Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 407-410
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha,
Uta
Wehde
Theodor
Itten
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
1972, warmer Sommer, beflügelt sehnsüchtiges
Leben in Bern. Aufgescheucht in meiner Keuschheit psychoanalytischen
und psychiatrischen Begebenheiten gegenüber, gelockt durch
die wahnsinnigen Versprechen in Freuds Buch »Das Unbewusste«
wage ich, bei einem Psychoanalytiker in der Altstadt anzuklopfen.
Das Unbehagen mit der Situation, die ich dort vorfinde, feuert
meine Flucht an.
1972, Weihnachten. Lese ganz wild das Buch eines Schweizer Psychiaters
und Psychologen: »Träume, Erinnerungen und Gedanken«.
Nach dreimonatigem Aufenthalt in London entdecke ich in der Fremde
das Leben und Werk von C.G. Jung. Aha... Wahnsinn macht Sinn.
Träume sind nicht Schäume der Nacht, sondern können
gedeutet werden. Sehnsucht und seelische Leiden sind nicht nur
individuell erlebbar, sondern auch schöpferischer Ausdruck
der gekränkten 'Anima mundi' Weltseele. Ich bin begeistert
von der Möglichkeit des Dabeiseins in einer Gruppe, geleitet
von Vera von der Heydt, welche Jung noch kannte. Die Hälfte
der Gruppe sind BewohnerInnen der Kommune Womersley Road 1. Jung
und Vera werden das psychologische Ein und Alles.
Sensibel, wie frisch dem keuschen Leben Entkommene sind, wage
ich den Weg in eine Encountergruppe (Selbsterfahrungsgruppe)
für Laien, geleitet von einem Carl-Rogers-Schüler.
Nach drei langen Tagen schwimme ich ziemlich gut im Seelenschwamm.
Die Sehnsucht wird durch eine Romanze erlöst.
Das Bedürfnis nach Geschriebenem befriedige ich einstweilen
mit dem Kauf von Charles Rycrofts Buch: »A Critical Dictionary
of Psychoanalysis« (»Kritisches Wörterbuch
der Psychoanalyse«). Das Wort »kritisch« bewegt
mich zum Kauf. Kritischer Psychiater und Psychoanalytiker, das
imponiert mir. Was ich damals, im Sommer 1973, noch nicht weiss:
Ronald D. Laing war von 1957 bis 1961 Rycrofts Klient, um die
notwendige Selbsterfahrung in der Ausbildung zum Psychoanalytiker
zu erlangen.
Beflügelt von meinen Jungianischen Erlebnissen, suche ich
einen Studienort in England für das Jahr 1974. In der Richmond
Fellowship, einer Organisation gemeindenaher Übergangswohnheime
für seelisch gekränkte Menschen, bekomme ich die Chance
dabeizusein. Nach ein paar Monaten Mittun in dieser mir neuen
Welt von erlebtem Irresein an und in der Gesellschaft mache ich
mich auf die Pirsch nach Texten, welche mir meine frischen Erfahrungen
in einen sinnvollen Wortteppich weben helfen.
»Psychiatrie und Anti-Psychiatrie«, geschrieben von
David Cooper, liegt ganz vorne auf einem Auslagetisch der Buchhandlung
Foyles, stapelweise in der Taschenbuchausgabe. Dem »Anti«
im Titel kann ich nicht widerstehen, kaufe es sofort. Wieder ist
es Sommer. Im Hydepark lege ich mich ins Gras und lese, stundenlang.
Zum ersten Mal höre ich von antipsychiatrischen Experimenten
Coopers Projekt 'Villa 21' in der Abteilung einer Psychiatrischen
Anstalt in London. Da wird das starre Arzt-Patienten-Verhältnis
aufgehoben. Cooper schildert, wie das Projekt scheitert, weil
innerhalb der institutionell vorgegebenen Machtstrukturen einer
Psychiatrischen Anstalt kulturell und sozial gewachsenes Rollenverhalten
nicht abzuschaffen ist, wie dies für eine therapeutische
Begegnung Voraussetzung wäre. Diese Erfahrung führt
Cooper zur Ablehnung der institutionellen Psychiatrie. Als Arzt
und existentialistisch orientierter Therapeut gründet er
im April 1965 zusammen mit seinen Kollegen Laing und Aaron Esterson
die gemeinnützige Philadelphia Association. Drei Monate später
bezieht diese Gruppe das Gemeindezentrum Kingsley Hall im Londoner
Osten.
Nun bin ich nicht mehr zu halten. Ende August 1974 laufe ich
weg von den Therapeutischen Wohngemeinschaften, hin zu einem Studium
der Sozialwissenschaften (Sozialpsychologie, Menschenkunde, Philosophie
der Psychologie). Am Middlesex Polytechnic Enfield College sind
die Thesen der englischen Antipsychiater, wie Cooper, Laing und
Esterson mittlerweile genannt werden, bei den SozialwissenschaftlerInnen
wichtige und selbstverständliche Bestandteile der Lehre.
Es gibt Vorträge zu Laings Psychologie und zu seinen Forschungen
über die Familie und zwischenmenschliche Wahrnehmung sowie
zu Coopers sozialpolitischen Argumenten gegen die konventionelle
Psychiatrie; die Schriften von Cooper und Laing gelten als Pflichtlektüre.
