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des Antipsychiatrieverlags
Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde am
28. September 2010 durch die Psychologische Abteilung der Philosophischen
Fakultät der Aristoteles-Universität Thessaloniki (Griechenland),
in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 43. Jg. (2011),
Nr. 2, S. 384-387; und in: Psychosoziale Umschau (BRD), 26. Jg.
(2011), Nr. 1, S. 14-16 ·
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Griechische
Übersetzung ·
Niederländische
Übersetzung
Peter
Lehmann
Internationale Noncompliance
und humanistische Antipsychiatrie (1)
Der Begriff "humanistische Antipsychiatrie"
wird oft missverstanden, da "Antipsychiatrie" in vielen
Ländern mit ihren kulturellen Eigenheiten willkürlich
unterschiedlich benutzt wird. Die moderne, nutzergetragene humanistische
Antipsychiatrie ist eine undogmatische Bewegung. Die Vorsilbe
"Anti" aus dem Griechischen bedeutet mehr als einfach
nur "gegen". Sie bedeutet auch "alternativ",
"gegenüber" oder "unabhängig". Humanistische
Antipsychiatrie ist von Widerspruchsgeist und der grundlegenden
Erkenntnis erfüllt,
- dass die Psychiatrie als naturwissenschaftliche Disziplin
dem Anspruch, psychische Probleme überwiegend sozialer
Natur zu lösen, nicht gerecht werden kann,
- dass ihre Gewaltbereitschaft und -anwendung eine Bedrohung
darstellt und
- dass ihre Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme
des einzelnen Menschen verstellt.
Deshalb bedeutet humanistische Antipsychiatrie, sich zu engagieren
- für den Aufbau angemessener und wirksamer Hilfe für
Menschen in psychosozialer Not,
- für ihre rechtliche Gleichstellung mit normalen Kranken,
- für ihre Organisierung und die Zusammenarbeit mit anderen
Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen,
- für die Unterstützung beim selbstbestimmten Absetzen
psychiatrischer Psychopharmaka und die Verwendung alternativer
psychotroper, das heißt die Psyche beeinflussender, und
weniger giftiger Substanzen,
- für das Verbot des Elektroschocks,
- für neue Formen des Lebens mit Verrücktheit und
Andersartigkeit sowie
- für Toleranz, Respekt und Wertschätzung von Vielfalt
auf allen Ebenen des Lebens.
Psychiatrische Bedrohung als gesamtgesellschaftliches Problem
Das Problem fehlender Unterstützung in psychischer Not betrifft
keine Minderheit, sondern die breite Masse der Gesellschaft: die
Betroffenen selbst, die Angehörigen, Kinder, Alte und sozial
Ausgegrenzte aller Art. Der Schutz vor psychiatrischer Gewalt
hätte einen gesamtgesellschaftlich entängstigenden Faktor.
Das Eindämmen der Flut von Psychopharmaka-Verordnungen mit
ihrer Produktion sogenannter therapeutischer Zweitkrankheiten
und den daraus folgenden körperlichen, psychischen und sozialen
Behinderungen hätte neben der gesundheitlichen auch eine
maßgebliche kostendämpfende Wirkung. Das Verständnis
des aus dem inneren Erleben unserer Kultur herrührenden Schmerzes
psychotischer oder depressiver Menschen würde allgemein zu
mehr Einsicht in sich selbst führen und Isolation und Entfremdung
vorbeugen.
Moderne Neuroleptika eine Verbesserung?
In der Mainstream-Wissenschaft gelten psychiatrische Psychopharmaka,
speziell Neuroleptika, als hilfreiche antipsychotische Medikamente,
die Menschen therapiefähig machen, sogenannte Psychosen lindern,
vorbeugen oder heilen und die Lebensqualität verbessern,
so dass die Betroffenen wieder in die Gesellschaft integriert
werden können und arbeitsfähig werden. Wenn sich Psychiater
unbeobachtet fühlen, benutzen sie andere Worte, sie sprechen
von seelischer Einmauerung, emotionaler Panzerung. Haloperidol-Leichen,
vom Zombie-Syndrom und vom Syndrom der gebrochenen Feder.
Immer neue Psychopharmaka sollen immer weniger sogenannte Nebenwirkungen
entfalten und immer bekömmlicher werden, wird uns von Psychiatern
erzählt, man liest es auch in den Werbeanzeigen der Pharmafirmen.
