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des Antipsychiatrieverlags
in: Junge Welt (Berlin) vom 4. Januar 1995, Nr. 3, S. 7
Kerstin
Kempker
Psychiatrie, feministisch
Ein Paradoxon oder: gibt es ein freundliches Unrechtssystem?
Kennen Sie die feministische Psychiatrie? Oder die feministische
Antipsychiatrie? Beides gibt es nicht, noch nicht. Während
die einen, Psychotherapeutinnen und Psychiaterinnen, eine frauengemachte
und deshalb (!) frauengerechte Frauenpsychiatrie planen, weisen
die anderen, zumeist Psychiatriebetroffene, darauf hin, daß
Feminismus und Psychiatrie einander ausschließen, bedingungslos.
Oder gibt es feministische Folter, Demütigung und Stigmatisierung?
Auf dem "Grenzgängerinnen"-Kongreß im Herbst '94,
veranstaltet von Wildwasser Bielefeld e.V., trat der Konflikt
zutage. Auf der einen Seite die vielen hochmotivierten und engagierten
Therapeutinnen, die sich begeistert auf die neue Frauenkrankheit
"Multiple Persönlichkeitsspaltung" (MPS) einließen,
eine Überlebensstrategie nach unerträglichen Gewalterfahrungen,
bei der viele verschiedene Ichs oft unabhängig voneinander
handeln. Kräftig angespornt von der Presse, spürten
sie den diagnostischen und therapeutischen Feinheiten nach. Auf
der anderen Seite die ewigen Nörglerinnen mit ihren hehren
Theorien, die keiner florierenden Praxis standhalten. Zu diesen
zählten all die Frauen, die nicht wie die Multiplen mit Ehrfurcht
und Achtung behandelt wurden, sondern als "Schizophrene" oder
sonstwie Irre andere Erfahrungen mit Therapie und Psychiatrie
machen mußten.
Wie kommt es, daß die Grundlagen und die Praktiken der
heutigen Psychiatrie von sonst so kritischen Therapeutinnen ausgeblendet
werden? Denken sie, die Antipsychiatrie der 70er Jahre, die ja
sehr theorielastig und männergemacht war, habe ihr Werk schon
getan? Mißverstehen sie die aktuelle Sozialpsychiatrie,
die mehr Menschen als je zuvor zu psychisch Kranken erklärt,
in Anstalten und "Nachsorge"-Einrichtungen festhält und mit
chemischen Giften (Neuroleptika) traktiert, als Stätte des
Humanismus? Wissen sie nichts von Zwangseinweisungen, dieser Einsperrung
auf unbekannte Zeit schon auf den puren Verdacht, es könne
etwas passieren? Von Zwangsbehandlungen, die völlig
legal von der Begrüßungs-k.o.-Spritze über
Fixierungen bis zu Elektroschocks reichen? Von den Neuroleptika,
die 95 Prozent aller InsassInnen verabreicht werden, und ihren
Schäden: der fast immer auftretenden Lähmung der Lebensgeister
mit einem Gefühl der Dumpfheit, schwerer Zunge und Bewegungsstörungen
bis hin zu Tumorbildung, genetischen Veränderungen und plötzlichem
Tod? Wissen sie nicht, daß grundlegende Menschenrechte in
der Psychiatrie nicht gelten: der Schutz der Menschenwürde,
das Recht auf Freiheit, auf körperliche und geistige Unversehrtheit,
auf einen fairen Prozeß, auf Privatleben und Ideenfreiheit?
Die Psychiatrie ist, das liegt in ihrem Wesen, eine totale Institution.
Ihr Machtmittel, das jedes psychiatrische Tun legitimiert und
jede ihrer Prophezeiungen zur Erfüllung bringt, ist die Diagnose.
Mit ihr ändert sich schlagartig alles. Sie ist das Vergehen,
für das mir meine Freiheiten entzogen werden, fürsorglich
und vorsorglich und nur zu meinem besten, für das ich eingesperrt,
zwangsbehandelt und geschockt werde. Ohne Diagnose dürfte
das keine und keiner mit mir tun. Das wäre Freiheitsberaubung,
Körperverletzung und versuchter Totschlag. Mit der Diagnose
Schizophrenie oder endogene Depression ist es ärztliche Heilkunst.
