Leserbrief, in: Intra (Schweiz), 2000, Heft 44, S. 12-13
Peter
Lehmann
Wie gefährlich sind Psychiater?
Wenn Heinz Häfner in seinem Artikel "das Fehlen oder den
Mangel an ausreichender antipsychotisch medikamentöser Behandlung"
in der Gemeinde als ein Kernproblem des Gewalttatenrisikos sogenannter
schizophren Erkrankter bezeichnet, könnte der Eindruck einstehen,
dass mit allgemeiner psychopharmakologischer Ruhigstellung Suizidgefahren
sowie Kommunikationsprobleme in Familien, in denen sich Gewaltdramen
abspielen, gelöst werden können. Der Dank der Pharmaindustrie
wird ihm gewiss sein. Dass seit Einführung der Neuroleptika ("Antipsychotika")
die Suizidrate unter den Behandelten dramatisch anstieg, und zwar
aufgrund der Eigenwirkung der transmitterblockierenden Psychodrogen,
erwähnt Häfner ebensowenig wie die Tatsache, dass Neuroleptika
zu Depersonalisationserscheinungen verbunden mit aggressiven Ausbrüchen
insbesondere gegen Familienangehörige führen können. In der neueren
amerikanischen Literatur wird durchaus der Zusammenhang zwischen
neuroleptikabedingten Unruhezuständen (sogenannte Akathisien)
und aggressiven Impulsentladungen bis hin zu suizidalen und homizidalen
Verhaltensweisen gesehen (siehe z. B. Klaus Windgassen: "Schizophreniebehandlung",
Heidelberg 1989). Wer und was ist hier gefährlich?
Das Europäische Netzwerk von Psychiatriebetroffenen setzt auf
die Entwicklung sinnvoller Alternativen zur psychopharmakologisch
ausgerichteten Pflege- und Betreuungsmentalität der herkömmlichen
medizinischen Psychiatrie. Zwang und Gewalt erzeugen Angst, können
aber wie Bevormundung und Verwahrung niemals Heilung bewirken.
Wir fordern eine subjektorientierte Psychiatrie, die von unseren
Erfahrungen und von unserem Erleben im Zusammenhang mit unserer
Lebensgeschichte ausgeht, die Dialog und Hilfe zur Verarbeitung
der Inhalte der "Psychosen" und Depressionen anbietet.
Angesichts des Artikels von Häfner drängt das Bedürfnis vieler
Psychiatriebetroffener nach einem Antidiskriminierungsgesetz in
den Vordergrund, ebenso ihr Wunsch nach Schutz der Privatsphäre.
Ich erinnere deshalb an die Resolution des World Network of Users
and Survivors of Psychiatry (WNUSP), die im September 1999 in
Santiago de Chile durch die Vollversammlung der World Federation
for Mental Health (WFMH) mit folgendem Wortlaut angenommen wurde:
"Aufgrund der Sorge über die Ausbreitung gemeindenaher
Zwangsbehandlung wurde beschlossen, dass die WFMH den Widerstand
von WNUSP gegen gemeindenahe psychiatrische Zwangsbehandlung
unterstützt."
Peter Lehmann
Dipl.-Päd. und Vorstandsmitglied im
European
Network of (ex-) Users and Survivors of Psychiatry
Berlin