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in: Psychosoziale Umschau (BRD), 10. Jg. (1995), Nr. 1, S. 26-27

Kerstin Kempker

Rezension zu
Michaela Huber: "Multiple Persönlichkeiten – Überlebende extremer Gewalt. Ein Handbuch"

Endlich gibt es sie, die neue Diagnose im unwirtlichen Niemandsland zwischen Psychiatrie und feministischer Psychotherapie:

"Eine Multiple ist eine Frau, die sich als kleines Mädchen aufgrund der (sexuellen) Mißhandlung in mehrere 'Personen' aufgespalten hat, die später nacheinander die Kontrolle über ihr Denken, Fühlen und Verhalten übernehmen und sich als eigenständige 'Ichs' fühlen."

Michaela Huber, Psychotherapeutin, hat das erste deutschsprachige Buch über "Multiple Persönlichkeiten – Überlebende extremer Gewalt" geschrieben, "ein Therapie-Handbuch". Von Geschichte und gesellschaftlichen Hintergründen über Statistik, Diagnostik und Prognosen bis hin zur Therapie erklärt sie uns alles:

"Seit den frühesten Höhlenzeichnungen gibt es die Grundformen multipler Persönlichkeit." Auch viele verbrannte "Hexen" des Mittelalters waren vermutlich "in Wirklichkeit multiple Persönlichkeiten". "Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS, K.K.) ist eine schwere psychische Störung, die unbedingt behandelt werden muß." "Eine Psychotherapie mit einer Multiplen dauert auf jeden Fall mehrere hundert Therapiestunden; realistisch sind vier bis acht Jahre", "etwa 1% (der Bevölkerung, K.K.) könnte eine Multiple Persönlichkeitsstörung haben." "Nein, Multiple sind nicht verrückt."

Huber weiß, was "in Wahrheit" und "in Wirklichkeit" wahr ist. Sie nimmt uns an die Hand und führt uns unter wiederholten Beschwörungen ("Halten Sie durch!" 4x; "Geben Sie nicht auf!" 5x) durch gefährliches Terrain: Satanische Folterrituale ("Das haben Hunderte, wenn nicht Tausende von Kindern hierzulande ebenfalls erlebt"); Programmierungen durch Tätergruppen und Deprogrammierungen in der Therapie ("Auslösereiz neutralisieren", "teilweise Amnesie schaffen", "Programm-Vernichtungs-Ritual"). Sie warnt, lobt und bittet uns, lullt uns ein in fast hypnotisierenden Wiederholungsschleifen und bedient so eine auch unter kritischen Geistern verbreitete Erwartung: das Unverständliche verstehen und benennen zu können, das Böse zu erkennen und zu wissen, was auf der Seite des Guten zu tun ist.

Was macht dieses Taschenbuch, das alle Zutaten eines Verkaufsschlagers aufweist (sex and crime, Feminismus, Erfahrungsberichte, Bilder, das Grauen pur und seine Bekämpfung), bei aller therapeutischen Nutzbarkeit (200 Seiten Therapie) letztlich doch so ärgerlich und auch gefährlich?

Einmal ist es die ständige Vereinnahmung durch die Autorin. Warum betreibt sie Massentherapie mit Tips an alle, statt sich auf Fakten zu beschränken? Ebenso unangenehm war mir die Fraglosigkeit, mit der Huber ihre Meinungen als letzte Weisheiten verkauft. Gibt es denn keine gravierenden Probleme bei der Therapie so schwer traumatisierter Frauen? Wie geht sie mit der ungeheuren Macht um, die sie deprogrammierend und hypnotisierend ausübt? Kein Wort zu Manipulation, Abhängigkeit (auch finanziell), Isolation in der Therapie.

Mit Zahlen hantiert sie recht sorglos. Sind jetzt "40% aller Schizophrenen", "aller als 'schizophren' diagnostizierten Psychiatrie-Patienten" oder aller "als 'schizophren' diagnostizierten KlientInnen in Wirklichkeit multipel"? 40% scheint eine magische Zahl zu sein, denn irgendwann sind plötzlich nicht mehr 40% der "Schizophrenen" multipel, sondern 40% der Multiplen als 'schizophren' fehldiagnostiziert.

