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in: Aktion Psychisch Kranke (Hg.): "25 Jahre Psychiatrie-Enquete", Band 1, Bonn: Psychiatrieverlag 2001, S. 44-47 / PDF; und in: Mitgliederrundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BRD), 2001, Nr. 1, S. 6-7; und in: Susanne Spieker: Bedarf oder Bedürfnis?! Alternative (zur) Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2004, S. 167-170 (PDF E-Book 2022)

Peter Lehmann

Grußwort des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener zum Festakt »25 Jahre Psychiatrie-Enquete – Bilanz und Perspektiven der Psychiatrie-Reform«

am 21. November 2000 in Bonn im Wasserwerk (ehemaliger Plenarsaal des Deutschen Bundestages)

Sehr geehrte Frau Ministerin,
sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Damen und Herren,

als die Psychiatrie-Enquete erstellt wurde, gab es noch keinen Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Aktiv damals waren nur Einzelkämpfer. Heute, wo so viele Rückbesinnungen unternommen werden, möchte auch ich erinnern, und zwar an Erwin Pape, einen meiner Lehrer. Ich hatte ihn 1979 kennengelernt. Mit seiner humanistischen Gesinnung und seiner Absage an die Zwangspsychiatrie beeinflusste er mein weiteres Wirken wesentlich. Erwin Pape war in den 50er Jahren über 100mal elektrogeschockt worden und hatte sich hinterher trotz seiner behandlungsbedingten Hirnschädigungen für die Rechte und Interessen von Psychiatriebetroffenen eingesetzt. Leider starb er Anfang der 80er Jahre. Würde er noch leben, wäre er sicher beim BPE in kompetenter Weise gegen die sich wieder häufende Verabreichung des barbarischen Elektroschocks aktiv.

Heute gibt es nicht nur Einzelkämpfer, die leicht überhört werden, heute gibt es unseren Bundesverband. So freuen wir uns, dass wir doch noch zu einem Grußwort eingeladen wurden. Wir wissen dieses Entgegenkommen zu schätzen und hoffen, auch zukünftig bei Veranstaltungen dabei zu sein, in denen es letztlich um unsere Belange geht – und nicht nur mit einem Grußwort, sondern gerne auch mit einer Teilnahme an Pressekonferenzen. Und wir anerkennen ausdrücklich unsere Beteiligung bei der morgen beginnenden Tagung der Aktion Psychisch Kranke als überfälligen Schritt eines Richtungswechsels. Gerne werden wir auch die Lücke im Vorstand der Aktion Psychisch Kranke schließen. Sie haben uns den kleinen Finger hingestreckt – wir reichen Ihnen die ganze Hand.

Da es sich heute um Ihren Festakt handelt, werden wir ihn nicht mit Kritik stören. Die Geschichte der letzten 25 Jahre sieht aus Sicht von Politikern und Psychiatern sicher anders aus als aus Sicht von Betroffenen. Publikationen z.B. über Klaus-Peter Löser, dem vor drei Jahren 500.000 DM Schmerzensgeld zugesprochen wurden, sprechen eine andere Sprache. Oder Publikationen von Betroffenen selbst, z.B. von Vera Stein, die die Psychiatrie als Menschenfalle bezeichnet, oder von Kerstin Kempker, die in ihrem Buch »Mitgift« die nötige Ergänzung zur Geschichtsschreibung geliefert hat: mit ihren Erfahrungen in der biologischen Psychiatrie der Universitätsnervenklinik Mainz mit Elektro- und Insulinschocks und Psychopharmaka, in der daseinsanalytischen Psychiatrie im Schweizer Kreuzlingen und in der Sozialpsychiatrie Häcklingen.

Wir bieten hiermit unsere Erfahrungen an bei der Entwicklung sinnvoller Alternativen zur herkömmlichen Pflege- und Betreuungsmentalität, und zwar unter unserer Mitwirkung als gleichberechtigte Partner. Bevormundung und Verwahrung, Zwang und Gewalt erzeugen Angst, können aber niemals Hilfe sein und Heilung bewirken.

Wir wollen eine subjektorientierte Psychiatrie, die von unseren Erfahrungen und von unserem Erleben im Zusammenhang mit unserer Lebensgeschichte ausgeht, die Dialog und Hilfe zur Verarbeitung der Inhalte der sogenannten Krankheitssymptome anbietet und unsere Bedürfnisse berücksichtigt.

Wir sind gerne bereit, zu Arbeitskreisen und Hearings zu kommen und Stellungnahmen z.B. zu Wirksamkeitsstudien abzugeben.

