abgedruckt in: Susanne Spieker: "Bedarf oder Bedürfnis?! Alternative (zur) Psychiatrie". Berlin: Antipsychiatrieverlag, vollständig überarbeitete Neuausgabe 2004, S. 171 – 174


Grußbotschaft der Ehrenvorsitzenden Dorothea Buck zur Jahrestagung des BPE, 10. bis 12. Oktober 2003 in Kassel

Liebe Mitstreiterinnen und liebe Mitstreiter für eine gewaltfreie und hilfreiche Psychiatrie!

Dass erst bei diesem 11.Jahrestreffen unseres Bundesverbandes die »Gewalt und Möglichkeiten der Gewaltminderung in der Psychiatrie« das Thema ist, kennzeichnet die traumatischen Erfahrungen, die kommunale und kirchliche Psychiatrien für viele von uns beinhalten. Man rührt lieber nicht daran, um nicht von Schmerz und Empörung über die dort erfahrene menschliche Abwertung überwältigt zu werden. Das geht mir noch heute so als über 86-jähriger nach 67 Jahren der menschenverachtendsten Erfahrungen meines Lebens in der ersten geschlossenen Station in der damals hochangesehenen von Bodelschwinghschen Anstalt in Bethel bei Bielefeld 1936. Dagegen ist eine schwere Kriegsverschüttung 1944 längst verblasst. Eine Bombe stellt den Wert des getroffenen Menschen nicht so in Frage, wie es die damalige völlige gesprächslose und heute immer noch gesprächsarme Psychiatrie tut.

Unter dem großen Jesuswort an der Wand »Kommet her zu mir, alle, die Ihr mühselig und beladen seid. Ich will Euch erquicken« wurden wir Durchgangs- und die Dauerpatientinnen ohne ein einziges Gespräch der Ärzte und der beiden Hauspfarrer, die nur Bibelworte an unseren Betten zitierten, und ohne eine Beschäftigung zur untätigen Verkümmerung gezwungen. Psychopharmaka gab es noch nicht, aber die rigorosen Zwangssterilisationen gegen uns als »Minderwertige«. Auch sie wurden hier ohne eine einziges ärztliches Gespräch – weder vorher noch nachher – durchgeführt. Wie hätten wir Bethels zynisches Missverständnis des Jesuswortes an der Wand als »geistige Gesundheit« erkennen können, zu der wir hier gebracht werden sollten? Damals schwor ich mir, lieber »geisteskrank« zu bleiben, als mir jemals die uns hier vorgelebte unmenschliche »Vernunft« zu eigen zu machen, die die selbstverständliche Hilfe durch Gespräche und Beschäftigung durch quälende »Beruhigungsmaßnahmen« ersetzte. Es war wohl die Kraft aus meinem Widerstand gegen eine solche ohne ein Gespräch dilettantische Psychiatrie, die mir die Hoffnung gab, dass wir die Psychiatrie verändern können.

Vor 14 Jahren begannen wir damit in unserem ersten Hamburger Psychose- Seminar durch den gleichberechtigten Erfahrungsaustausch zwischen den Profis, den Angehörigen und uns Psychose- und Depressionserfahrenen, den TRIALOG. Da aber Psychiater kommunaler und kirchlicher Psychiatrien und Theologen als ihre Arbeitgeber in Psychiatrien der Diakonie und der Caritas kaum dran teilnehmen, stellt sich die Frage, wie wir sie erreichen können, wie wir weiter vorgehen. Denn eine Psychiatrie, die die Erfahrungen und Bedürfnisse der PatientInnen zu wenig berücksichtigt, kann nicht hilfreich sein.

Gerade ist im Psychiatrie-Verlag unter dem Titel »Vom Glück – Wege aus psychischen Krisen« die von Sibylle Prinz herausgegebene Sammlung von 26 Erfahrungsberichten erschienen. Die stationäre Psychiatrie wurde als Hilfe nur von Vieren der 26 sychiatrieerfahrenen erwähnt. 15 erlebten eine Psychotherapie, die ihnen half. Während niemand mehr in die stationäre Psychiatrie möchte, wurden Tageskliniken und Tagesstätten wegen ihrer Gespräche und kreativen Angebote als echte Hilfe erlebt. Als besonders hilfreich wurde von vielen die Selbsthilfe in der Gruppe, die Mitarbeit im BPE, die Teilnahme an einem Psychose-Seminar oder einfach »Gespräche mit Menschen, die mich ernst nehmen« genannt.

Im nächsten Jahr werden die Ergebnisse unseres BPE- Forschungsprojektes »Psychoseerfahrene erforschen sich selbst« als Taschenbuch erscheinen. 44 Teilnehmende beantworteten dazu die 35 von einem psychoseerfahrenen Hamburger Diplom-Psychologen formulierten Fragen. Die ebenfalls psychoseerfahrene Hamburger Diplom-Psychologin Christiane Wiedstruck wertet diese 44 mal beantworteten 35 Fragen neben ihrer Arbeit in einem Behindertenheim noch fertig aus.

