Pfeil Homepage des Antipsychiatrieverlags

Vortrag bei der Tagung des Fachverbandes Psychiatrie in der Caritas, Freiburg im Breisgau, 16. November 1998 / PDF

Peter Lehmann

Ängste und Hoffnungen Psychiatriebetroffener im Jahre 1998

»Der Zugang des Pflegepersonals zum Patienten ist zunächst der Zugang über den Körper.« (?)

»Wir wollen eine andere Psychiatrie«, heißt es im Faltblatt des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE), »wir fordern die Entwicklung sinnvoller Alternativen zur Pflege- und Betreuungsmentalität der herkömmlichen medizinischen Psychiatrie«. Die Rede ist von »unserer Mitwirkung als gleichberechtigte Partner«, und als eine der Aufgaben des Verbandes ist unter anderem das »Einfordern der Zustimmungspflicht zu ärztlichen Behandlungsmaßnahmen wie bei körperlich erkrankten Menschen« genannt. Im Kapitel »Humanere Lebensbedingungen« werden »weniger Psychopharmaka und mehr Psychotherapien« verlangt, Depressionen und Psychosen seien nicht medikamentös zu unterdrücken, sondern in ihrer Bedeutung wahrzunehmen. Das Zitat:

»Der Zugang des Pflegepersonals zum Patienten ist zunächst der Zugang über den Körper«,

mit dem ich mein Grußwort überschreibe, ist natürlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen. An sich steht dieser Satz bei der Aussage zur häuslichen Pflege für sogenannte psychisch kranke Menschen in Ihrem programmatischen Artikel der Zeitschrift caritas – Beihefte der Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, Heft 4 [= Unser Standpunkt Nr. 17: »Orientierungshilfen und Empfehlungen des Deutschen Caritasverbandes«], Dezember 1995, S. 33). Doch gerade so völlig aus dem unmittelbaren Zusammenhang gelöst, wird der Blick frei: »Der Zugang des Pflegepersonals zum Patienten ist zunächst der Zugang über den Körper.« Eine zweischneidige Aussage, die das psychiatrische Dilemma offenlegt: Geht es denn um Hilfe bei körperlichen Problemen? Handelt es sich denn nicht um körperlich gesunde Menschen mit psychischen Problemen? Und was ist, wenn diese sich weigern, dass ihnen jemand an die Wäsche geht, um es salopp zu sagen?

Die Zweischneidigkeit zieht sich durch die gesamte Broschüre: »Die Betroffenen selbst sind die Subjekte von Planung, Koordination und Vernetzung. Zu ihrem Wohl und Nutzen sind die Hilfen koordiniert zu bündeln.« (S. 21) Das macht vielen Hoffnung. »Psychisch kranke Menschen benötigen in der Regel medizinische Behandlung...« (S. 23) Das macht Angst. Siehe oben, wollen Gespräche, weniger oder keine psychiatrischen Psychopharmaka oder aber naturheilkundliche risikoärmere Substanzen. Ein anderes Zitat:

»Die eigene Haltung und Arbeit wird fortlaufend kontrolliert (von wem eigentlich?) und an den sich verändernden Bedürfnissen der Betroffenen und des Gemeinwesens orientiert.«

Auf diese sich verändernden Bedürfnisse der Betroffenen möchte ich eingehen.

Im Bundesverband sind knapp 700 Psychiatriebetroffene direkt organisiert, eine unüberschaubare Zahl ist in regionalen und lokalen Selbsthilfegruppen vor Ort. Wie eine 1995 in den Sozialpsychiatrischen Informationen publizierte Umfrage zur Verbesserung bzw. Einführung von Qualität der psychiatrischen Behandlung gezeigt hat, sind die Unterschiede, wie sich die Mitglieder eine andere Psychiatrie vorstellen, beachtlich.

