mögliche Entzugssymptome und deren Vermeidung oder Linderung. Die Betroffenen haben kaum eine Chance auf Ansprüche auf eine (teil-) stationäre Unterstützung beim Absetzen, auf Entschädigung und auf Maßnahmen zur Rehabilitation. Ohne eine solche Diagnose wähnen Ärzte, nicht zur Aufklärung über dieses Risiko verpflichtet zu sein. Außerdem können sie Maßnahmen zur Linderung und Überwindung der Abhängigkeit gegenüber Krankenkassen schlecht oder gar nicht abrechnen.

Allerdings beginnen einzelne Neuroleptika-Herstellerfirmen, sich durch die Warnung vor Entzugssyndromen, die zum Teil lebensbedrohlich sind, gegen mögliche Regressansprüche zu schützen und Prozessrisiken auf die Ärztinnen und Ärzte abzuwälzen. So teilt zum Beispiel die Schweizer Lundbeck AG, Zulassungsinhaberin von Clopixol, 2014 in ihrer Fachinformation Ärzten mit, ein plötzliches Absetzen dieser Substanz könne schwerwiegende Entzugssymptome zur Folge haben; Neugeborene, deren Mütter während der Schwangerschaft diese Substanz erhielten, sollten angesichts einer mit dem Absetzen verbundenen Lebensgefahr gegebenenfalls intensivmedizinisch überwacht und längerfristig hospitalisiert werden.

Die Ergebnisse der zuvor erwähnten britischen Studie von MIND aus den Jahren 2003-2004 wurden inzwischen durch eine vergleichbare Studie in den USA bestätigt. Auch hier wurden psychiatrisch Tätige als mehrheitlich wenig hilfreiche Berufsgruppe beim Absetzen von Psychopharmaka identifiziert (Ostrow u.a., 2017). Es ist überfällig, dass psychiatrisch Tätige Kompetenzen erwerben, damit sie auf Wunsch ihrer Patientinnen und Patienten das Absetzen unterstützen können. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass Ärzte ihre Patientinnen und Patienten nicht vor die Tür setzen, wenn diese Psychopharmaka absetzen wollen und um Hilfe bitten. Doch erfahrungsgemäß tritt genau diese Situation häufig ein. Der Psychiater Asmus Finzen, ehemals Leitender Krankenhausarzt in Wunstorf (1975-1987) und Basel (bis 2003), fand hierzu deutliche Worte:

»Viele drohen damit, ihre Patienten zu verstoßen – und manche tun das auch. Das aber ist mit den Prinzipien und der Ethik ihres Berufes nicht vereinbar. Es kann sogar ein Kunstfehler sein: Wenn ein Patient Medikamente, die er langzeitig eingenommen hat, absetzen oder reduzieren will, hat der behandelnde Arzt ihm gefälligst zu helfen – auch wenn er anderer Meinung ist.« (2015, S. 16)

Wie aus den Fachinformationen von Herstellerfirmen an Ärzte hervorgeht, gibt es eine Vielzahl psychopharmakabedingter Anlässe, bei denen unverzüglich zu reduzieren oder komplett abzusetzen ist. Hierzu zählen Depressionen oder Suizidalität (falls neu), Anzeichen von Leberfunktionsstörungen oder tardiven Dyskinesien (mit der Zeit chronisch werdenden Muskelstörungen), erhöhter Augeninnendruck, Herzrhythmusstörungen u.v.m. (Lehmann, 2017, S. 29-85). Gleichzeitig geben Herstellerfirmen oft in verantwortungsloser Weise extrem kurze Zeiten für das Absetzen vor (Langfeldt, 2018), so dass massive Entzugsprobleme und die Neuverordnung und Aufdosierung von Psychopharmaka programmiert sind.

Als Reaktion auf fehlende Hilfen und fehlendes Wissen zur Entzugsproblematik gründeten Vertreterinnen und Vertreter der niederländischen Verbände der Pharmazeuten, der Hausärzte und der Psychiater sowie ein gemischter Verband von Psychiatriebetroffenen und Angehörigen die Discontinuation of Antidepressants Taskforce (Arbeitsgruppe zum Absetzen von Antidepressiva). Diese dokumentiert Möglichkeiten zum kleinschrittigen Reduzieren insbesondere am Ende des Absetzprozesses sowie Entzugsprobleme und Wege zu deren Linderung. Außerdem identifiziert sie die Anzeichen für ein erfolgreiches Absetzen (KNMP u.a., 2018; Ruhe u.a., 2019). In Großbritannien ist der Council for Evidence-based Psychiatry (CEP – Rat für evidenzbasierte Psychiatrie) führend aktiv. Diese Gruppe von Psychiatern, Wissenschaftlern und anderen Interessierten arbeitet mit öffentlichen Einrichtungen und Organisationen für Entzugshilfen zusammen. Unter anderem empfiehlt sie dem Parlament, die Entwicklung landesweiter Dienste zu veranlassen, die absetzwillige Betroffene unterstützen müssen (CEP, 2019).

