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in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie (Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993), S. 123-130

Urs Ruckstuhl

Kopf Bauch Psychoboom (1)

Seit den 60er-Jahren breiten sich neue Psychotherapieformen und gruppendynamische Verfahren inflationär aus.

Den Kern der 'Psychoszene', die so entstanden ist, bilden zum einen die Therapieformen der – die Selbstverwirklichung betonenden – Humanistischen Psychologie, die sich als dritte Kraft neben Psychoanalyse und Verhaltenstherapie durchgesetzt hat, und zum anderen das Therapiearsenal der – mit 'höheren' Bewusstseinszuständen arbeitenden – Transpersonalen Psychologie, die sich ihrerseits als Weiterentwicklung der Humanistischen Psychologie versteht und als vierte Kraft einzurichten sucht. Die Humanistische Psychologie betont keine strenge Trennung von Wissenschaft, Therapie und Weltanschauung. Offenheit, Echtheit, Streben nach Selbstverwirklichung und Sehnsucht nach Spiritualität sind zentrale Werte und Ziele, um die die Humanistische Psychologie kreist. Damit einher geht die Geringschätzung materieller Werte, was allerdings sonderbar anmutet, tanzen doch vor allem Angehörige der wohlhabenden Mittelschicht um das goldene Kalb der Psychoszene.

Die humanistischen Therapien sind in der Regel Abkömmlinge aus der Psychoanalyse: gestrafft oder gestreckt, von theoretischem Ballast befreit, mit der Aura grosser Heilsversprechen verziert und feierlich begangen in erleuchtet-guruhaftem Gehabe. Die ursprünglich als Gegengift gegen Entfremdung und Fremdbestimmung gedachte Aufwertung des Selbst, die Suche nach Identität und die Belebung der Selbstverantwortung haben sich zunehmend in eine Selbstvergötzung verwandelt, in eine Art freies Psychounternehmertum, das nach eigenen sozialdarwinistischen Gesetzen dahintreibt. Ausgeprägt sind das 'Spiel mit falschen Alternativen' (Kopf-Bauch, Trieb-Ganzheitlichkeit, Reden-Körper), der neue Bewusstseinskult (Gestalt), die Stilisierung der Sprache (Psychogebabbel) und Geschichtslosigkeit (»Hier und Jetzt«). Innerhalb der humanistischen Therapiewelt machen sich zwei Strömungen bemerkbar. Zum einen zählen sich Schulen und TherapeutInnen dazu, die ihren therapeutischen Zugang durchaus nicht zum einzig gangbaren Weg erklären, ihre Praxis theoretisch hinterfragen und eine gewisse methodische Überprüfung zulassen. Dazu gehört etwa die Bioenergetikerin, die die Arbeit am Körper gesprächsweise in eine tiefenpsychologische Nachbearbeitung einbettet und auch Übertragungserscheinungen zwischen TherapeutIn und KlientIn mit bedenkt. Zum anderen verzweigen sich die einzelnen Psychoschulen immer mehr und fliessen an ihren Rändern nahtlos mit Mystik, Schamanismus, Spiritualismus, Esoterik, New Age, Religion und Sektenwesen zusammen.

Es wäre jedoch falsch, den Psychoboom mit dem Wildwuchs der Humanistischen und Transpersonalen Psychologie gleichzusetzen. So boomen mit geographischen Unterschieden und örtlichen Schwerpunkten auch klassische Verfahren (die Psychoanalyse in Zürich und einigen Ballungszentren Deutschlands), die – auf Beziehungssysteme gerichteten – systemischen Therapien (Familien-, Ehe- und Paartherapie) und in Deutschland auch die Verhaltenstherapie. Eine grosse Breitenwirkung entwickeln psychoreligiöse (und mit Kapital- und Machtanhäufung einhergehende) Bewegungen wie die Bhagwan- oder Scientology-Sekten sowie örtlich begrenzte Psychogattungen (wie z.B. die Zürcher Schule von Friedrich Liebling).

