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in: Mitgliederrundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener (BRD), 1995, Nr. 4, S. 4-5 / PDF

Peter Lehmann

Kooperation oder Antipsychiatrie?

Latent ist im Bundesverband eine Auseinandersetzung vorhanden zwischen Leuten, die antipsychiatrische Positionen vertreten, und Leuten, die unter ausdrücklicher Abgrenzung davon auf Kooperation setzen. Ich halte es für problematisch, den Begriff »Antipsychiatrie« als Schlagwort zu verwenden, als bestünde eine allgemeine Übereinkunft über ihren Inhalt. Ich halte es auch für problematisch, »Kooperationswilligkeit« zum Vorwurf zu machen, ohne im einzelnen zu klären, was das Ziel der Kooperation sein soll und ob überhaupt alternative Möglichkeiten bestehen, diese Ziele zu erreichen.

Da ich immer wieder das Gefühl habe, dass (auch) mir meine psychiatriekritische Haltung zum Vorwurf gemacht wird, möchte ich, um eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu schaffen, mein Verständnis von Antipsychiatrie erläutern. Wenn wir uns schon auseinandersetzen, dann sollte der Gegenstand der Auseinandersetzung klar sein. Damit ist der Streit um den ›richtigen‹ Weg natürlich nicht ausgeräumt. Ist die psychiatriekritische, antipsychiatrische Haltung ideologisch geprägt und deshalb nicht an den Bedürfnissen der Psychiatriebetroffenen orientiert? Oder ist die reformpsychiatrische Haltung ideologisch und deshalb nicht an den Bedürfnissen der Psychiatriebetroffenen orientiert?

Nach meiner Meinung sollten wir uns zuerst einmal gegenseitig fragen, was wir wollen, ob wir überhaupt gemeinsame Interessen haben. Haben wir gemeinsame Interessen als Psychiatriebetroffene? Was gibt es an KooperationspartnerInnen, helfen diese eher zur Erreichung unserer Interessen, oder behindern sie eher? Ist Kooperation der Weg zur allgemeinen Verbesserung der Situation Psychiatriebetroffener, oder die Suche nach einem Weg ohne Psychiater?

Im Einzelfall, z.B. beim antipsychiatrischen Projekt Weglaufhaus in Berlin, bei dem ich engagiert bin, zeigt sich, dass die Kontroverse Kooperation oder Antipsychiatrie so nicht besteht. Es gibt wohl kaum ein anderes Projekt, das, um endlich die staatliche Finanzierung zu bekommen und anschließend weggelaufenen Psychiatriebetroffenen ohne Wohnung nichtpsychiatrische Unterstützung und Obdach zu bieten, mehr mit Verbänden der Wohlfahrtspflege, mit Sozialverwaltungen, mit psychiatrischen Verbänden und Einzelpersonen zu tun hat als dieses Projekt. Deshalb würde mich interessieren, welche positiven Erfahrungen mit Kooperation gemacht wurden. Wem wurde durch Kooperation mit der Psychiatrie zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts, zu psychopharmakafreiem Leben, zur Finanzierung einer nutzerkontrollierten Selbsthilfegruppe, zu Schadensersatz- oder Schmerzensgeldzahlungen wegen Behandlungsschäden oder formal ungerechtfertigter Unterbringung oder zu psychiatriekritischen Publikationsmöglichkeiten verholfen? Was waren die äußeren Bedingungen, und mussten Kompromisse gemacht werden? Oder stelle ich die falschen Fragen?

Psychiatrie-Kritik

Die Kritik an psychiatrischer Behandlung wendet sich vor allem gegen die Verletzung wesentlicher Grundrechte wie Selbstbestimmung, Persönlichkeitsentfaltung, körperliche Unversehrtheit und die Würde der Person. Sie betrifft auch die Diagnostik sowie formalrechtliche Verstöße bei der Unterbringung. Antipsychiatrischem Handeln gehen oft einschneidende persönliche Erfahrungen mit der institutionellen Psychiatrie oder anderem Unrecht voraus. Aber man muss nicht selbst in der Anstalt eingesessen haben, um antipsychiatrisch aktiv zu werden und Strategien zu entwickeln, um die psychiatrische Bedrohung abzuwehren und Möglichkeiten echter Unterstützung für Menschen in psychischen Notlagen zu schaffen. Gemeinsam ist den antipsychiatrischen AktivistInnen der Widerspruchsgeist und die Erkenntnis, dass die Psychiatrie überflüssig und schädlich ist. Deshalb engagieren sie sich für neue mehr oder weniger institutionelle Formen des Lebens mit Verrücktheit, Verrückten- und Weglaufhäuser und Unterstützung beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka.