Die einen wollen bessere Psychiater, mehr Geld für die Psychiatrie, damit mehr Personal eingestellt werden kann in der Hoffnung, dass dann die wohltuenden und therapeutischen Gespräche geführt werden können, die derzeit allgemein vermisst werden. Die anderen wollen eine Psychiatrie ohne Psychiater, sprich: die Abschaffung der Psychiatrie und statt dessen ein nichtpsychiatrisches Versorgungssystem.

Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass viele im wesentlichen tendenziell Wünsche in der Richtung haben, dass sie ihr Leben genießen, in Ruhe gelassen werden, Kontakte mit Gleichgesinnten pflegen und ein erträgliches Leben führen möchten. Eine Änderung der Psychiatrie steht für sie nicht auf der Tagesordnung, entweder weil sie die Psychiatrie o.k. finden oder vereinzelt sind oder keine Chance hierzu sehen.

Für die anderen steht im wesentlichen tendenziell eine Haltung im Mittelpunkt, die das Wort »Empowerment« am besten wiedergibt. Zu übersetzen ist »Empowerment« mit »Selbstermächtigung«. Betroffene wollen die Kompetenz über ihr eigenes Leben erhalten oder wiedergewinnen. Es ist das Kriterium, das viele Psychiatriebetroffene weltweit anlegen, wenn sie alternative oder emanzipatorische psychosoziale Einrichtungen charakterisieren, seien es psychiatrische Einrichtungen oder Selbsthilfegruppen. Empowerment, so die Definition, heißt:

  • Entscheidungsmacht haben

  • Zugang zu Informationen und Finanzmitteln haben

  • ein Spektrum an Wahlmöglichkeiten haben (nicht bloß »ja/nein« und »entweder/oder«)

  • das Gefühl haben, dass der oder die Einzelne etwas ändern kann

  • mit der eigenen Stimme sprechen

  • die eigene Identität neu und selbst definieren

  • die eigenen Möglichkeiten und das Verhältnis zu institutionalisierter Macht neu definieren

  • begreifen, dass eine Einzelperson Rechte hat

  • streiten und Wut lernen und lernen, ihr Ausdruck zu verleihen

  • Veränderung bewirken, im persönlichen Bereich und in der Gemeinschaft

  • ein positives Selbstbild entwickeln und Stigmata überwinden.

Bei der 1995 erfolgten Befragung erklärten die BPE-Mitglieder, wie ein veränderter psychosozialer Bereich aussehen soll. Über 100 BPE-Mitglieder nahmen an der Umfrage teil. In den Antworten wurde der bestehenden Psychiatrie eine nahezu vernichtende Absage erteilt. Denn nur 10% der Antwortenden gaben an, dort Hilfe zur Lösung der Probleme gefunden zu haben, die zur Psychiatrisierung geführt hatten. Häufig war es zur Verletzung der Menschenwürde gekommen. Es gab ausnahmslos keine – wie rechtlich vorgeschrieben – umfassende Aufklärung über Behandlungsrisiken. Viele erwähnten Zwangsmaßnahmen, Nötigung zur Zustimmung, Akzeptanz einzig eines Ja, nicht aber eines Nein. Folgende grundlegenden Kriterien müssten erfüllt sein, um von einer qualitativ akzeptablen Psychiatrie sprechen zu können:

Beachtung der Menschenwürde, Wärme und menschliche Zuwendung, individuelle Begleitung, angstfreies Vertrauensverhältnis. Vieles an der Psychiatrie sei überflüssig: Für eine Reihe von Psychiatriebetroffenen ist die Psychiatrie samt Psychiatern insgesamt überflüssig. Allgemein wurden folgende Faktoren überflüssig gefunden: Gewalt, der Einsatz von Psychopharmaka, Zwangsmaßnahmen, Elektroschocks, Fixierung. Überflüssig seien Ärzte, die besser über ihre Patienten Bescheid zu wissen glauben als diese selbst. Und Alternativen seien wichtig, um Wahlmöglichkeiten zu geben. Was die Frage betrifft, wie diese Alternativen aussehen sollen, wurden unter anderem folgende Vorschläge und Ideen genannt: Alternative Psychopharmaka, z.B. homöopathische Mittel, Selbsthilfe, Weglaufhäuser, Alternativen nach Mosher und Laing, weiche Zimmer à la Soteria.