Die Gleichsetzung jeder Subjektivität mit Psychologie sowie die Kurzschliessung eines jeden Eingriffs ins Subjektive mit Psychotherapie, eine Folge der Theoriefeindlichkeit im Psychoboom, leiten eine begriffliche und handwerkliche Entgrenzung ohnegleichen ein, die das Feld freigibt, sowohl für die Übervermehrung der Therapieformen als auch für neue Formen der Gleichmacherei des Subjektiven. Schon durch die beliebige Verknüpfung einzelner Elemente ist künftig mit einer gegen unendlich neigenden Zahl von Therapieformen zu rechnen. Das Vorgehen bei einer therapeutischen Neuschöpfung ist stets ein ähnliches. Einzelne Gesichtspunkte werden nachgeahmt und neu zusammengestellt, miteinander verschmolzen, in eine massgeschneiderte Allerweltsphilosophie gebettet, durch etwas Erleuchtung veredelt und als neue, allein seligmachende Therapieform ausgerufen. Der Reichtum des Psychobooms entpuppt sich als seine Armut.

Psychoboom-Modelle

In den hochorganisierten westlich-kapitalistischen Industriegesellschaften ist ein fortschreitender Zerfall überlieferter Werte und sozialer Normen zu verzeichnen; Sinn- und Identitätskrisen breiten sich rapide aus, begleitet von einem umfassenden Verlust existentieller Sicherheit und geistiger Güter. Die alten Formen der Kontrolle im Bereich technischer wie sozialer Systeme greifen nicht mehr, ja schlagen immer häufiger ins Gegenteil um. Wo religiöser und sozialer Halt, wo überhaupt »Sinn antiquiert« (Günther Anders) ist, setzt die Suche nach neuen Lebensfornen und Sinnprothesen ein. Es sind die Empfindsameren jeder Generation, die sich aufmachen und ans Werk gehen. Aber auch die Emanzipation ist eine zwiespältige Erfahrung, die Befreiung aus Zwängen fordert ihren Preis. Freiheit bedeutet Aufwand, Schmerz; zwischen die Übergänge, die die Suchenden durchschreiten, zwischen die Fugen zweier Welten drängen sich Kälte und Einsamkeit. Alle weltanschaulichen Ersatzteile und ideologischen Verstrebungen, vorgesehen als Brückenköpfe zu etwas Neuem, scheinen auf einmal morsch geworden, die Sinn- und Existenzleere klafft noch bedrohlicher. Hier, an diesem gefährlichen Punkt, zeichnet sich oft die Wende ab. Selbsterhaltungsmodelle aus der Vergangenheit gewinnen die Oberhand.

Der Psychoboom spricht zweifelsohne wesentliche, in unerer Gesellschaft mit Füssen getretene menschliche Bedürfnisse an. In ihm äussert sich ein grundlegendes soziopsychisches Krisenpotential, Ausdruck einer allgemeinen Überforderung, gesellschaftliche Widersprüche mittels der hergebrachten Bewältigungsmuster noch zu verarbeiten. In diesen Bedürfnissen wird aber auch, positiv interpretiert, ein explosiver kulturkritischer Zündstoff deutlich. Und hier verrät sich der beschämende Zustand der Kritik am Psychoboom, die sich oft im reinen Verhöhnen erschöpft. Hohn aber war noch nie eine Position von innerer Stärke und Selbstbewusstsein.

