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Peter Lehmann

Humanistische Antipsychiatrie – Texte aus 45 Jahren

Einführung

Seit fast einem halben Jahrhundert verfasse ich antipsychiatrische Texte. Neben Büchern sind das Artikel, Buchbeiträge, Rezensionen, Interviews, Nachrufe, Onlinetexte. Komprimiert zusammengestellt geben diese Texte einen breiten Überblick über meine Fragen in all den Jahren: Wie kann man Menschen in psychischer Not vor psychiatrischer Gewalt schützen und sie bestmöglich unterstützen? Wie können sie sich selbst helfen?

Eine Auswahl dieser verstreuten Texte habe ich neu zusammengestellt, und zwar in zwei Teilen. Im ersten gebe ich Texte wieder, in denen meine Person im Mittelpunkt steht. Im zweiten geht es um die humanistische Antipsychiatrie: die Kritik der psychiatrischen Diagnostik, den Kampf um die Gleichheit Psychiatriebetroffener und Psychiater vor dem Recht, Risiken und Schäden von Elektroschocks und psychiatrischen Psychopharmaka sowie um angemessene Hilfen.

Textpassagen, die mehrmals vorkommen oder die ich inzwischen für uninteressant halte, habe ich gelöscht. Nur wo die Entfernung einer wiederholten Passage sinnentstellend wäre, habe ich auf eine Streichung verzichtet. Was mir als schwer verständlich erscheint, erläutere ich in Anmerkungen.

Die Übersetzungen aus dem Englischen und die in Klammern kursiv gesetzten Erklärungen in Zitaten stammen von mir.

Am Ende des Buchs finden Sie ein Register, in dem ich die genannten Psychopharmakawirkstoffe und die derzeit (Mai 2025) in Deutschland, Österreich und der Schweiz (plus Liechtenstein) aktuellen Markennamen aufgelistet habe.

Gelegentlich stellte ich in meinen Publikationen Organisationen betont positiv oder negativ dar. Dies muss heute nicht gleichermaßen gelten, die Welt ist im Wandel, was auch für Organisationen sowie Einzelpersonen im psychosozialen Bereich zutrifft, zweifelsfrei auch für mich. Stillstand bedeutet häufig genug Rückschritt.

Teil 1: Biographisch orientierte Texte

In den vorliegenden Artikeln finden Sie einen Überblick über meine Lebensdaten (»Ein Ereignis mit Folgen«), mein Verrücktwerden, zu dem mich unter anderem Tina Stöckle für ihre Diplomarbeit (Stöckle 1982) befragte (»Interview mit Peter L.«), und die Entgegnung der Psychiatrie auf meinen emotionalen Ausnahmezustand (»Das Seelenheil des Patienten gebietet Schweigen«).

Für mich spielen die Verabreichung von Psychopharmaka und deren Auswirkungen bei der Einschätzung psychiatrischer Praxis eine zentrale Rolle. Autorinnen und Autoren, die sich mit kritischem Anspruch mit psychiatrischer Behandlung auseinandersetzen, schlagen in aller Regel einen großen Bogen um dieses Thema. Man muss sich trauen und die Zeit nehmen, sich in medizinische und pharmakologische Gegebenheiten einzuarbeiten; davor schrecken die meisten zurück. Wie Neuroleptika, eine auch als ›Antipsychotika‹ bezeichnete Substanzgruppe von Psychopharmaka, bei mir gewirkt haben und wie ich mich von ihnen befreit habe, geht aus den beiden Artikeln »Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?« (1) und »Rückfall ins Leben« hervor.

Nach meiner Erholung von der psychiatrischen Behandlung führte ich eine Klage um das Recht auf Einsicht in die eigene – anfangs von mir noch ›Krankenakte‹ genannte – Psychiatrieakte (»Zombies in der Psychiatrie«). Diese Musterklage um das Recht auf informelle Selbstbestimmung wurde zum Ausgangspunkt meiner Gründungen und Mitgründungen antipsychiatrischer Gruppen und Organisationen (»Die Betroffenen das erste Mal unter sich«).

Es folgt ein Artikel über meine individuelle nicht-psychiatrische Krisenbewältigung (»Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?« [2]). Als mir die Gefahr einer erneuten Psychiatrisierung klar wurde und nachdem meine Selbsthilfeorganisation gemeinsam mit dem Berliner Rechtsanwalt Hubertus Rolshoven das Psychiatrische Testament entwickelt hatte, entwarf ich für mich eine Psychosoziale Patientenverfügung (»Mein Psychiatrisches Testament«).

An diese Artikel schließen sich zwei Texte an, die sich mit meinen humanistisch-antipsychiatrischen Aktivitäten befassen (»Visionen zur Psychiatrie«, »Danksagung anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde«). Es folgen zwei Würdigungen meiner Aktivitäten: »Glückwunsch, Herr Doktor Lehmann!« von Asmus Finzen und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch den deutschen Bundespräsidenten (»Und noch das Bundesverdienstkreuz«).