Wir wollen helfen bei der Umsetzung des Consensus-Papiers, das bei der Konferenz von WHO/Europarat in Brüssel im April 1999 verabschiedet und im letzten November von der Konferenz der EU-Gesundheitsminister übernommen wurde. Für uns besonders wichtig sind die Punkte

  • aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik

  • Förderung von Selbsthilfeansätzen und nicht-stigmatisierenden, nichtpsychiatrischen Ansätzen und

  • vor allem Freiheit zur Auswahl aus Behandlungsangeboten zur Stärkung der Menschenrechte.

Wir wollen Sie unterstützen bei der Förderung nichtpsychiatrischer Alternativen (wie z.B. Weglaufhäuser). An dieser Stelle wollen wir uns bedanken beim »Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker«, dass inzwischen auch er Weglaufhäuser fordert.

Wir wollen Sie unterstützen bei der Entwicklung und Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen.

Wir wollen Sie unterstützen bei der Verbesserung der Rechtssicherheit Psychiatriebetroffener, und zwar in Form der Stärkung der Rechtswirksamkeit von Vorausverfügungen.

Wir wollen Sie unterstützen bei der Überwindung des demütigenden Vorenthaltens von sogenannten Krankenakten.
Wir wollen Sie unterstützen bei der Durchsetzung der Aufklärungspflicht.

Wir wollen Sie unterstützen bei der Qualitätsverbesserung in der Psychiatrie, und zwar durch Anhebung der Qualität im Alltag psychiatrischer Einrichtungen durch Auflagen wie z.B.

  • Patiententelefone in einer Kabine auf jeder Station

  • Münzkopierer deutlich sichtbar im Eingangsbereich jeder Anstalt

  • auf jeder Station deutlich sichtbar ein Anschlag, dass auf Wunsch Briefpapier, Briefumschläge und Briefmarken zur Verfügung gestellt werden

  • Anbringen von Informationen von Selbsthilfegruppen auf jeder Station

  • Anbieten eines täglichen Spaziergangs unter freiem Himmel von mindestens einer Stunde Dauer

  • Einrichten einer Teeküche auf jeder Station, dass man sich rund um die Uhr zu essen und zu trinken machen kann.

Und wir wollen Sie unterstützen bei der Suizidprophylaxe, und zwar bei der Einführung eines Suizidregisters unter besonderer Berücksichtigung von beteiligten Psychopharmaka und Elektroschocks, von vorangegangener Fixierung und von anderen Formen vorangegangener psychiatrischer Zwangsmaßnahmen.

Und insbesondere wollen wir den Aufbau von Beratungsmöglichkeiten von Psychiatrie-Erfahrenen für Psychiatrie-Erfahrene. Nach all den Millionen und Abermillionen, die die bisherige Psychiatriereform verschlungen hat, wollen wir nun auch einen Krümel vom Kuchen. Wir bitten die Krankenkassen und das Bundesministerium für Gesundheit um die Förderung eines neuen Modellprojekts. Wir bitten alle Sie hier Anwesenden, unser für das Jahr 2001 beantragte Projekt mit lächerlich je zwei Stellen zur Förderung der Selbsthilfe in den Bundesländern Berlin und Brandenburg sowie Nordrhein-Westfalen zu befürworten. Hätte ich mehr Zeit als die fünf Minuten Redezeit, könnte ich das Programm ausführen, aber was Selbsthilfekontakt- und Beratungsstellen sind, brauche ich vermutlich nicht extra zu erklären. Und wenn es mehr Stellen sein sollten, werden wir nicht nein sagen.

Ohne Aktivierung des Selbsthilfepotentials von Betroffenen geht bei psychischen Problemen nichts voran.
Ohne Aktivierung des Selbsthilfepotentials wird die Zahl der Erwerbsunfähigen weiter steigen.
Ohne Aktivierung des Selbsthilfepotentials wird die Zahl kostenintensiver Betreuungseinrichtungen und Heimplätze weiter steigen.
Ohne Aktivierung des Selbsthilfepotentials werden die Kosten der Gesundheitsversorgung weiter steigen.
Ohne Aktivierung des Selbsthilfepotentials wird es in der Psychiatrie keine wirkliche Entwicklung nach vorne geben.

Wir möchten Sie bei der betroffenenorientierten Reform der Psychiatrie unterstützen, und wir bitten um Ihre Unterstützung. Für unseren Antrag zur Finanzierung unseres Modellprojekts haben wir eine Unterschriftenliste vorbereitet und bitten Sie, uns durch Ihre Unterschrift zu unterstützen. Wir freuen uns, dass wir beim Bundesministerium für Gesundheit mittlerweile auf offene Ohren stoßen, gerne möchten wir, dass sich auch die Kassen öffnen.

Im Namen des BPE bedanke ich mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.