Wo immer Psychiatriebetroffene sich unbeeinflusst und frei äußern, wird dieselbe Kritik laut, werden vergleichbare Vorstellungen genannt. Einen ähnlich klingenden Forderungskatalog wie der BPE legte 1997 das Europäische Netzwerk von Psychiatriebetroffenen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor, als es um eine Stellungnahme gebeten wurde. In dem 1991 gegründeten Netzwerk sind inzwischen Betroffenenorganisationen aus ca. 30 Ländern vertreten, von Finnland bis Italien, von den Faröer Inseln bis Bulgarien, von Litauen bis Griechenland. Diese repräsentative Organisation forderte die WHO auf, bei einer Neudefinition psychiatrischer Qualitätskontrolle unter anderem folgende Kriterien einzubeziehen:

  • Vor der Verabschiedung von Gesetzen sollten nationale Organisationen Psychiatriebetroffener zu Hearings eingeladen werden. Auf allen Ebenen sollten Psychiatriebetroffene als Ombudsmänner und Ombudsfrauen vertreten sein.

  • Es sollte unter Einbeziehung Psychiatriebetroffener eine Körperschaft geben mit der speziellen Aufgabe, die Einhaltung von Menschenrechten zu überwachen bei Personen, die unter psychischen Störungen leiden oder denen diese nachgesagt werden. Diese Körperschaft sollte zudem die Zulassung neuer Behandlungsmethoden überwachen sowie die Entscheidungen von Ethikkommissionen bei Forschungsvorhaben.

  • Psychiatriebetroffene sollten in die Ausbildung und Prüfungskommissionen von Psychiatern mit einbezogen sein, außerdem von Ärzten, PsychologInnen, Krankenschwestern, SozialarbeiterInnen und BeschäftigungstherapeutInnen, und zwar auf Basis einer normalen Bezahlung.

  • Hirnchirurgische Eingriffe und andere aggressive Behandlungsmaßnahmen mit möglicherweise irreversiblen Folgen wie z.B. psychiatrische Psychopharmaka, Elektro- und Insulinschocks für sogenannte psychische Störungen sollten niemals bei Zwangseingewiesenen und niemals ohne informierte Zustimmung durchgeführt werden. Um Vorausverfügungen abzusichern, sollten sie ausdrücklich anerkannt werden. Auch Behandlungsvereinbarungen sollten möglich sein. Psychiater, die ohne informierte Zustimmung behandeln, sollten ihre ärztliche Zulassung verlieren.

  • Klinische Versuche und experimentelle Behandlungen sollten niemals an Zwangseingewiesenen durchgeführt werden, und niemals ohne informierte Zustimmung. (Die Bioethik-Konvention darf niemals Praxisanleitung werden!) Es sollte eine Beweislastumkehr erfolgen: Bei möglichen Schäden sollten die Institutionen und Personen, die die Maßnahmen durchführten, gezwungen sein nachzuweisen, dass die Schäden nicht von ihnen verursacht wurden.

  • Folgendes sollte in psychiatrischen Einrichtungen vorhanden sein: Patiententelefone in einer Kabine auf jeder Station; Münzkopierer deutlich sichtbar im Eingangsbereich jeder Anstalt; deutlich sichtbarer Anschlag auf jeder Station, dass auf Wunsch Briefpapier, Briefumschläge und Briefmarken zur Verfügung gestellt werden; Möglichkeiten zum Aufhängen von Informationsschriften von lokalen, regionalen und nationalen Selbsthilfegruppen; Angebot eines täglichen Spaziergangs unter freiem Himmel von mindestens einer Stunde Dauer; Teeküche auf jeder Station, damit man sich rund um die Uhr etwas zu essen und zu trinken machen kann.