Gerhard Ebner, Mitglied des Advisory Board bei Janssen-Cilag zur
Einführung des Risperdal Consta und gleichzeitig Präsident
der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte,
sprach 2003 in einem psychiatrischen Fachblatt eine andere Sprache,
als er den wesentlichsten Unterschied zwischen typischen und atypischen
Neuroleptika betonte: die verbesserte Compliance, das heißt
Bereitschaft der Patienten zur Unterordnung unter das psychiatrische
Behandlungsregime, die die neuen Neuroleptika auszeichnet:
"Es handelt sich nicht um weniger Nebenwirkungen,
sondern um andere, die aber ebenfalls sehr einschneidend sein
können, auch wenn sie von den Patienten nicht unmittelbar
wahrgenommen werden, weswegen die Patienten leichter zur Einnahme
dieser Antipsychotika motiviert werden können, da die quälenden
Frühdyskinesien/extrapyramidalen Nebenwirkungen nicht oder
nicht so stark auftreten." (Ebner, 2003, S. 30)
Studien und Publikationen weisen nach, dass eine wirksame Aufklärung
über Behandlungsrisiken in der Psychiatrie nicht stattfindet.
Dass ihnen Informationen und Hilfen beim Absetzen verweigert werden
(Lahti, 2008). Und Menschenrechte strukturell missachtet werden.
Und Menschen mit psychiatrischen Diagnosen im Gesundheitssystem
massiv diskriminiert werden. Und kaum Hilfe zur Lösung der
Probleme angeboten wird, die zur Psychiatrisierung geführt
haben. Und Behandlungen zu Traumatisierungen mit teilweise jahrelangen
Psychiatrieaufenthalten führen. Dies alles ohne jegliche
Konsequenzen für Psychiater, die noch vor Jahren ohne rechtwirksame
Einwilligung selbst Jugendliche mit Elektro- und Insulinschocks
sowie Psychopharmaka aller Art malträtierten und trotzdem
hochgeschätzte Mitglieder ihrer Zunft sind, beispielsweise
der deutsche Psychiater Henrik Uwe Peters als Ehrenmitglied im
Psychiatrischen Weltverband (Lehmann, 2010). Dass Psychopharmaka
wie auch andere persönlichkeitsverändernde Substanzen
wie Haschisch oder Alkohol emotionale Probleme eine Zeitlang
neutralisieren können, verstärkt die Misere mittel-
und langfristig.
Wie wichtig eine sachliche Information für Betroffene wäre,
um eine eigenständige Nutzen-Risiko-Entscheidung zu treffen,
ob sie Psychopharmaka einnehmen wollen oder nicht, zeigen derzeit
die bekannt gewordenen Hauptrisiken zu den modernen, sogenannten
atypischen Neuroleptika. Remoxiprid (Handelsname: Roxiam) beispielsweise
war 1991 als "Rose ohne Dornen" angekündigt worden,
als gut verträgliches Medikament ohne Nebenwirkungen. Drei
Jahre später wurde es von der Herstellerfirma wieder vom
Markt genommen: wegen einer Reihe von lebensgefährlichen
Fällen aplastischer Anämie Blutarmut mit Verminderung
der roten und weißen Blutkörperchen, beruhend auf einem
Defekt im blutbildenden System; verfügbar ist es dennoch
immer noch. Ein anderes Beispiel für Verträglichkeitsprobleme
bei atypischen Neuroleptika ist Sertindol (Handelsname:
Serdolect), das lange als nebenwirkungsarm galt. Im November 1998
fand sich im Internet in medizinischen Datenbanken noch der Begriff
"nebenwirkungsfrei". Anfang Dezember 1998 meldete die
Schweizer Ärzte Zeitung: "Vertrieb von Serdolect
gestoppt Anlass sind schwere kardiale (das Herz betreffende)
Nebenwirkungen und Todesfälle". Diese Todesfälle
sind natürlich längst begraben im Gegensatz zu
Serdolect.