Alte Antipsychiatrie

Die Antipsychiatrie der Nachkriegsjahre wurde im wesentlichen von Psychiatern wie z.B. Ronald D. Laing und David Cooper vertreten. Sie machten deutlich, dass es für psychiatrische Diagnosen keine objektiven klinischen Kriterien gibt, dass psychiatrische PatientInnen bloße Funktionen typischer Psychiater und ihrer Anstalten sind und sogenannte Schizophrenien lediglich Versuche, unter unerträglichen Familienbedingungen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen psychisch zu überleben. Wenn auch dem patriarchalischen Denken verhaftet, schufen sie doch die Grundlagen der neueren Entwicklung. Thomas Szasz leitete die historische Entwicklung der Psychiatrie aus der Hexenverfolgung ab und legte die moderne psychiatrische Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bloß sowie die psychiatrische Lehre eindrucksvoll und unwiderlegt als größten wissenschaftlichen Betrug dieses Jahrhunderts.

In der BRD traten mit der 68er Studentenbewegung noch andere akademisch orientierte Kritiker auf, die sich aufgrund ihrer rein theoretischen und wiederum männlichen Orientierung unfähig zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Psychiatriebetroffenen erwiesen – mit Ausnahme der Sozialistischen Selbsthilfe e.V. Köln, einem Wohn- und Arbeitskollektiv mit schlagkräftigen Aktionen gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen.

Den Schwung der Psychiatriekritik nutzten sozialpsychiatrische Reformer (»Auflösung der Großkliniken«), die von der sogenannten demokratischen Psychiatrie des Italieners Franco Basaglia inspiriert wurden, um das System der Psychiatrie zu verdoppeln: Die Anstalten wurden verkleinert und baulich renoviert, psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern sowie ein umfassendes System der Gemeindepsychiatrie mit unterschiedlichsten Einrichtungen neu geschaffen. Den Betroffenen gelingt kaum noch der Ausstieg aus diesem Komplettsystem, das auf der Verabreichung von psychiatrischen ›Medikamenten‹ mit mehrwöchiger Halbwertzeit basiert, den Depotneuroleptika.

Besonders diese neurotoxischen Psychodrogen können katastrophale Schäden verursachen. In einer 1991 veröffentlichten Studie über eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch behandelter und zum Teil. in ›betreutem‹ Einzelwohnen oder ›therapeutischen‹ Wohngemeinschaften lebender BerlinerInnen sprach eine Autorengruppe von einem durchschnittlichen Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien. Dies sind veitstanzartige und von anhaltenden und schmerzhaften Krämpfen begleitete Muskel- und Bewegungsstörungen, die im Laufe der Behandlung, beim Absetzen oder danach im Gesicht, am Rumpf oder an den Extremitäten auftreten, nicht behandelbar sind, sozial stigmatisieren und mit einer Verkürzung der Lebenserwartung einhergehen. Im Gefolge der Renaissance braunen Gedankenguts kommt auch der im italienischen Faschismus von Schweineschlachthäusern abgeguckte Elektroschock wieder verstärkt in Mode. Mit ihm werden in den Gehirnen der Behandelten (zu 80% Frauen) epileptische Anfälle ausgelöst, was irreversible massive Nervenzellausfälle bewirkt. Reaktion auch der höchstfortschrittlichen Reformpsychiater: Schweigen.