In Deutschland wurden inzwischen erste schulmedizinisch orientierte Psychiater initiativ. Schon bevor sich Patientinnen und Patienten für ein Antidepressivum entscheiden, sollen sie über das Risiko von Abhängigkeit und nach dem Absetzen auftretenden Reboundeffekten aufgeklärt werden, so Tom Bschor (2018, S. 121f.), Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung der Schlosspark-Klinik in Berlin-Charlottenburg. Psychiater einiger Kliniken in Rheinland-Pfalz warnen in Aufklärungsbroschüren deutlich vor dem Risiko körperlicher Abhängigkeit bei Antidepressiva (NetzG-RLP, 2018, S. 12). Die psychotherapeutische Schwerpunktstation für Psychosen im Landeskrankenhaus Andernach (30 Plätze) bietet für Betroffene des Versorgungsbereiches seit 2018 sogar die stationäre Aufnahme zum kontrollierten Absetzen von Neuroleptika an. Und auch die Soteria-Station an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité am St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin mit ihren zwölf Plätzen für Betroffene des Bezirks Berlin-Mitte macht dieses Angebot. Neuerdings gibt es vereinzelt Psychiater, die in ihren Klinikambulanzen das Absetzen von Neuroleptika begleiten.

Berliner Psychiatriebetroffene und weitere engagierte Personen wollten die für viele Menschen unerträgliche Situation nicht weiter tatenlos hinnehmen und beriefen 2016 mit Unterstützung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin eine bis 2019 jährlich tagende fächerübergreifende Expertenrunde (»Psychexit«) ein (siehe www.peter-lehmann.de/psychexit.htm). Ziel war die Entwicklung eines Curriculums und einer Website zum kompetenten Begleiten beim Reduzieren bzw. Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika entwickeln. Dabei wurde deutlich, wie sehr es an kompetenter Hilfe für Patientinnen und Patienten fehlt, die ihre Psychopharmaka absetzen wollen und Rezepte für Ausschleichstreifen, Rezepturen für die Anfertigung individuell zugeschnittener Dosierungen oder eine Anleitung zum Absetzen von Kombinationen benötigen oder die sich generell überfordert fühlen.

Die Möglichkeit wie auch Notwendigkeit kleinschrittigen Ausschleichens gerade am Ende des Absetzprozesses nach längerer Einnahmezeit schildert Susanne Cortez in dem neu ins Buch aufgenommenen Artikel »Und zuletzt atypisch vorsichtig« am Beispiel des atypischen Neuroleptikums Quetiapin. Neu ist auch der Artikel »Absetzen von Psychopharmaka – Erfahrungsaustausch im Internet« von Iris Heffmann. Er ersetzt den Beitrag von Susan Kingsley-Smith und zeigt, wo Betroffene im deutschsprachigen Raum Erfahrungen konstruktiv austauschen können, wenn sie von ihren Ärzten mit ihren Entzugsproblemen nicht verstanden oder im Stich gelassen werden. Die neuesten Informationen über Ausschleichstreifen, Rezepturen für die Anfertigung individuell zugeschnittener Dosierungen und weitere Möglichkeiten zum kleinschrittigen Reduzieren sowie Vorschläge zum Absetzen von Kombinationen sind in das Schlusskapitel »Und nun, wie weiter vorgehen? Ein Resümee« eingeflossen.

Nicht oft genug kann darauf hingewiesen werden, dass – wie schon zuvor gesagt – die Absetzversuche im vorliegenden Buch allesamt positiv verliefen. Als Gegengewicht zur Masse einseitiger Informationen seitens der Pharmaindustrie und der Mainstream-Psychiatrie hatte ich ausdrücklich nach erfolgreichen Erfahrungen gefragt. Dass das Absetzen auch misslingen oder nicht wie gewünscht zu einem dauerhaft psychopharmakafreien Leben führen kann, sollte allgemein bekannt sein. Manche Betroffene machen die Erfahrung, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – innerhalb ihrer Lebensverhältnisse ohne Psychopharmaka nicht zurechtkommen, ungeachtet aller Risiken, die mit der Langzeitverabreichung einhergehen. Ihnen und ihren Ärztinnen und Ärzten seien der Artikel »Minimaldosierung und Monitoring bei Neuroleptika« des Psychiaters Volkmar Aderhold (2017) sowie die Angaben der Discontinuation of Antidepressants Taskforce (KNMP u.a., 2018, S. 2) zur Minimaldosierung von neuen Antidepressiva ans Herz gelegt.