26 Erfahrungsberichte und 44 Teilnehmende an unserem BPE- Forschungsprojekt mir ihren 35 beantworteten Fragen ergeben zusammen 70 psychiatriebetroffene Menschen mit ihrer durch nichts zu übertreffenden Kompetenz des eigenen Erlebens. Um die entmutigende nur defizitäre psychiatrische Sichtweise zu verändern, werden diese 70 dennoch nicht genügen. Wie dringend notwendig aber eine als Hilfe erfahrene Psychiatrie ist, zeigt das Beispiel unserer Kabarettistin Annette Wilhelm in der jetzigen PSU, die hier in Kassel ausliegt.

»Ich landete in einer psychiatrischen Klinik und wurde mit Medikamenten vollgepumpt, bis ich überhaupt nicht mehr ich selbst war! Anschließend wurde mir verkündet, ich könne nie wieder im Leben Theater spielen! Doch ich gab nicht auf!«

Ich kenne kaum psychiatrieerfahrene Menschen, die ihre Heilung mit der Psychiatrie gewannen, sonder erst im Widerstand gegen das psychiatrische Somatosen-Dogma und ihre Unheilbarkeitsprognosen. Das kann nicht so bleiben. Dazu haben zu viele Zwangssterilisierte und »Euthanasie« – Opfer dieses Dogma der unheilbaren Somatose mit ihrem Leben und ihrem Stempel als »lebenslang Minderwertige« bezahlen müssen.

Der Skandal der damals und heute dominierenden biologistischen Psychiatrie liegt darin, dass sie unsere Erfahrungen unserer seelisch verursachten Psychosen nicht gelten lässt. Dabei kann sie durch nichts beweisen, dass die durch bildgebende Verfahren sichtbar zu machende Hirnstoffwechselstörung die Ursache der Psychosen und nicht die Folge oder Begleiterscheinung vorausgegangener Lebenskrisen ist. Magengeschwüre dürfen seelisch verursacht sein, seelische Erkrankungen nach biologistisch-psychiatrischer Bestimmung offensichtlich nicht.

So sehr mich Dieter Kellers unzutreffende Verunglimpfung des Vorstands im »Lautsprecher« ärgert, und dass er ausgerechnet Klaus Laupichler eine Falschaussage unterstellt, mit dessen Protest er wohl am wenigsten gerechnet hat, sollten wir diesen unproduktiven Streit doch in eine produktive Aktion umwandeln. Denn wir können die Psychiatrie nun mal nicht abschaffen. Für so viele Weglaufhäuser anstelle der Psychiatrien hätten wir gar keine Mitarbeiter.

Ich schlage Euch vor, dass wir im nächsten Jahr vor einem geeigneten Gericht gegen das Somatosen Dogma der biologistischen Psychiatrie als Ursache der Psychosen mit seinen Folgen der Zwangsmedikation , der Unheilbarkeitsprognosen, der lebenslangen Medikamenteneinnahme wie bei der Diabetes, der vorenthaltenen Hilfe zu Heilung etc. klagen. Das wir gleichzeitig eine Pressemitteilung an die dpa geben etwa mit der Titelzeile: »Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. klagt gegen die von der Psychopharmaka-Industrie gesponserte biologistische Psychiatrie wegen vorenthaltener Hilfe zu Heilung« etc. Und dass wir Ernst Klee bitten, zur gleichen zeit den Fernsehanstalten seine Filme zu den Verbrechen der biologistischen Psychiatrie von 1933-1945 anzubieten.

Im nächsten BPE-Rundbrief solltet Ihr schon mal Fragen an die BPE- Mitglieder zur Beantwortung formulieren. Z.B.:

Hältst du deine Psychose für seelisch verursacht durch (emotionalen) Stress, seelische Konflikte oder andere Lebenskrisen? Ja – Nein Wenn ja, erkennst du Zusammenhänge zwischen deinen vorausgegangenen Lebenskrisen und deinen Psychoseinhalten? Ja – Nein Die Fragen solltet ihr gemeinsam zum Ankreuzen formulieren.

In der neuen, hier in Kassel ausliegenden PSU (Psychosoziale Umschau 4/2003 findet ihr den eigenen Psychoseerfahrungsbericht des kanadischen praktizierenden und lehrenden Psychiaters Dr. Helmut Mohelsky. Er schickte ihn mir 1994 nach dem XIV. Weltkongress mit der sozialen Psychiatrie »Abschied von Babylon – Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie«

Ein Jahrestreffen mit gegenseitiger Toleranz und Freundlichkeit Wünscht Euch Eure alte
Dorothea Buck