  • Die Rechte von NichtraucherInnen auf gesunde Luft sind zu berücksichtigen, ebenso die Rechte von RaucherInnen, soviel zu rauchen, wie sie wollen.

  • Für jedes psychiatrische Bett sollte es ein Bett in einer betreuten nichtpsychiatrischen Einrichtung wie z.B. einem Weglaufhaus geben, und jedes zweite psychiatrische Bett soll in einer Soteria-artigen Einrichtung stehen (P. Lehmann, in: »Forum – the Declaration of Madrid and current psychiatric practice: users' and advocates' views«, in: Current Opinion in Psychiatry, Band 12 (1999), Nr. 1, S. 6 – 7).

Was Psychopharmaka betrifft: Die Bewertung der Verabreichung bzw. Einnahme psychiatrischer Psychopharmaka ist ein ausgesprochen kontroverses Thema. Die Einnahme von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Antiepileptika (z.B. Tegretal) und Tranquilizer kann zu Apathie führen, zu emotionaler Panzerung, Depressionen, Suizidalität, paradoxen Erregungszuständen, Verwirrtheits- und Delirzuständen, intellektuellen Störungen, Kreativitätseinbuße, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, epileptischen Anfällen, Schwächung des Immunsystems, Hormon- und Sexualstörungen, Chromosomen- und Schwangerschaftsschäden, Blutbildschäden, Störungen der Körpertemperaturregulation, Herzstörungen, Leber- und Nierenschäden, Haut- und Augenschäden, parkinsonoiden Störungen, Hyperkinesien, Muskelkrämpfen, Bewegungsstereotypen u.v.m. Andererseits machten viele Betroffene die Erfahrung, dass sie innerhalb ihrer Lebensverhältnisse derzeit ohne diese Psychopharmaka nicht zurechtkommen, oder dass sie mit einer kurzzeitigen Einnahme psychische Krisen abkürzen und so vermeiden, in die Anstalt gebracht zu werden, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach über einen längeren Zeitraum mit Psychopharmaka vollgepumpt würden.

Aus dem Lehrbuch »Irren ist menschlich« von Dörner und Plog geht hervor:

»Wir verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend in einen hirnorganisch kranken Menschen, bei der EKT nur globaler, dafür kürzer als bei der Pharmako-Therapie.« (7. Aufl. 1992, S. 545)

Wie diese hirnorganische Krankheit aussehen kann, ist in vielen Medizinerzeitschrift beschrieben, z.B. in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift 1974, S. 420:

»Kürzlich wurde in unserer Poliklinik eine 60jährige Patientin beobachtet, die das Vollbild einer tardiven Dyskinesie zeigte. Die Patientin wurde vier Jahre mit Trifluoperazin 2 mg/d (Jatroneural 2 mg/Tag) wegen Nervosität behandelt, und vor zwei Monaten entwickelten sich Symptome der tardiven Dyskinesie mit Zittern um den Mund und Speichelfluss. Dann wurde das Präparat abgesetzt, und der Zustand verschlechterte sich. Im Vordergrund standen kauend-schmatzende Mund- und Kieferbewegungen, auch mit Seitwärtsbewegung des Kiefers, Vorwärtsbewegen und Rollen der Zunge, wobei das ganze Gesicht dauernd grimassierend in Bewegung war.«

In einer 1991 veröffentlichten Berliner Studie (Nervenarzt 1991, S. 158ff.) über eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch Behandelter und z.T. in ›betreutem Einzelwohnen‹ oder ›therapeutischen Wohngemeinschaften‹ Lebender sprach die Autorengruppe von einem durchschnittlichen Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien. Von den untersuchten ›Betreuten‹ wurden 265 von niedergelassenen Nervenärzten behandelt und verließen deren Praxen mit einer 96,2%-igen Wahrscheinlichkeit unter Neuroleptikaeinfluss. Die Institutsambulanz der Anstalt Berlin-Spandau verabschiedete ihre 108 Stichproben in 94% aller Fälle mit Neuroleptika. Ergebnis: 21% der ›Langzeitbetreuten‹ entwickelten eine tardive Dyskinesie leichter Form, 18% in mittlerer und 20% in schwerer Ausprägung.