9. März 2020
Peter Lehmann

Zur aktualisierten 4. Auflage und zur eBook-Ausgabe von 2013

In der Einführung zur aktuellen Ausgabe sind mögliche Entzugsprobleme jetzt ausführlich dargestellt, und im zusammenfassenden Kapitel am Schluss des Buches gehe ich auf spezielle Aspekte beim Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka ein, unter anderem die Frage, wie man Kombinationen am besten absetzt.

Immer wieder werde ich nach Psychiatern gefragt, die beim Absetzen helfen. Bedarf auf der einen Seite trifft nach wie vor auf verweigerte Hilfeleistung auf der anderen. Möglicherweise spielen auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle: Weil es im Gegensatz zur Diagnose »Benzodiazepinabhängigkeit« noch keine Diagnose »Neuroleptika-Abhängigkeit« oder »Antidepressiva-Abhängigkeit« gibt, können Ärzte ihren Zeitaufwand gegenüber Krankenkassen nicht so einfach abrechnen. Man kann darüber wütend sein – doch was brächte es, sich in die Hände absetzunerfahrener und -unwilliger Ärzte zu begeben? Wer würde sein Auto zur Reparatur in eine Werkstatt bringen, aus der noch nie ein Auto im fahrtüchtigen Zustand wieder herausgefahren ist?

Viele Betroffene sind überzeugt, zum Absetzen bräuchten sie unbedingt die Zustimmung eines Arztes. Doch ob man Psychopharmaka mit oder gegen ärztlichen Rat absetzt, spielt im Prinzip keine Rolle. Wer es gegen ärztlichen Rat tut, hat die gleichen Erfolgschancen wie diejenigen, deren Arzt oder Ärztin ihre Entscheidung unterstützt. Dies ist das ermutigende Ergebnis bei zwei Drittel aller Befragungen im Rahmen des »Coping with Coming Off«-Projekts in England und Wales, bei dem Erfahrungen mit dem Absetzen von Psychopharmaka eruiert wurden. Finanziert vom britischen Gesundheitsministerium hatte 2003 und 2004 ein Team psychiatriebetroffener Forscher 250 Interviews im Auftrag der Sozialpsychiatriestiftung MIND durchgeführt. Als hilfreich galten der Beistand von Beratern oder einer Selbsthilfegruppe, ergänzende Psychotherapie, gegenseitige Unterstützung, Informationen aus dem Internet oder aus Büchern, Aktivitäten wie Entspannung, Meditation oder Bewegung. Es stellte sich heraus, dass Ärzte nicht voraussagen konnten, welche Patienten erfolgreich Psychopharmaka absetzen würden. Sie wurden als die am wenigsten hilfreiche Gruppe beim Absetzen genannt (Read, 2005; Wallcraft, 2007). Als Konsequenz dieser Studie änderte MIND seinen Standardratschlag. War vorher – wenn überhaupt – geraten worden, Psychopharmaka nur mit ärztlichem Einverständnis abzusetzen, wies man auf die Indoktrination von Ärzten durch die Pharmaindustrie hin (Darton, 2005, S. 5) und legte nahe, sich ausgewogen zu informieren (Read, 2005). Der Beitrag von Susan Kingsley-Smith soll auf der Suche nach eigenen Wegen helfen.

Wie eine Studie des National Institute of Mental Health in den USA 2006 zeigte, beenden drei Viertel aller Behandelten früher oder später die Einnahme von Neuroleptika aller Art – weil diese keine Besserung bringen oder weil die unerwünschten Wirkungen unerträglich sind (McEvoy u.a., 2006; Stroup u.a., 2006). Diese Praxis stimmt mit dem theoretischen, wenn auch folgenlosen Wissen von Ärzten überein, die längst erkannt haben, dass es oft höchste Zeit zum Absetzen der verordneten Psychopharmaka ist. Als die Crème de la Crème der deutschen Mainstream-Psychiatrie 1979 das 75-jährige Jubiläum des Baus der Psychiatrischen Universitätsklinik München feierte, gestand Fritz Freyhan ein:

»In den fünfziger Jahren musste sich der psychopharmakaerfahrene Psychiater nach Leibeskräften einsetzen, um seine Kollegen von den Vorteilen der Arzneimittelbehandlung zu überzeugen. In den letzten Jahren ist aber der Punkt erreicht worden, wo der arzneimittelkundige Psychiater dem leidenden Patienten drastische Erleichterung geben kann, indem er das Absetzen aller antitherapeutischen Arzneimittelbehandlungen verordnet.« (1983, S. 71)

Insbesondere angesichts der Verschreibungskaskaden sowohl von medizinischen Medikamenten als auch psychiatrischen Psychopharmaka bei älteren Menschen und den vielfältigen unerwünschten Wirkungen (zum Beispiel Kreislaufstörungen) und Interaktionen kam die deutsche Internistin Jutta Witzke-Gross 2010 zum Schluss:

»Absetzen von Medikamenten kann die beste klinische Entscheidung sein und in einem signifikanten klinischen Nutzen einschließlich einer Reduktion der Fallneigung resultieren. (...) Es ist auch immer daran zu denken, dass eine Möglichkeit, Medikamente abzusetzen, die ist, mit dem Medikament erst gar nicht anzufangen.« (S. 29/32)

29. August 2013
Peter Lehmann

Zur 3. Print-Auflage von 2008

Auch in dieser Ausgabe sind wieder neue Autoren dazugekommen: Oryx Cohen, Bob Johnson, Fiona Milne und Pino Pini. Damit soll die Aktualität gesichert bleiben, der Themenkreis und die Internationalität der Autorenschaft ausgeweitet und es sollen neuere Psychopharmaka integriert werden. Entsprechend musste ich einige ältere Artikel streichen.

Um Missverständnisse auszuschließen, kann ich nicht oft genug betonen: Im vorliegenden Buch nehmen die Absetzversuche positive Verläufe – kein Wunder, ich hatte ausdrücklich nach erfolgreichen Erfahrungen gefragt. Dass das Absetzen auch misslingen oder nicht wie gewünscht zum dauerhaften psychopharmakafreien Leben führen kann, ist eine Binsenweisheit. Da erfolgreiches Absetzen in psychiatrischer und pharmafirmengesponserter Literatur in aller Regel tabuisiert wird, scheint es allerdings mehr als berechtigt, der bisher ausgeblendeten Realität ein Forum zu geben – als Gegengewicht zur Masse ideologischer und einseitiger Informationen.

Selbstbestimmtes Absetzen wird nicht nur tabuisiert, es wird auch als Risikofaktor in die Nähe einer psychiatrischen Störung gerückt. Dies geht beispielsweise aus der weltweit verbreiteten psychiatrischen Diagnosenfibel DSM hervor. Unter der Nummer V15.81 (Z91.1) – »Nichtbefolgen von Behandlungsanweisungen« – hält sie Psychiatern den medizinischen Schlüssel bereit, mit welchem bei Absetzwilligen der Entschluss zum Absetzen aktenmäßig zu erfassen ist für den Fall, dass sie sich anmaßen, ihre persönlichen Interessen und Werturteile über die der verabreichenden Psychiater zu stellen:

»Die Gründe für das Nichtbefolgen können sein: Beschwerden aufgrund der Behandlung (z. B. Medikamentennebenwirkungen); Kosten der Behandlung; Entscheidungen bzgl. der Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Behandlung aufgrund persönlicher Werturteile oder religiöser oder kultureller Anschauungen; problematische Persönlichkeitszüge oder Bewältigungsstile...« (Sass u.a., 2003, S. 808)

31. Januar 2008
Peter Lehmann

Zur 1. Print-Auflage von 1998

»AutorInnen gesucht zum Thema »Psychopharmaka absetzen««. So lautete mein Aufruf, den ich 1995 weltweit in einschlägigen Kreisen verbreitete. Ich schrieb:

»Psychopharmaka absetzen. Erfahrungsberichte mit Tranquilizern, Antidepressiva, Neuroleptika, Carbamazepin und Lithium«. Dies ist der Titel eines Buches, das 1997/98 erscheinen soll. Für die Mehrzahl derjenigen, denen eines oder mehrere der genannten Psychopharmaka verabreicht bzw. verschrieben werden, sind positive Beispiele dafür, dass man diese Substanzen absetzen kann, ohne gleich wieder im Behandlungszimmer des Arztes oder in der Anstalt zu landen, von existenziellem Interesse. Deshalb suche ich Autorinnen und Autoren, die über ihre eigenen Erfahrungen auf dem Weg zum Absetzen berichten und die jetzt frei von psychiatrischen Psychopharmaka leben. Ich suche aber auch Berichte von Menschen, die anderen professionell oder aus persönlichen Erwägungen mit Erfolg beim Absetzen helfen.«