Ständig werden neue atypische Neuroleptika auf den
Pharmamarkt gebracht, zuletzt Asenapin (Handelsname: Saphris);
sie sind allesamt hochriskant. Als weitere besondere Risiken dieser
Substanzen sind zu nennen das neuroleptikabedingte Defizit-Syndrom,
Fettleibigkeit, Hypercholesterinämie (erhöhter Cholesteringehalt
im Blut), Diabetes, erhöhte Apoptose (Sichabstoßen
von Zellen aus dem Gewebe, d. h. Zelltod) und erhöhte Sterblichkeit
vor allem bei Verabreichung von Neuroleptika in Kombination mit
anderen Medikamenten. Aber auch atypische Rezeptorenveränderungen,
die zu tardiven Psychosen führen können, sollten ins
Kalkül gezogen werden. Tardive Psychosen sind psychische
Störungen, die im Lauf der Verabreichung von Neuroleptika,
beim Absetzen oder danach können behandlungsbedingt,
auch und besonders bei atypischen Neuroleptika. Tardive Psychosen,
die Ungerstedt und Ljungberg, Mitarbeiter der Histologischen Abteilung
des Karolinska Instituts in Stockholm, als besonderes Risiko von
Clozapin (Handelsname: Leponex), dem Prototyp atypischer
Neuroleptika, nachwiesen, geht wie ihr Gegenstück
tardive Dyskinesie zurück auf behandlungsbedingte
Veränderungen des Rezeptorensystems. Als Ursache vermutet
man Veränderungen von Dopamin-D1- und -D4-Rezeptoren, speziellen
Dopaminrezeptoren-Subtypen. Durch die herkömmlichen Neuroleptika
werden speziell Dopamin-D2-Rezeptoren beeinträchtigt, was
als mittel- und langfristiges Risiko eher eine tardive Dyskinesie
bewirkt. Ungerstedt und Ljungberg warnten bereits 1977:
"Unsere Verhaltensdaten zeigen, dass diese 'Besonderheit'
des Clozapin auf seine vergleichsweise stärkere Hemmung von
limbischen Dopaminrezeptoren zurückzuführen ist. Diese
Rezeptoren können somit am ehesten etwas mit der Entwicklung
der Supersensitivität nach chronischer Clozapinbehandlung
zu tun haben..." (Ungerstedt & Ljungberg, 1977, S. 199)
Moderne Psychiatrie eine bessere Psychiatrie?
Die Psychiatrie der Zukunft zeichnet sich noch düsterer
am Horizont ab: Psychiater und Pharmakologen denken an die Entwicklung
neuer Verabreichungsformen von Psychopharmaka, zum Beispiel Depots,
die man in die Gebärmutter oder in den After einführen
kann. Bei Versuchsratten kann man bereits Haldol-Depots mit einjähriger
Substanzabgabe in die Rückenmuskulatur einpflanzen. Menschen
mit der Diagnose "Zwangserkrankung" können sich
zur Regelung ihres Gemütszustands Chips ins Gehirn operieren
lassen. Die allerneueste Entwicklung kommt aus England: Das South
London and Maudsley Hospital experimentiert mit GPS-Sendern in
Fußfesseln, die psychiatrischen Patienten und Patientinnen
angelegt werden, damit ihre Aufenthaltsorte per Satellit überwacht
werden können. Im Rahmen des Swiss Early Psychosis Project
oder des Kompetenznetzes Schizophrenie werden Kinder und Jugendliche
erfasst, die in der Schule auffallen oder Probleme in der Familie
haben, um sie vorbeugend langjährig unter Neuroleptika zu
stellen und fortwährender Psychoedukation auszusetzen. Laut
der 2005 vom Europarat verabschiedeten "Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und der Würde von Menschen, die an einer
Geistes-Störung leiden, insbesondere jener, welche als unfreiwillige
Patienten in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind"
gilt die Verabreichung von Elektroschocks auch ohne Einwilligung
ebenso als ethisch wie die Zwangsunterbringung ohne richterlichen
Beschluss oder die ambulante Zwangsbehandlung. Im EU-Vertrag von
Lissabon von 2007 ist die Einschränkung der Menschenrechte
von Psychiatrisierten festgeschrieben. Da schon jetzt die Lebenserwartung
psychiatrischer Patienten und Patientinnen vermutlich im
Wesentlichen aufgrund psychopharmakabedingter Herz-Kreislauf-Störungen,
Diabetes und Suizidalität um durchschnittlich bis
zu drei Jahrzehnte herabgesetzt ist (Aderhold, 2007), wird es
höchste Zeit, dass sich international, auch auf universitärer
Ebene, Widerstand gegen die immer lebensbedrohlicher werdende
Diskriminierung von Psychiatriebetroffenen regt.