Den Abschnitt über meine Person und Geschichte setzen eine Reflexion über die »Geschichte und Bedeutung des Antipsychiatrieverlags« und das Interview »Die moralische Unterstützung als fortwährende Energiespende« fort.

In einer abschließenden Rückschau gebe ich Antworten auf Fragen, was sich meiner Meinung nach im psychosozialen System seit 1979, dem Beginn meiner Aktivitäten, zum Positiven oder Negativen geändert hat und wie sich diese Änderungen auf meine Sichtweise, Texte und Aktivitäten ausgewirkt haben.

Teil 2: Praxisorientierte Texte

Vor Langem bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die psychiatrische Realität kurz gesagt so aussieht: Ärztlich Tätige verabreichen ständig mehr Psychopharmaka.1 Psychiaterverbände kreieren immer neue Indikationen für Psychopharmakaverordnungen. Oder sie verändern Diagnosekriterien in der Weise, dass Psychopharmaka noch früher verordnet werden. Oder sie veranlassen Gesetzesänderungen, die ihnen noch mehr zwangsweise Verabreichungen von Psychopharmaka ermöglichen. Immer mehr Kinder erhalten Psychopharmaka, um sie chemisch in eine kinderfeindliche Umwelt einzupassen. Man verordnet immer mehr Frauen Psychopharmaka, um ihre störenden Reaktionen auf patriarchalisch-bevormundende Lebensverhältnisse chemisch zu neutralisieren. Immer mehr Menschen, die mit Gesetzen in Konflikt geraten sind, erhalten Psychopharmaka, um sie in Gefängnissen ruhigzuhalten. Und immer mehr unbequeme alte Menschen werden pharmakologisch ruhiggestellt. Wirken die Psychopharmaka nicht mehr wie gewünscht, kommen Elektroschockapparate zum Einsatz.

Ich gehöre zu dem Personenkreis, der diese Realität nicht widerspruchslos hinnehmen kann und will. Mir ging und geht es um die Durchsetzung von Menschenrechten und eine humanistisch orientierte Unterstützung der Betroffenen, also um Menschen, denen aus allen möglichen Gründen psychiatrische Psychopharmaka und/oder Elektroschocks verabreicht bzw. psychiatrische Diagnosen gestellt werden. Dabei fallen in meinen Publikationen unter den häufig verwendeten Begriff ›Psychiatriebetroffene‹ im Prinzip auch diejenigen Patientinnen und Patienten, die außerhalb des psychiatrischen Bereichs psychiatrische Psychopharmaka erhalten.

Besonderes Augenmerk lege ich auf die Risiken und Schäden von Psychopharmaka und Elektroschocks. Diese Themen stehen nach wie vor im Zentrum meiner Arbeit. Was Erderwärmung, ökologischer Raubbau an den Ressourcen unseres Planeten, Artensterben, Vermüllung der Meere, Ausbreitung der Mikroplastik in Luft, Wasser und Boden für die Gesellschaft darstellen, hat seine Entsprechung in der zunehmenden Medikalisierung störender und unbequemer Sinnes- und Lebensweisen: Synthetische psychotrope Substanzen breiten sich epidemieartige im psychosozialen Bereich aus. Ihre Abbauprodukte lagern sich zum Teil im menschlichen Körper ab oder, sofern sie ausgeschieden werden, in der Umwelt, beispielsweise in Gewässern. Und die Frühsterblichkeit psychopharmakologisch Behandelter ist hoch. Richtungsweisend forderte Karl Bach Jensen (1998, S. 343f.), Mitbegründer und ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen (ENUSP), schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert eine Entgiftung im Großen wie im Kleinen, das heißt, nicht nur in der Umwelt, im Wohnbereich und in der Ernährung, sondern auch in der Medizin.

Zur Abgrenzung von einer akademischen oder dogmatischen Psychiatriekritik, die die Perspektiven von Betroffenen und die Schäden durch die psychopharmakologische Behandlung ausblendet und die patriarchalisch geprägt ist, nenne ich meine inhaltliche Ausrichtung ›humanistische Antipsychiatrie‹. Sie ist Thema des ersten Abschnitts in diesem zweiten Buchteil. Den Begriff ›Antipsychiatrie‹ übernahm ich von dem Psychiater David Cooper. Dass dieser Begriff schon ab 1909 im Zusammenhang mit der Irrenrechtsbewegung im Deutschen Kaiserreich verwendet wurde (Brückner 2022), wusste ich anfangs nicht. Coopers Definition von Schizophrenie in seinem Buch »Psychiatrie und Antipsychiatrie« sprach mich an:

»Schizophrenie ist eine ›mikro-soziale‹* Krisensituation, in der die Handlungen und das Erleben einer bestimmten Person durch andere aus verständlichen kulturellen und mikrokulturellen (gewöhnlich familialen) Gründen zunichte gemacht werden, bis ein Punkt erreicht ist, an dem der Mensch als in irgendeiner Weise ›geisteskrank‹ erwählt und identifiziert und schließlich (mittels einer spezifizierbaren, aber höchst willkürlichen Abstempelung) in der Rolle eines ›schizophrenen Patienten‹ von medizinischen oder quasimedizinischen Gremien bestätigt wird.« (1971, S. 14. *Fußnote von David Cooper: »Die Bezeichnung mikro-sozial bezieht sich auf eine begrenzte Anzahl von Personen, deren Interaktion Auge in Auge abläuft – Personen, die einander ansehen oder angesehen werden.«)

Nach meinem Verständnis verstellt die psychiatrische Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen in der Gesellschaft; dies ist Thema des zweiten Abschnitts. Im Folgenden konkretisiere ich diese Aussage. Die Psychiatrie als medizinisch-naturwissenschaftliche Disziplin kann dem Anspruch, psychische Probleme überwiegend sozialer Natur lösen zu können, nicht gerecht werden. Dass ihre Gewaltbereitschaft und -anwendung eine allgegenwärtige Bedrohung darstellt, ist Thema des dritten Abschnitts. Eine Kritik der Psychiatrie, die sich auf ihren Anspruch auf die Deutungshoheit psychosozialer Probleme, auf ihre Diagnostik und ihre Gewaltbereitschaft beschränkt, greift allerdings zu kurz. Ebenso wichtig sind die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und Problemen und ihre rechtliche Gleichstellung mit anderen Bürgern. Ein gewichtiges Anliegen hierbei ist die Forderung der Gleichheit vor dem Recht auch für psychiatrisch Tätige, insbesondere vor dem Strafrecht.

Im Mittelpunkt des vierten Abschnitts stehen die zu einer erheblich verkürzten Lebenserwartung führenden schädlichen ›Nebenwirkungen‹ von Antidepressiva und Neuroleptika. Zu diesen Wirkungen gehören die von der Schulpsychiatrie – man könnte auch Mainstreampsychiatrie sagen – geleugnete, sich mit zunehmender Verabreichungszeit entwickelnde körperliche Abhängigkeit und die tabuisierte suizidale Eigenwirkung speziell von Neuroleptika.

Weitere Grundpfeiler der humanistischen Antipsychiatrie sind

  • die Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka (Abschnitt 5),

  • die Ächtung des Elektroschocks (Abschnitt 6),

  • menschenrechtsbasierte und wirksame Hilfen für Menschen in psychosozialer Not (Abschnitt 7),

  • die Organisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen (Abschnitt 8),

  • neue Formen des Lebens mit Verrücktheit und Andersartigkeit sowie das Einstehen für Toleranz, Respekt und Wertschätzung von Vielfalt (Abschnitt 9).

Wie eingangs gesagt, geht es mir um die Durchsetzung von Menschenrechten und eine humanistisch orientierte Unterstützung der Betroffenen. Dies stellt mein Lebensprojekt dar. Gleichsam als Resümee (Abschnitt 10) schließe ich diese Textauswahl mit dem Artikel »Aktuelle Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie« ab: Menschenrechtsverletzungen in der Schulpsychiatrie sind weltweit an der Tagesordnung. Kompetente nicht-psychopharmakologische und menschenrechtsorientierte Hilfen in akuten psychischen Notlagen und bei der Reduktion und dem Absetzen von Psychopharmaka wären zwar möglich, werden aber nicht angeboten. Die informelle Gewalt der Psychiatrie wird bisher sowohl gesellschaftlich als auch von den psychiatriepolitischen Akteurinnen und Akteuren – Reformpsychiatrie und Betroffenenbewegung inklusive – nahezu widerspruchslos akzeptiert. Zur Schadensvermeidung empfiehlt es sich dringend, rechtzeitig eine Psychosoziale Patientenverfügung zu erstellen. Was in einer solche Vorausverfügung enthalten sein soll, ist im Abschnitt »Die Gleichheit Psychiatriebetroffener und Psychiater vor dem Recht« erläutert.

Fußnote

(1) Als Psychopharmaka im weiteren Sinne gelten alle Substanzen, die den Aktivitätszustand des Zentralnervensystems und damit psychische Prozesse beeinflussen (Schönhofer & Schwabe 1984, S. 220). Mit Psychopharmaka im engeren Sinn meint man diejenigen psychotropen, das heißt die Psyche beeinflussenden Substanzen, die mehr oder weniger gezielt eingesetzt werden, um über die primäre körperliche Wirkung psychische Veränderungen herbeizuführen. Werden Psychopharmaka mit medizinisch-psychiatrischen Überlegungen eingesetzt, nennt man sie psychiatrische Psychopharmaka. Um diese Substanzen geht es in meinen Publikationen, wenn ich den Begriff ›Psychopharmaka‹ verwende.

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