Die Antipsychiatrie-Bewegung ist eingebettet in den Kontext der
Kritischen und Unzufriedenen, welche die Gesellschaftsordnung
infrage stellen. Die Gegenkultur ist im College erlebbar, sind
doch die meisten unserer DozentInnen von Erfahrungen mit dieser
Gegenkultur bereichert worden.
1975, als ich das erste Mal in einem Vortrag von Laing sitze,
bemerke ich die Einfachheit des Zugangs zu menschlichem Kummer
in der Philadelphia Association. Durch die universitäre Forschung
in den späten 50er und den frühen 60er Jahren hatten
die Antipsychiater das Schizophrenie-Konzept der Psychiatrie hinterfragt
und die verrücktmachenden Kommunikationsformen in normalen
Familien verstehen gelernt, was dazu führte, dass sie die
durch das Arztstudium an sich vorprogrammierte Realitätsblindheit
überwinden konnten.
Nun, 1976, bietet sich mir die Möglichkeit, innerhalb der
Philadelphia Association tätig zu werden. In der Archway
Community, der Nachfolge-Organisation von Kingsley Hall, bewerbe
ich mich um einen Wohnraum in dieser Lebensgemeinschaft. Während
meiner neun Monate dort vertieft sich meine Erfahrung, wachsen
die darauf aufbauenden theoretischen Überlegungen. Und durch
den Besuch des allgemeinen Studienprogramms der Philadelphia Association,
das Vorträge über Anthropologie, Philosophie, Psychiatrie,
Theater usw. einschliesst, sowie durch das Miterleben von Netzwerktreffen
kultiviere ich nun eine Lebensweise, die ich als nachpsychiatrisch
bezeichne. In den Lebensgemeinschaften sind wir es, die entscheiden,
wen wir sehen wollen, wann und wie wir uns eine therapeutische
Begleitung wünschen. Wir kommen und gehen, wann wir wollen.
Unser Ort ist eine Freistätte, vernetzt mit sieben anderen
Gemeinschaften in London.
Nach Abschluss meines Studiums im Sommer 1978 verbringe ich die
meiste Zeit im Netzwerk, als 'Lehrling der Heilkunst'. Ich besuche
Ausbildungsgruppen, Seminare und Wohngemeinschaften und verbringe
meine Zeit mit Laing und dem Sozialanthropologen Francis Huxley,
um direkt von ihnen zu lernen. Es ist ein anderer Bezugsrahmen
als üblich: eine würdige und menschenachtende Begegnung
mit dem Menschen, der uns aufsucht, um sich in unserer gemeinsamen
Gegenwart in einer Krise dem oft schmerzvollen Wandel des Lebens
unversehrt und geborgen hingeben zu können.
Um die Alternativen, die aus der Antipsychiatrie-Bewegung entstanden
sind, im Gedanken- und Erfahrungsaustausch zu vereinen, findet
1981 in Leuven/Belgien der Kongress »Strategie von de Kleinschaligheid:
Theorie & Praktijk van de Av-Antipsychiatrie« (»Strategie
der kleinen Schritte: Theorie und Praxis der Av-Antipsychiatrie«)
statt. Aus der Antipsychiatrie-Bewegung sind einige Gruppierungen
und Einzelpersonen aus England, Italien, Frankreich, Belgien,
Deutschland, der Schweiz, den USA und den Niederlanden beteiligt.
In der Abschlussresolution vom 25. September 1981 fordern wir
u.a.: Abschaffung aller Orte des Ausschlusses und der Absonderung,
Schliessung aller Psychiatrischen Anstalten, Beendigung jedweder
repressiver psychiatischer Praxis, Unterstützung alternativer
Experimente, Vermeidung des Aufkeimens überholter psychiatrischer
Strukturen in neuen Initiativen usw. usf.. Mein Glück, bei
diesem Treffen der Antipsychiatrie, der Nicht-mehr-Psychiatrie-Bewegten,
dabei gewesen zu sein.
Die Begegnungen mit organisierten Betroffenen, dem Cliëntenbond,
den Selbsthilfegruppen und den alternativen therapeutischen Initiativen
aus einigen Teilen Europas und den USA haben mich bestärkt,
in meiner jetzigen Tätigkeit als Psychotherapeut anti- und
nichtpsychiatrisch, 'nachpsychiatrisch' tätig zu sein. Insbesondere
achte ich darauf, im therapeutischen Verhältnis das Selbstbestimmungsrecht
und die Würde der Betroffenen zu respektieren. Daneben nutzen
wir unsere psychotherapeutische Praxis Anteros in St. Gallen als
öffentliches Forum, auf dem Psychiatrie-kritische Personen,
egal ob therapeutisch Tätige oder Betroffene, die Gelegenheit
haben, über ihre Arbeit und Erfahrungen zu berichten.
Über
den Autor
Geboren 1952 in Langenthal/Schweiz. 1972 bis 1981 London. Studium
der Psychologie, Sozialwissenschaften und Philosophie. 1975 bis
1981 psychotherapeutische Ausbildung in der Philadelphia Association
London bei Ronald D. Laing und dem Anthropologen Francis Huxley.
Graduiertes Mitglied der British Psychological Society. Mitglied
des Schweizer PsychotherapeutInnen-Verbands. Seit 1981 tätig in
der Psychologischen Gemeinschaftspraxis Anteros, St. Gallen. Teilzeit-Hausmann
und Vater von 3 Söhnen. (Stand: 1993) Mehr zu Theodor
Itten
© 1993 by Theodor Itten