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des Antipsychiatrieverlags
in: »Stattbuch 5 Ein Wegweiser durch das andere Berlin«,
Berlin: Stattbuch-Verlag 1995, S. 128-130 / PDF
Peter
Lehmann
Psychiatrie
Die Kritik an psychiatrischer Behandlung wendet sich vor allem
gegen die Verletzung wesentlicher Grundrechte wie Selbstbestimmung,
Persönlichkeitsentfaltung, körperliche Unversehrtheit
und die Würde der Person. Sie betrifft auch die Diagnostik
sowie formalrechtliche Verstösse bei der Unterbringung. Antipsychiatrischem
Handeln gehen oft einschneidende persönliche Erfahrungen
mit der institutionellen Psychiatrie oder anderem Unrecht voraus.
Aber man muss nicht selbst in der Anstalt eingesessen haben,
um antipsychiatrisch aktiv zu werden und Strategien zu entwickeln,
um die psychiatrische Bedrohung abzuwehren und Möglichkeiten
echter Unterstützung für Menschen in psychischen Notlagen
zu schaffen. Gemeinsam ist den antipsychiatrischen AktivistInnen
der Widerspruchsgeist und die Erkenntnis, dass die Psychiatrie
überflüssig und schädlich ist. Deshalb engagieren
sie sich für neue mehr oder weniger institutionelle Formen
des Lebens mit Verrücktheit, Verrückten- und Weglaufhäuser
und Unterstützung beim Entzug von psychiatrischen Psychopharmaka.
Dabei ist das antipsychiatrische Weglaufhausprojekt in Berlin
ein Pilotprojekt von internationaler Bedeutung.
Alte Antipsychiatrie
Die Antipsychiatrie der Nachkriegsjahre wurde im wesentlichen
von Psychiatern wie z.B. Ronald D. Laing und David Cooper vertreten.
Sie machten deutlich, dass es für psychiatrische Diagnosen
keine objektiven klinischen Kriterien gibt, dass psychiatrische
PatientInnen blosse Funktionen typischer Psychiater und ihrer
Anstalten sind und sogenannte Schizophrenien lediglich Versuche,
unter unerträglichen Familienbedingungen und kapitalistischen
Ausbeutungsverhältnissen psychisch zu überleben. Wenn
auch dem patriarchalischen Denken verhaftet, schufen sie doch
die Grundlagen der neueren Entwicklung. Thomas Szasz leitete die
historische Entwicklung der Psychiatrie aus der Hexenverfolgung
ab und legte die moderne psychiatrische Praxis als Verbrechen
gegen die Menschlichkeit bloss sowie die psychiatrische Lehre
eindrucksvoll und unwiderlegt als größten wissenschaftlichen
Betrug dieses Jahrhunderts.
In der BRD traten mit der 68er Studentenbewegung noch andere
akademisch orientierte Kritiker auf, die sich aufgrund ihrer rein
theoretischen und wiederum männlichen Orientierung unfähig
zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Psychiatriebetroffenen
erwiesen mit Ausnahme der Sozialistischen Selbsthilfe e.V.
Köln, einem Wohn- und Arbeitskollektiv mit schlagkräftigen
Aktionen gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen.
Den Schwung der Psychiatriekritik nutzten sozialpsychiatrische
Reformer (»Auflösung der Grosskliniken«), die von
der sogenannten demokratischen Psychiatrie des Italieners Franco
Basaglia inspiriert wurden, um das System der Psychiatrie zu verdoppeln:
Die Anstalten wurden verkleinert und baulich renoviert, psychiatrische
Abteilungen an Krankenhäusern sowie ein umfassendes System
der Gemeindepsychiatrie mit unterschiedlichsten Einrichtungen
neu geschaffen. Den Betroffenen gelingt kaum noch der Ausstieg
aus diesem Komplettsystem, das auf der Verabreichung von psychiatrischen
Medikamenten mit mehrwöchiger Halbwertzeit basiert,
den Depotneuroleptika.
Besonders diese neurotoxischen Psychodrogen können katastrophale
Schäden verursachen (siehe »Schöne neue Psychiatrie«).
In einer 1991 veröffentlichten Studie über eine Stichprobe
gemeindepsychiatrisch behandelter und z.T. in betreutem
Einzelwohnen oder therapeutischen Wohngemeinschaften
lebender BerlinerInnen sprach eine Autorengruppe von einem durchschnittlichen
Vorkommen von 59% tardiven Dyskinesien. Dies sind veitstanzartige
und von langanhaltenden und schmerzhaften Krämpfen begleitete
Muskel- und Bewegungsstörungen, die im Laufe der Behandlung,
beim Absetzen oder danach im Gesicht, am Rumpf oder an den Extremitäten
auftreten, nicht behandelbar sind, sozial stigmatisieren und mit
einer Verkürzung der Lebenserwartung einhergehen (siehe »Statt
Psychiatrie«, S. 452.). Im Gefolge der Renaissance braunen
Gedankenguts kommt auch der im italienischen Faschismus von Schweineschlachthäusern
abgeguckte Elektroschock wieder verstärkt in Mode. Mit ihm
werden in den Gehirnen der Behandelten (zu 80% Frauen) epileptische
Anfälle ausgelöst, was irreversible massive Nervenzellausfälle
bewirkt. Reaktion auch der höchstfortschrittlichen Reformpsychiater:
Schweigen.