Das spirituell ausgetrocknete, sozial befriedete, künstlerisch verwahrloste und ökologisch heimatlose Subjekt sucht fluchtartig die Gegenpole auf, verkehrt die Vorzeichen, sucht seine andere Hälfte, schliesst sich einer verzweifelt optimistischen Streitmacht an und drängt ohne Wenn und Aber nach dem Heilen im Hier und Jetzt. Ich unterscheide im folgenden vier Ausgangsmodelle, die der Suche nach neuen alten Bewältigungs- und Sinngebungsformen im Psychoboom eine bestimmte Richtung und Struktur geben. Alle vier Modelle stellen gegenkulturelle Versuche dar, zerstörte Lebenszusammenhänge wiederzubeleben, wiederzubeseelen oder wieder in religiöse Bräuche einzubinden. Sie überschneiden sich erheblich und enthalten einander in Teilen.

Modell 'Zurück in die Vergangenheit'

Die perfekte Inszenierung der Langeweile, der Ekel vor der fürsorglichen Belagerung, der schleichende soziale Tod fördern dramatische Fluchttendenzen nach rückwärts (Steinzeitkurse, schamanistische Praktiken) und nach vorne (Kurse in Überlebenstechnik, Extremkletterei, neue Typen von ExtremindividualistInnen, SelbsthelferInnen, WaldgängerInnen). Zum festen Bestand des Nostalgiemodells gehören neben diesen pfadfinderhaften, nach rückwärts gewandten Wochenendbeschäftigungen vor allem die Weisheiten, die religiösen und heilkundlichen Praktiken früherer Kulturen (Schamanismus), nah- und mittelöstlicher Kulturen, mittelalterlicher Kultur und Gegenkultur (Astrologie, Kabbala, Alchemie, Magie).

Modell Kulturgutklau

Im Vordergrund steht bei diesem Modell der Austausch zwischen den Kulturen. Völker mit entwickelten spirituellen Systemen werden zur Ader gelassen, noch bestehende Primitivkulturen angezapft, die letzten Schamanen, Magier und Medizinmänner eingeflogen, spirituell geschröpft und dem Psychoszene-Kuddelmuddel einverleibt. Nichts gegen überlegte, respektvolle und von einem ehrbaren Erkenntnisinteresse geleitete Annäherung an die geistigen Schätze fremder Kulturen. Dazu müssten die Psycho- und Ethnonomaden jedoch jahrelang mit Einheimischen zusammenleben, sich den Lebenswiderständen und Widersprüchen aussetzen, die diese spirituellen und kulturellen Bestände hervorgebracht haben. Was wir aber beobachten: einen einzigartigen Kulturgüterklau, einen marktschreierischen Run auf die kulturelle Essenz fremder Länder (indianische Rituale und Drogen, schamanistische Heilkünste, buddhistische Meditationstechniken, Tao, I Ging, tantrische und sufische Ekstasetechniken usw.), ein Niedertrampeln der kulturellen Vielfalt durch die euroamerikanische Kulturwalze, die Psychokonzerne, Reisswölfe, die die einzigartigen Besonderheiten jahrtausendealter Zivilisationen zu einem seichten New-Age-Brei verwursteln.

Modell Wiederbelebung

Der westliche Mensch hat sich der Natur, seiner selbst und solidarischer Gemeinschaftlichkeit so weit entfremdet, dass selbst grundlegendste körperliche, psychische und soziale Funktionen Alarm schlagen und in Ausstand treten. Da stockt der Atem ob der Hektik unserer Zeit. Wir gehen in die Atemtherapie. Vor lauter Künstlichkeit der Nahrung bedarf es der Riech- und Aromatherapie. Der Körper ist zur infrastrukturellen Dienstleistung, zum Lustautomaten, zur sportlichen Hochleistungsmaschine und zur Konsumverarbeitungsfabrik verkommen, pharmaverseucht, eine Mülldeponie. Kein Wunder, wenn er – trotz Bioenergetik, Rolfing, Bodymassage, Psychoskiing – zurückschlägt mit Zivilisationskrankheiten, Krebs und der heimtückischen Abwehrschwäche. Weisheit oder Rache des Körpers?