Warum Michaela Huber die Diagnose MPS nicht nur als Kröte schluckt, sondern deren Aufnahme in die internationale Diagnostik-Bibel DSM-III im Jahre 1980 als Erfolg wertet, wird begreiflicher, wenn sie von Psychiatern, Gutachtern, Klinikchefs und anderen Autoritäten spricht. Denn

"wenn jemand in einer so mächtigen Position sagt: 'Alles Quatsch, die Klientin macht Ihnen was vor' (...) – dann sagen Sie mal etwas dagegen! Dann müssen Sie schon mit einer sauberen Diagnose kommen, die Sie möglichst mit anerkannten diagnostischen Instrumenten (etwa Fragebogen) gewonnen haben."

MPS läßt sich also eindeutig diagnostizieren, es gibt sogar "verläßliche Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen 'echten' und 'falschen' Multiplen", z.B. sind bei den "echten" schon – je nach "Person" – unterschiedliche EEGs, Stoffwechsel, Augenfarben oder Schuhgrößen gemessen bzw. gesichtet worden.

Die scharfe Grenzziehung zwischen MPS und "Schizophrenie" ist Huber ein besonderes Anliegen, sie bittet dringend darum, eine "verhängnisvolle Fehldiagnose" zu verhindern. Denn "multiple Persönlichkeiten gehören in der Regel nicht in die Psychiatrie." Wer aber gehört hinein? "Schizophrene" Persönlichkeiten? Wo beginnt, wo endet die Persönlichkeit? "Schizophren" heißt für Huber u.a.:

"Unverständliches vor sich hin brabbeln (...); im sozialen Kontakt völlig unzugänglich sein (mit Multiplen kann man sich 'ganz normal' unterhalten)".
"Multiple Persönlichkeiten aber haben keine Wahnvorstellungen. Die Stimmen in ihrem Innern erzählen die Wahrheit. Auch wenn es oft einander widersprechende Wahrheiten sind. Es sind die Wahrheiten, die die 'Innenpersonen' kennen. (...) Das ist jedoch etwas völlig anderes als Wahnvorstellungen, wie wir sie von 'echten Schizophrenen' kennen, die sich von UFOs aus dem All verfolgt fühlen oder einen Tiger auf dem Balkon wähnen. Nein, Multiple sind nicht verrückt."

Nein, sie geht noch weiter:

"Es häufen sich inzwischen die Hinweise darauf, daß Schizophrenie eher eine organische Erkrankung des Gehirns darstellt."

Und welche organischen Ursachen hat der Zeitgeist oder die Homosexualität? Um die folgenden Unglaublichkeiten nicht ganz in den eigenen Mund zu nehmen, zitiert Huber den Psychiater Colin Ross, "einen der Pioniere der modernen MPS-Forschung": "Schizophrenie hieß zunächst dementia praecox (vorzeitige Verblödung, K.K.), bis Bleuler den Begriff Schizophrenie einführte. 'Dementia praecox' ist tatsächlich eine bessere Bezeichnung als 'Schizophrenie' für diese Gruppe von Störungen; während 'Schizophrenie' eine bessere Bezeichnung für MPS darstellt."

Während die Verrückten also unheilbar krank zum Anstaltsleben verdammt sind, kann den "fehldiagnostizierten" Multiplen noch Hilfe zuteil werden. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Diese neue (?) Art von Auslese wird auch den Multiplen letztlich nichts nützen, denn schon fordern Michaela Huber und Anne Jürgens, die Autorin des Klinik-Kapitels, für Multiple "vor allem: Klinikplätze zur Krisenintervention und Langzeittherapie; am besten eigene Stationen in psychosomatischen bzw. psychiatrischen Kliniken". "Medikamente sind gezielt einsetzbar." Gezielt heißt hier "Personen"-bezogen. Es ist gar nicht auszudenken, welche Haupt- und Nebenwirkungen solche Medikamenten-Cocktails im gemeinsamen Körper einer multiplen Persönlichkeit auslösen.

Rückwärts in Siebenmeilenstiefeln. Der erste Schritt ist getan: "Feministische" Therapeutinnen gehen in die Anstalten, fegen die Nur-"Schizophrenen" auf die Endstationen und zeigen ihren Kollegen und Vorgesetzten, daß sie psychiatrische Diagnostik beherrschen und ernstzunehmen sind.

Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995. DM 19,90


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