Mit einer Vielzahl von gut bezahlten Arbeitsplätzen und
Teilhabe an der Machtausübung korrumpiert dieses System die
MitarbeiterInnen. Obwohl die Langzeitschäden von Elektroschocks
oder Neuroleptika himmelschreiend sind, bleiben die psychiatrisch
Tätigen stumm, die politisch Verantwortlichen in den Parteien
und der Senatsverwaltung für Gesundheit tatenlos und die
Betroffenen verloren, sofern sie sich nicht zusammenschliessen.
Neue Antipsychiatrie
Ein Vierteljahrhundert, nachdem dissidente Psychiater ihre Wissenschaft
als Antipsychiatrie neu erfinden wollten, artikuliert sich seit
den frühen achtziger Jahren zunehmend eine radikale Kritik,
die als neue Antipsychiatrie zu bezeichnen ist. Sie wird nicht
von Professionellen getragen, die für und über psychisch
Kranke reden wollen, sondern von Psychiatriebetroffenen,
die sich auf allgemeine Menschenrechtserklärungen berufen
und die wissen, dass es Geisteskrankheiten (im Gegensatz zu Hirnkrankheiten)
als medizinische Komplexe mit kategorisierbaren Ursachen, Verläufen
und Prognosen nicht gibt. Sie wollen die Psychiatrie nicht reformieren,
sondern abschaffen.
Die neue Antipsychiatrie in Deutschland wurde im Wesentlichen
von der Berliner Selbsthilfeorganisation Irren-Offensive e.V.
entwickelt. Schon kurz nach ihrer Gründung 1980 hatten ihre
Mitglieder, AkademikerInnen wie NichtakademikerInnen, Frauen wie
Männer, den entwertenden Krankheitsbegriff über Bord
geworfen. Zwar sind fast alle ehemals antipsychiatrisch aktiven
Mitglieder dieser Gruppe inzwischen zum Verein zum Schutz vor
psychiatrischer Gewalt e.V. übergewechselt und in der Irren-Offensive
jetzt völlig andere Personen als früher aktiv: Dennoch,
all die Schritte der alten Irren-Offensive, nachzulesen
in Tina Stöckles Artikel »Die Irren-Offensive
Möglichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer Selbsthilfe«
(in: »Statt Psychiatrie« 1993, S. 329 364), sind
inzwischen auch von einigen neu gegründeten Gruppen in anderen
Städten nachvollzogen worden oder werden zumindest angestrebt:
-
(Nichtangeleitete) Selbsthilfe zur Lösung psychischer
Probleme und Verarbeitung verrückter (psychotischer)
Erfahrungen unter Verneinung der Zuständigkeit
von MedizinerInnen und unter Abwehr sexistischer Verhaltens-
und Denkweisen
-
Organisierung eigener Räume und Beratung von Betroffenen
für Betroffene, insbesondere beim Absetzen psychiatrischer
Psychopharmaka
-
Rechtsberatung und Entwicklung eines Rechtsschutzes gegen
psychiatrische Übergriffe unter dem Motto »Recht
auf psychopharmakafreie Hilfe«
-
Aufbau einer eigenen nationalen Organisation und Zusammenarbeit
mit anderen politischen und Menschenrechtsorganisationen
-
Aufbau eines eigenen, nichtzensierbaren Kommunikationssystems
-
Umwidmung psychiatrischer Gelder zugunsten nutzerkontrollierter
Alternativprojekte statt eines weiteren Ausbaus der Kontaktbereichspsychiatrie.
Möglichkeiten und Grenzen der Antipsychiatrie
Vieles an Angeboten haben die wenigen antipsychiatrisch ausgerichteten
Gruppen nicht zu bieten. Sie haben notorisch zu wenig Geld und
zu wenig MitarbeiterInnen. Psychiatriekritische Gruppen werden
in aller Regel von staatlicher Förderung ausgeschlossen.
Anliegen aller Gruppen ist es deshalb, mit Spenden, Patenschaften
(z.B. für das Projekt Weglaufhaus) oder gar aktivem Engagement
unterstützt zu werden. Wer nur dann Kontakt aufnimmt, wenn
die akuten Probleme gerade am Überkochen sind, wird kaum
die nötige Unterstützung bekommen.
Im allgemeinen sollten Sie folgende Grundregeln beachten:
-
Meiden Sie Einrichtungen der institutionellen Psychiatrie.
Seien Sie auch bei HausärztInnen vorsichtig, denn diese
verordnen mit wachsender Begeisterung psychiatrische Psychopharmaka.
Informieren Sie sich selbst über Risiken und Wirkungen,
denn in aller Regel wird nicht in erforderlichem Umfang aufgeklärt.