Die Therapieformen des Psychobooms, die sich als kritische Antwort auf das entfremdete Leben verstehen, beanspruchen für sich, den gespaltenen Verstandesmenschen in seiner Gänze auferstehen zu lassen, die Körper-Seele-Einheit wiederherzustellen (integrative Therapie), Unbewältigtes zu einer Gestalt zu Ende zu bringen (Gestalttherapie), den Menschen von frühesten psychischen Wunden zu befreien (Primärtherapie), ihm zur Wiedergeburt, ja selbst zu einem früheren Leben zu verhelfen (Reinkarnationstherapie). Die Wahrnehmung ist uns sowieso längst abhanden gekommen (Sensory Awareness), das Fühlen wird zur Kunst (Feeling-Therapie), die Trauer vermögen wir, da wir zaudernd zwischen Gehen und Bleiben verharren, nicht einzuholen (Trauertherapie). Nicht einmal zu sterben wissen wir, da der Tod aus dem Leben genommen und der Abschied von den Toten zum schäbigen rituellen Stummel verkommen ist (Thanatotherapie). Das Wiederbelebungsmodell verweist auf ein Unternehmen der Genesung in einer unheilen Welt. Der Mensch ist versehrt und also therapiefällig. Es gibt keine körperliche, seelische oder soziale Funktion, keinen Lebensbereich, der nicht sanierungsbedürftig ist. Die Schwäche dieses Modells liegt auf der Hand. Es ist bruchstückhaft und aufgebläht, wo es ganzheitlich und dicht zu sein vorgibt. Es ist Flickwerk, buckelt und verschanzt sich, wo es vorgibt, kulturelle Schranken zu überwinden. Es versucht, über die Verunstaltung einzelner körperlicher und seelischer Bereiche Ganzheitlichkeit einzuleiten, zeigt so zwar Lücken und Mängel auf, totalisiert aber das Zerstückelte und Entzweite, indem es in technischer Beliebigkeit ans Defekte gebunden bleibt. Organe werden krampfhaft wiederbelebt, während das Ganze seine Seele aushaucht.

Modell Jenseits

Das kosmisch-transzendente oder auch transpersonale Modell bedient sich uralter, mittelalterlicher, fremd- und gegenkultureller Anschauungen und Praktiken: schamanistische Heilsverfahren, esoterische Lehren, Musik, Ekstasetechniken, fernöstliche Spititualität usw.. Sein besonderes Interesse gilt Bewusstseinszuständen, in denen das Identitätsgefühl über die normalen Ichgrenzen hinausweist, das Selbst aufgelöst wird, ja jegliche Individualität in einem universalen Einssein erlischt. Diese veränderten Bewusstseinszustände werden durch eine Vielzahl von Techniken herbeigeführt. Ein Motiv für die Hinwendung vieler Menschen zu westlicher und östlicher Esoterik ist sicher ein stoisches, d.h. von der Philosophie des Stoizismus bestimmtes Streben nach Gelassenheit und Affektfreiheit, wie ja auch das Ziel aller buddhistischen Anstrengungen die Überwindung des Leidens ist. An der Existenz mystischer, ekstatischer oder »ozeanischer« (Sigmund Freud) Bedürfnisse ist nicht zu zweifeln.

Aber wie könnte eine künstliche spirituelle Schnellstwiederbelebung den Schmerz, die Übersättigung, die Aushöhlung der menschheitsgeschichtlichen Substanz wegzaubern? Die Aneignung übernatürlicher Inhalte ereignet sich in beispielloser Oberflächlichkeit. Ein Blick auf das Erscheinungsbild der New-Age-Szene schreckt ab durch flatterhafte Hektik, glitzerndes Vielerlei und abstossendes Marketing. Der Selbstwiderruf der Transpersonalen Psychologie und New-Age-Bewegung ist vielfältig. Eine Lehre ist zunächst an ihrem Selbstanspruch zu messen. Sinnhaftes Wissen, wie es die Esoterik anzueignen versucht, ist verschlossen, es offenbart sich immer nur dem einzelnen Menschen als Wahrheit und meidet jede Öffentlichkeit. Esoterisches Wissen ist Ergebnis eigener Erfahrung, weder übertragbar noch verwertbar. Die Erkenntnis stellt sich ein, wenn ein gewisser Bewusstseinsstand erreicht ist. Was wir aber erleben, ist eine grenzenlose Vermarktung des Spirituellen und eine gewaltig ins Werk gesetzte Vermassung esoterischer Disziplinen, reine Exoterik.