Mit einer Vielzahl von gut bezahlten Arbeitsplätzen und Teilhabe an der Machtausübung korrumpiert dieses System die MitarbeiterInnen. Obwohl die Langzeitschäden von Elektroschocks oder Neuroleptika himmelschreiend sind, bleiben die psychiatrisch Tätigen in aller Regel stumm, die politisch Verantwortlichen in den Parteien und den Gesundheitsbürokratien tatenlos und die Betroffenen verloren, sofern sie sich nicht zusammenschließen.

Neue Antipsychiatrie

Ein Vierteljahrhundert, nachdem dissidente Psychiater ihre Wissenschaft als Antipsychiatrie neu erfinden wollten, artikuliert sich seit den frühen achtziger Jahren zunehmend eine radikale Kritik, die als neue Antipsychiatrie zu bezeichnen ist. Sie wird nicht von Professionellen getragen, die für und über ›psychisch Kranke‹ reden wollen, sondern von Psychiatriebetroffenen, die sich auf allgemeine Menschenrechtserklärungen berufen und die wissen, dass es Geisteskrankheiten (im Gegensatz zu Hirnkrankheiten) als medizinische Komplexe mit kategorisierbaren Ursachen, Verläufen und Prognosen nicht gibt. Sie wollen die Psychiatrie nicht reformieren, sondern abschaffen. An ihrer Stelle soll etwas Neues entstehen.

Die neue Antipsychiatrie in Deutschland wurde im wesentlichen von der Berliner Selbsthilfeorganisation Irren-Offensive e.V. entwickelt. Schon kurz nach ihrer Gründung 1980 hatten ihre Mitglieder, AkademikerInnen wie NichtakademikerInnen, Frauen wie Männer, den entwertenden Krankheitsbegriff über Bord geworfen. Zwar sind fast alle ehemals antipsychiatrisch aktiven Mitglieder dieser Gruppe inzwischen zum Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. übergewechselt und in der Irren-Offensive jetzt völlig andere Personen als früher aktiv: Dennoch, all die Schritte der ›alten‹ Irren-Offensive, nachzulesen in Tina Stöckles Buch »Die Irren-Offensive – Möglichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer Selbsthilfe« (Ffm 1983), sind inzwischen auch von einigen neugegründeten Gruppen in anderen Städten nachvollzogen worden oder werden zumindest angestrebt:

  • (Nichtangeleitete) Selbsthilfe zur Lösung psychischer Probleme und Verarbeitung verrückter (›psychotischer‹) Erfahrungen – unter Verneinung der Zuständigkeit von MedizinerInnen und unter Abwehr sexistischer Verhaltens- und Denkweisen

  • Organisierung eigener Räume und Beratung von Betroffenen für Betroffene, insbesondere beim Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka

  • Rechtsberatung und Entwicklung eines Rechtsschutzes gegen psychiatrische Übergriffe unter dem Motto »Recht auf psychopharmakafreie Hilfe«

  • Aufbau einer eigenen nationalen Organisation und Zusammenarbeit mit anderen politischen und Menschenrechtsorganisationen

  • Aufbau eines eigenen, nichtzensierbaren Kommunikationssystems

  • Umwidmung psychiatrischer Gelder zugunsten nutzerkontrollierter Alternativprojekte statt eines weiteren Ausbaus der Gemeindepsychiatrie.

Möglichkeiten und Grenzen der Antipsychiatrie

Vieles an Angeboten haben die wenigen antipsychiatrisch ausgerichteten Gruppen nicht zu bieten. Sie haben notorisch zu wenig Geld und zu wenig MitarbeiterInnen. Psychiatriekritische Gruppen werden in aller Regel von staatlicher Förderung ausgeschlossen. Anliegen aller Gruppen ist es deshalb, mit Spenden oder gar aktivem Engagement unterstützt zu werden. Die Diskriminierung durch Psychiater sollte deshalb nicht durch die Diskriminierung von seiten Psychiatriebetroffener verstärkt werden. Nur wenn sich Psychiatriebetroffene in ihrem Streben nach Menschenrechten, rechtlicher Gleichstellung mit gesunden und kranken Normalen und nach finanzieller Absicherung und Unterstützung solidarisch verhalten, kann sich an der generell schlechten und verbesserungswürdigen Situation etwas ändern.


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