Die geistigen Väter dieser Diagnostik, die sich reduzieren
läßt auf die Aussage: psychotisch ist, was ich nicht
mehr verstehe, waren Emil Kraepelin, der die "psychischen Krankheiten"
klassifizierte und Eugen Bleuler, der Erfinder der "Schizophrenie".
Kraepelin, für den der Wahnsinnige "ein innerer Feind" und
"gewaltiger Gegner" war, wie Bleuler, der 1936 dazu riet, "objektiv
'lebensunwertes Leben' anderer zu vernichten", bereiteten mit
dem Gros ihrer Kollegen den Boden für "Euthanasie" und Holocaust.
Und gerade an diesem Fundament der Psychiatrie bauen nun begeistert
und vom Wunsch nach psychiatrischer Professionalität beseelt
diejenigen Psycho-Frauen mit, die die Aufnahme der neuen Krankheit
MPS im Diagnostischen und Statistischen Handbuch der Geisteskrankheiten
(DSM) feiern wie einen feministischen Sieg. "Am Anfang steht natürlich
die richtige Diagnose", schreibt Michaela Huber, die bekannteste
deutsche Therapeutin der Multiplen. Und weil jede Diagnose ihren
Sinn erst in der scharfen Abgrenzung gewinnt, trennt sie sauber
"Abgestumpftheit, leerer Blick, Gedankenverzerrung" der "Schizophrenen"
von der MPS, die eben keine Geisteskrankheit sei, "sondern das
Ergebnis ganz besonders gut ausgeprägter dissoziativer Fähigkeiten".
So wird mit dem gutgemeinten Versuch, die Multiplen vor der Psychiatrie
zu bewahren, gleichzeitig unterstellt, daß die Frauen, die
eine andere psychiatrische Diagnose haben, dort hingehören.
Wir können jetzt warten, bis feministische Therapeutinnen
irgendwann auch all die anderen psychiatrisierten Frauen entdecken,
sie umdefinieren und für therapiewürdig erklären.
Wir können auch auf die Realisierung der feministischen Psychiatrie
warten. Dort gibt es dann Diagnosen und Neuroleptika von Frau
zu Frau und verschlossene Türen nur zum Schutz vor mißhandelnden
Männern. In der Frauen-für-Frauen-Psychiatrie kann schon
der Gedanke an Unterdrückung, Zwang, Bevormundung nicht mehr
gedacht werden, denn der Feind sitzt da, wo die Vögel zwitschern
und das Leben sich abspielt: vor der Tür. Drinnen sind wir
sicher, denn wir sind doch alle Frauen.
Wenn wir aber nicht warten wollen, weder auf diesen besonderen
Horror noch auf die Entdeckung weiterer Frauenkrankheiten, sollten
wir eine feministische Antipsychiatrie anvisieren. Getragen von
kritischen Betroffenen, den wahren Expertinnen in Sachen Psychiatrie,
und von der Überzeugung, daß es zuständige Institutionen
für Lebenskrisen nicht gibt, am wenigsten die Psychiatrie.
Feminismus ist kein geschützter Begriff. Es gilt ihn zu füllen.
Nicht mit Diagnosen, sondern mit dem Verzicht auf sie. Mit Information
und Aufklärung über psychiatrische Praktiken und Schutzmöglichkeiten
(z.B. ein "Psychiatrisches Testament"). Mit der Zusicherung, keine
Frau der Psychiatrie zu überantworten. Mit öffentlichen
antipsychiatrischen Stellungnahmen.
Auch wenn der "Weg des Als-ob" das eine denken, das andere
sagen bequemer ist. Diesen Königinnenweg durch die
Institutionen stellte in Bielefeld eine etablierte Therapeutin
stolz vor. Sie finde es zwar wichtig, daß es die Antipsychiatrie
gebe, ziehe es aber vor, zum Ziel zu kommen. Zu welchem Ziel?
© 1995 by Kerstin Kempker. Alle Rechte vorbehalten
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