Ich bekam eine Reihe von Zuschriften Betroffener, die einen Beitrag liefern wollten. Auch einige Professionelle antworteten; sie sind hier im Buch vertreten. Eine Berliner Psychiaterin zog ihren angebotenen Beitrag über das in ihrer Praxis mögliche stufenweise Absetzen, verbunden mit psychotherapeutischen Gesprächsgruppen, vermutlich aus (nicht unberechtigter) Angst zurück, absetzwillige Psychopharmakakonsumenten könnten ihre Praxis überfluten. Da von Angehörigen keine Reaktion kam, schickte ich meinen Aufruf an den deutschen Bundesverband der Angehörigen »psychisch Kranker«. Reaktion: Schweigen. Ist der Grund darin zu suchen, dass die organisierten Angehörigen seit Jahren von der Pharmaindustrie mit Gratisvorträgen und Gratisinformationen bedacht werden?

Es wäre allerdings fatal, die Problematik der Dauereinnahme von Psychopharmaka und mögliche Schwierigkeiten beim Absetzen auf gefühlskalte oder unwissende Angehörige, verantwortungslose Ärzte und gewinnorientierte Pharmaunternehmen zu reduzieren. Zwei Autoren, die sich auf meinen Aufruf gemeldet hatten und von ihren Absetzerfahrungen berichten wollten, zogen ihr Angebot zurück: Sie hatten einen »Rückfall«. Eine Frau berichtete, der Zeitpunkt, den sie zum Absetzen gewählt hatte, sei unglücklich gewählt gewesen: die Trennung von ihrem Freund. Eine weitere teilte ohne Angabe näherer Umstände mit, sie sei wegen einer erneuten Psychose wieder in die Klinik gekommen: Hatte sie das erlebt, was Fachleute eine »Absetzpsychose« nennen, oder war sie einfach wieder von ihren alten, unverarbeiteten Problemen überschwemmt worden?

Wohlweislich hatte ich mich gehütet, andere zum Absetzen aufzufordern. Ich sprach ausdrücklich diejenigen an, die vor meinem Aufruf bereits abgesetzt hatten. Dennoch stelle ich mir die Frage, ob ich nicht allein durch die publizistische Beschäftigung mit dem Thema »Absetzen« andere fahrlässig dazu verleite, ihre Psychopharmaka unbedacht wegzulassen.

Seit es psychiatrische Psychopharmaka gibt, setzen sehr viele Behandelte von sich aus diese Mittel ab. Man kann spekulieren, in welcher Häufigkeit es einzig aus diesem Grund zu einem »Rückfall« und damit eventuell zu einer erneuten Verabreichung kommt. Sicher scheint mir die Tatsache, dass eine Vielzahl der Absetzversuche erfolgreicher verlaufen würde, wenn bei den Betroffenen und ihren Nächsten ausreichendes Wissen über möglicherweise auftretende Probleme vorhanden wäre sowie eine Vorstellung darüber, was man aktiv beitragen kann, damit der prophezeite Rückfall ausbleibt. Auch professionell Tätige – von einer Handvoll Ausnahmen abgesehen – machen sich wenig Gedanken, wie sie ihre Klienten unterstützen können, wenn sich diese nun einmal fürs Absetzen entscheiden. Ihnen den Rücken zu kehren und sie mit ihren Problemen allein zu lassen, beweist wenig Verantwortungsbewusstsein.

Die vielen unterschiedlichen Wege, Psychopharmaka abzusetzen, lassen sich in einem Buch keineswegs umfassend darstellen. Wichtig war mir als Herausgeber, dass »meine« Autoren – von den beteiligten Profis abgesehen – ihre Wünsche, Ängste und persönlichen Vorgehensweisen so offen wie möglich darstellen. Nur eines sollten sie nicht: anderen Ratschläge geben, was sie tun sollten, Patentrezepte verteilen. Jede Leserin, jeder Leser muss gemäß den vorhandenen Problemen und Möglichkeiten, den persönlichen Schwächen und Stärken, den individuellen Beschränkungen und Wünschen die eigenen Mittel und Wege finden. Die Berichte derer, die das Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka bewältigt haben, sollen zeigen, dass es möglich ist, unbeschadet am Ziel seiner Wünsche anzukommen und ein Leben frei oder zumindest relativ frei von psychopharmakologischer Beeinträchtigung zu führen.

11. September 1998
Peter Lehmann

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