1992 warnte der Psychologe David Hill von der britischen Organisation MIND, vergleichbar der DGSP, im Clinical Psychology Forum:

»Man hat geschätzt (Ayd 1970), dass zwischen 1954 und 1970 weltweit 250 Millionen Menschen Neuroleptika verabreicht bekamen. Mit Sicherheit scheint man nach den vergangenen 22 Jahren von einer Verdoppelung dieser Zahl ausgehen zu können. Die zurückhaltendste Schätzung (25,7%) – sie ignoriert die milderen Symptome und die kaschierende Wirkung – legt nahe, dass ungefähr 128,5 Millionen Menschen bisher an tardiver Dyskinesie litten. Bei annähernd 86 Millionen davon sind die Symptome, die von peinlichen Mundbewegungen bis zu entkräftenden Schüttelbewegungen der Extremitäten reichen, irreversibel.« (zitiert nach »Schöne neue Psychiatrie«, Band 2, S. 259)

Ein anderes Beispiel für ein möglicherweise auftretenden Psychopharmakawirkung ist die erhöhte Ausschüttung von Prolaktin und das davon abhängige verstärkte Brustkrebsrisiko. Prolaktin ist ein Hormon, das vor allem während der Schwangerschaft das Brustwachstum und die Milchbildung fördert. Bei Männern wie bei Frauen beeinflusst es zudem die Sexualhormonregelung im Hypothalamus, einem speziellen Hirnzentrum, und in der Hirnanhangdrüse. Eine erhöhte Prolaktinfreisetzung blockiert bei Frauen die Eireifung, es kommt zu Menstruationsstörungen. Prolaktinstörungen fand man auch bei Versuchen mit Chlorpromazin und Thioridazin, die in der Psychiatrischen Abteilung des Bronx Municipial Hospital Center in New York an 50 gesunden Männern durchgeführt wurden.

In den USA müssen seit 1978 Informationszettel zu Neuroleptika einen Warnhinweis enthalten, dass diese bei Nagetieren Geschwulstbildungen in den Brustdrüsen hervorrufen können, wenn sie langzeitig in der Dosierung verabreicht werden, die in der Dauerbehandlung üblich ist. Im deutschen Sprachraum wird diese Information den Betroffenen und ihren Angehörigen vorenthalten.

Uriel Halbreich und Kollegen der Gynäkologischen Abteilung der State University of New York in Buffalo ließen Mammogramme (d.h. röntgenologische Darstellungen der weiblichen Brüste) von 275 Frauen, die älter als 40 Jahre waren und die zwischen 1988 und 1993 im Buffalo Psychiatric Center Insassinnen waren, mit Mammogrammen von 928 Patientinnen des Erie County Medical Center, einem Allgemeinkrankenhaus, vergleichen. 1996 teilten sie im American Journal of Psychiatry ihre Ergebnisse mit. Diese führten sie u.a. auf die durch Neuroleptika, Antidepressiva und Elektroschocks bedingte erhöhte Prolaktinausschüttung zurück:

»Das Vorkommen von Brustkrebs, das durch Krankenberichte dokumentiert ist, war bei den psychiatrischen Patientinnen um mehr als das 3,5fache höher als bei den Patientinnen des Allgemeinkrankenhauses und 9,5mal höher, als man es von der Durchschnittsbevölkerung berichtet. Schlüsse: Falls bestätigt, könnte das befürchtete höhere Brustkrebsvorkommen unter den psychiatrischen Patientinnen den Medikamenten geschuldet sein...« (in: American Journal of Psychiatry 1996, S. 559ff.; zitiert nach P. Lehmann, »Schöne neue Psychiatrie«, Berlin 1996, Band 2, S. 52)