Fazit
Da alternative Angebote mitmenschlicher Hilfe derzeit eher nicht
bereitstehen, müssen Psychiatriebetroffene lernen, mit den
vorhandenen Angeboten umzugehen. Sofern sie nicht wollen, dass
andere über sie verfügen, sollten sie sich tunlichst
durch Vorausverfügungen (beispielsweise Psychiatrische Testamente,
Vorsorgevollmachten oder Patientenverfügungen) vor psychiatrischer
Willkürbehandlung und Körperverletzung schützen,
auf die Qualität der Behandlungsangebote Einfluss zu nehmen
versuchen oder Alternativen aufzubauen beginnen. Hilfreich ist
hierbei, wenn sie
- sich organisieren
- mit geeigneten Organisationen, Einrichtungen und Personen
kooperieren
- forschen (beispielsweise psychiatrische Angebote oder alternative
Ansätze evaluieren)
- sich und andere schulen
- darauf drängen, in die Verantwortung einbezogen und wirksam
an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen beteiligt zu werden,
so dass Ansätze von Qualität in der Versorgung entstehen
und Nutzerkontrolle ausgeübt werden kann.
Menschenrechtsorganisationen, Beschwerdestellen, Ombudsmänner
und -frauen können helfen, dass aus wehrlosen Psychiatriepatienten
und -patientinnen selbstbewusste Klienten und Klientinnen werden,
die ihnen zustehende Hilfen, Bürger- und Menschenrechte in
Anspruch nehmen.
Natürlich sind bei dem Unterfangen, Alternativen aufzubauen
und humane Behandlungsbedingungen durchzusetzen, alle angesprochen,
denen an Gesundung, Stärkung der Lebenskraft und einem auf
Toleranz und Gleichberechtigung beruhenden Gemeinwesen liegt
auch Psychologen und Psychologinnen. Wie soll einem Menschen psychotherapeutisch
geholfen werden, wenn er psychiatrisch gedemütigt wird und
die persönlichkeitsverändernde Wirkung der Psychopharmaka
eine konfliktaufdeckende therapeutische Begleitung von vornherein
verunmöglicht? Welchen Sinn haben Überlegungen zur Auswahl
unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren, wenn Neuroleptika
aufgrund ihrer apathisierenden Wirkung das Remittieren (Rückbilden)
der psychotischen Entwicklung beeinträchtigen und bei
ca. zwei Drittel aller Anwendungen pharmakologisch bedingte Depressionen
bis hin zur Suizidalität bewirken? Wird es nicht Zeit, dass
sich auch Psychologen mehr und mehr kritisch mit Psychopharmakawirkungen
beschäftigen, mehr und mehr noncompliant werden?
Es ist wünschenswert, dass man dem Betroffenendiskurs in
Bildung und Fortbildung eine wachsende Bedeutung gibt und dass
man die Betroffenen als diejenigen anerkennt, die das größte
Wissen und die meisten Informationen über Werte, Bedeutungen
und Beziehungen besitzen und die wahren Experten sind (Bracken,
2007), speziell diejenigen, die ihre psychischen sowie psychiatrischen
Probleme überwunden haben.
Für Psychiatriebetroffene gilt, reflektiert und vorsichtig
vorzugehen, denn Psychiatriebetroffenheit ist keine Kategorie,
die einen zu einem besseren Menschen macht. Wichtig sind ein respektvolles
Miteinander in der Zusammenarbeit, auch wenn es unterschiedliche
Präferenzen gibt, sowie eine produktive Zusammenarbeit mit
all denen, die gegen Verdummung, Unterdrückung, Ausbeutung
und Normierung der Menschen aktiv sind. Geben wir acht, uns nicht
in neue Abhängigkeiten zu begeben, denn neben Gesundheit
ist nichts wertvoller als Freiheit und Unabhängigkeit.
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Ich bedanke mich an dieser Stelle herzlich bei der Aristoteles-Universität
und ihrer Psychologischen Abteilung der Philosophischen Fakultät für ihren mutigen
Schritt, mich mit einem Ehrendoktortitel auszuzeichnen. Ich hoffe,
dass diese Universität mit ihrer Wertschätzung des Erfahrungswissens
Psychiatriebetroffener von anderen Universitäten zum Vorbild
genommen wird, damit die Stimmen der Psychiatriebetroffenen besser
wahrgenommen und diese in ihrem Kampf um die Durchsetzung ihrer
Menschenrechte mehr unterstützt werden.
Quellen