-
Blindes Vertrauen in die allseitige Kompetenz von Selbsthilfegruppen,
nur weil die einzelnen Mitglieder ähnlich scheinende
Probleme hatten oder haben, ist ebenso fehl am Platze. Die
Gruppen sind mehr oder weniger antipsychiatrisch. So schnell
wie die Adresse kann sich auch die inhaltliche Ausrichtung
sowie die Zusammensetzung einer Gruppe verändern. Durch
Nachfragen erfahren Sie, ob es sich um eine gemischte Organisation
oder um eine reine Betroffenengruppe handelt, sollten Sie
eine solche suchen. Eine Alternative zur Selbstorganisation
gibt es jedoch nicht.
-
Sollten Sie meinen, ein Krisenzentrum komme Ihren Bedürfnissen
am nächsten, weil dort etwas mehr Personal als in gewöhnlichen
Anstalten ist und Sie nicht sofort mit Psychopharmaka und
Fixiergurten bedroht werden, bedenken Sie: Wer garantiert
Ihnen, dass Sie dieses Krisenzentrum wieder so frei verlassen
können, wie Sie es betreten haben, und dass Sie nicht
durch die Hintertür an die geschlossene Station weitergereicht
werden? Vermeiden Sie es, ohne Begleitung an solch einen Ort
und überhaupt zum Psychiater zu gehen und
sich auf Gespräche unter vier Augen einzulassen. Alles,
was Sie sagen, wird zur Festigung Ihrer Diagnose verwendet,
und diese kann der Freibrief für psychiatrische Willkür
werden.
-
Wenn der Psychiater oder sein Helfer vor der Tür steht:
Sie müssen ihn nicht in Ihre Wohnung lassen. Sie können
ihn auch anhören und dann aus der Wohnung werfen. Auch
hier empfiehlt es sich, diesen Obrigkeitsvertretern nicht
alleine gegenüberzutreten.
-
Droht Ihnen eine Anstaltsunterbringung, sollten Sie Kontakt
mit engagierten AnwältInnen aufnehmen (Adressen bei antipsychiatrischen
Gruppen erfragen). Ganz wichtig: Vor einer drohenden Zwangsbehandlung,
mit der Sie bei einer Anstaltsunterbringung rechnen müssen,
können Sie sich mit einem Psychiatrischen Testament schützen.
Dies ist eine juristische Vorausverfügung, verfasst
im Zustand der nicht angezweifelten Normalität. Sie legen
darin bereits jetzt rechtswirksam fest, wie Sie behandelt
oder nicht behandelt werden wollen, sollten andere Sie für
geisteskrank und behandlungsbedürftig erklären.
Erhältlich sind die Musterformulare beim Verein zum Schutz
vor psychiatrischer Gewalt e.V.
Flucht aus einer Psychiatrischen Anstalt ist nicht strafbar.
Doch wohin, wenn unterstützende FreundInnen fehlen, die eigene
Familie für die Anstaltsunterbringung gesorgt hat, die Wohnung
weg ist und das Weglaufhaus noch nicht eröffnet hat? Schauen
Sie auf den folgenden Seiten, da stehen wenigstens einige Gruppen,
bei denen Sie im Notfall Rat, Trost, Hinweise, Adressen usw. erhalten.
Literaturempfehlungen
-
Janet Frame: Gesichter im Wasser. München 1994
-
Andreas Jürgens, Rolf Marschner u.a.: Das
neue Betreuungsrecht. Eine systematische Gesamtdarstellung.
3. Aufl., München 1994
-
Kerstin Kempker: Teure
Verständnislosigkeit Die Sprache der Verrücktheit
und die Entgegnung der Psychiatrie. Berlin 1991
-
Kerstin Kempker, Peter Lehmann (Hg.):
Statt Psychiatrie. Praxisbuch der Selbsthilfe und Antipsychiatrie.
Berlin 1993
-
Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie Band 1:
Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken; Band 2:
Wie
Neuroleptika den Körper verändern. Berlin 1996 (PDF E-Books 2022)
-
Kate Millett: Der Klapsmühlentrip. Köln 1993
-
Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie. Bern 1991
-
Marc Rufer: Glückspillen. Ecstasy, Fluctin und das Comeback
der Psychopharmaka. München 1995
-
Vera Stein:
Abwesenheitswelten Meine Wege durch die Psychiatrie.
Tübingen 1993
-
Uta Wehde: Das
Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene.
Erfahrungen, Konzeptionen, Probleme. Berlin 1991
-
Josef
Zehentbauer: Chemie für die Seele Psyche, Psychopharmaka
und alternative Heilmethoden. 6. Aufl., Frankfurt a.M.
1993 (PDF E-Book 2022)
-
FAPI-Nachrichten
(Mitteilungsheft des Forums Anti-Psychiatrischer Initiativen
e.V. Deutschland, Schweiz, Österreich).
-
PsychKG (Psychisch-Kranken-Gesetz), Broschüre,
Senatsverwaltung für Gesundheit Berlin,
Psychiatriereferat
Coyright by Peter Lehmann 1995
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