Neuroleptika finden auch in der Tiermedizin ihren Einsatz. Sie unterscheiden sich nicht von denen, die in der Psychiatrie als antipsychotische Medikamente verabreicht werden. Als Anwendungsgebiete von Chlorpromazin wurden im »Lexikon der Tierarzneimittel« eine Reihe von Tierarten genannt:

»Ruhigstellung aggressiver Tiere aller Art, insbesondere bei Verladungen, Transport, Beschlag sowie Untersuchungen und zur Vorbereitung auf Operationen, diagnostische Eingriffe, bei Ferkelfressen der Sau, Fremdkörperoperationen, Anmelken, Umstallung, Geburtshilfe, Kaiserschnitt, Kastration. (...) Beruhigung aggressiver Pferde, Schweine und Rinder und anderer Tiere. (...) Zur Vermeidung von Beißereien beim Umgruppieren von Schweinen, gegen Schwanzbeißen und Kannibalismus.« (zitiert nach P. Lehmann, »Schöne neue Psychiatrie«, Berlin 1996, Band 1, S. 148f.)

Das offenbar aus dem Handel genommene Kombinationspräparat Hypnorm, das u.a. den neuroleptischen Wirkstoff Fluanison (im Handel als Sedalande) enthielt, diente als Betäubungs- und Schmerzmittel bei Eingriffen an Zierkaninchen, Meerschweinchen, Igeln und Hunden. Allerdings hatte die Herstellerfirma Janssen GmbH gewarnt:

»Nicht bei Tieren anwenden, die der Gewinnung von Lebensmitteln dienen.«

Erwähnenswert wären auch Chromosomenveränderungen wie Chromosomenrisse und -brüche, wie sie von der Contergan-Katastrophe bekannt sind; auch Neuroleptika können solche Chromosomenveränderungen herbeiführen, die sich in Missgeburten niederschlagen.

Ist es nicht selbstverständlich, wenn sich viele Psychiatriebetroffene weder unter der eben genannten Reihe behandelter Kreaturen noch unter Brustkrebspatienten noch unter den behandlungsbedingt hirnorganisch Erkrankten wiederfinden wollen?

Oft kommt es zu Irritationen, begegnen sich Leute, die Psychopharmaka kritisch gegenüberstehen, und solchen, die sie befürworten. Auch hier werden viele Anwesende meinen Ausführungen kritisch gegenüber stehen, insbesondere wenn sie nicht gründlich die aktuelle internationale psychiatrische Fachliteratur verfolgen. Nichtsdestotrotz ist es Sache jedes einzelnen Menschen, selbst zu entscheiden, ob sie oder er diese Substanzen einnehmen will, aus welchem Grund auch immer.

Dass Zwangsbehandlung nicht notwendig, jedoch antitherapeutisch ist, und was möglich ist, wenn bei Psychiatern der gute Wille da ist, ohne Zwang zu arbeiten und mit den Angehörigen und den Betroffenen zu kommunizieren, zeigt das Prinzip des offenen Dialogs, das in einem bestimmten Gebiet von Nordfinnland praktiziert wird. Dort leben 90.000 Einwohner. Der offene Dialog bildet dort das fundamentale Behandlungsprinzip. Innerhalb von 24 Stunden, wenn ein psychiatrisch Tätiger einen Patienten zugewiesen bekommt, muss er eine erste Sitzung mit dem Patienten, Angehörigen oder Freunden und einer Gruppe von Profis arrangieren, entweder in der Anstalt oder in der Wohnung des Betroffenen oder an sonst einem Platz. Häufig werden in dieser ersten Sitzung die Probleme mehr oder weniger gelöst. Hintergrund ist die Idee, viele Stimmen zum Sprechen zu bringen und nicht ohne den Patienten über ihn zu sprechen. Die Sprache, die von den Profis gesprochen wird, muss dieselbe Ebene haben wir die Sprache, die der Betroffene spricht.

1997 erhielten von 64 erstmalig als »schizophren« diagnostizierten Personen nur 16 Neuroleptika. Dieses relativ positive finnische Erfahrung mit dem offenen Dialog als fundamentales Prinzip sollte in allen Arten psychiatrischer Einrichtungen in den Vordergrund gestellt werden (s. P. Lehmann: »Psychiatric Emergency-Treatment: Help against one's Will or Action of Professional Violence?«, in: Excerpta Medica International Congress Series, Vol. 1179 (1999, S. 95 – 104).

Keines der genannten psychiatrischen Psychopharmaka löst irgendwelche psychischen Probleme sozialer Natur. In aller Regel erschweren sie die Lösung dieser Probleme – finde deren Bearbeitung statt in individueller Selbsthilfe, Gruppenarbeit oder bezahlter Psychotherapie. Nach Absetzen der Substanzen, wenn es überhaupt dazu kommt, sind in aller Regel die Bedingungen schlechter, um die ursächlichen Probleme zu lösen, die den Einsatz der psychiatrischen Psychopharmaka herbeigeführt haben.

Ich komme auf das Ausgangszitat zurück: »Der Zugang des Pflegepersonals zum Patienten ist zunächst der Zugang über den Körper.« Unsere Hoffnung ist, dass in einer überarbeiteten Broschüre der Satz umformuliert wird, etwa so:

»Der Zugang des Pflegepersonals zu Patientinnen und Patienten wird erleichtert, wenn diese sicher sein können, dass ihr Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit respektiert wird, wenn sie – als erster Schritt zu diesem Ziel – Behandlungsvereinbarungen oder einseitige Vorausverfügungen wie z.B. das Psychiatrische Testament anerkannt sehen und – sollten sie Psychopharmaka wollen – umfassend über alle nicht auszuschließenden Risiken aufgeklärt werden sowie rechtzeitig über frühe Warnzeichen möglicherweise entstehender Schäden informiert werden. Denn eine christliche Haltung auch in der Psychiatrie fußt auf dem Respekt vor dem oder der unverstandenen Anderen.«

Zu vielem habe ich aufgrund der Zeitnot nichts gesagt: der Wohnortnähe, der beruflichen Rehabilitation, dem christlich-ganzheitlichen Menschenbild, der Einbeziehung des Erfahrungsschatzes Psychiatriebetroffener in die psychiatrische Ausbildung. Vieles sprechen Sie ja dankenswerter auch an, zu vielem, was bei Psychiatrie-Betroffenen große Ängste auslöst, wird aber noch geschwiegen: die Zwangsbehandlung, das große Übel der Psychiatrie, oder aber die Renaissance des Elektroschocks, dieser barbarischen, im Faschismus eingeführten Methode, mit der vorsätzlich epileptische Anfälle ausgelöst und somit unwiderruflich Hirnzellen zerstört werden. Was die Einbeziehung Psychiatriebetroffener in die Ausbildung psychiatrisch Tätiger betrifft, herrscht beim Bundesverband großes Interesse. Viele unserer Mitglieder kommen gerne auf Einladungen hin. Auch ich bin gerne Ihrer Einladung gefolgt, um Ihnen unsere Sorgen und Wünsche ans Herz zu legen.

In Ihrem Kapitel über die Grundlagen und Ziele der Hilfe für psychisch kranke Menschen« heißt es auf S. 17:

»In einem alltagsnah organisierten geschützten Raum ist es den psychisch kranken Menschen leichter möglich, ihre Grenzen zu erfassen, zu lernen und mit Kompetenz und Inkompetenz umzugehen.«

Lassen Sie uns den Satz modifizieren: Die Menschen, die als psychisch krank gelten oder sich so empfinden, sollen in betreuten Einrichtungen auch lernen, Grenzen zu überschreiten, Inkompetenzen (die es ja nicht nur bei den Betroffenen gibt) infragezustellen sowie eigene Kompetenzen zu erweitern. Helfen Sie, dass diese Hoffnung Realität wird.

Copyright by Peter Lehmann 1998