Nun zur Kritik von aussen. Statt sein Selbst wie der buddhistische Mönch nach jahrelanger Askese und spiritueller Vertiefung preiszugeben oder besser zu relativieren, flieht der transhumane Mensch vor der inneren Leere und Kraftlosigkeit in eine das Ganze mit geistigen Wesen belebende Erfahrungswelt, sucht die regressive Auflösung seiner Ichgrenzen, die ihm so drastisch seine Ohnmacht vor Augen führen.

Mit New Age, d.h. mit seiner vereinnahmenden Form, erklimmt die freie Marktwirtschaft eine neue Stufe. Ein Ausweg aus der Verknappung materieller Rohstoffe liegt darin, sich der Erschliessung geistiger Märkte zuzuwenden. Die Förderung frühzeitlicher und mittelalterlicher Vorkommen sowie die Kulturguteinfuhr aus Ländern der 'Dritten Welt' haben schon eingesetzt. Die Seele als Rohstoff mit unbegrenztem Schürfrecht!

Transpersonale Psychologie und New Age verstehen sich als gegenkulturelles Erklärungsmuster. Statt aber der westlichen Kultur abgespaltene Kräfte, Werte und Seinsweisen zurückzugeben und eine ganzheitliche Kultur anzubahnen, werden die technisch-wissenschaftlichen, materialistischen Kräfte, die unser Leben jetzt einseitig beherrschen, ihrerseits wieder ausgegrenzt. Aber auch andere menschliche Bereiche wie etwa das Animalische sind aus dem Zukunftsbild des Menschen ausgeblendet. Gerade durch die Blindheit der Transpersonalen Psychologie und New Age gesellschaftlichen Zwängen gegenüber, durch die Verleugnung der sozioökonomischen Eigendynamik, durch ihren Rückfall in einen groben philosophischen Idealismus, der sogar in der Atombombe 'nur' einen symbolischen Ausdruck einer verdorbenen Geisteshaltung sieht, werden sie ein Opfer jener Mächte, gegen die sie angetreten sind.

Emanzipative Psychotherapie

Statt Selbstorganisation zur Wiedergewinnung gemeinschaftlicher Handlungsfähigkeit bieten Psychokultur und New Age geschlossene Weltbilder und neue Hörigkeiten an. Emanzipative Psychotherapie aber könnte sich, eingebunden in Umwelt-, Friedens-, Aussteiger- und andere Bewegungen, in einem Prozess, der wachsendes soziales, ökologisches und psychisches Krisenbewusstsein ausdrückt, als Geburtshelferin zur Gewinnung neuer Lebensperspektiven bewähren. Die Lecks im Sozialisationsgefüge bieten die Chance, anstelle unbrauchbar gewordener Förmlichkeiten, hinfälliger Tabus, unbewusster sozialer Zwänge neue, durchdachte regelsetzende Gleichgewichte auszuhandeln und einzurichten, eingefahrene Zusammenhänge zu unterwandern, die Grundlagen krisenerzeugender Strukturen aufzudecken, gefangene schöpferische Kräfte und Sehnsüchte zu befreien und fortschrittliche Formen der Identitätsbildung und einer neuen Ordnung zu entwickeln.

Im Erfahrungsschatz der Psychotherapie verdichtet sich viel fruchtbares Wissen, das auf die eine oder andere Seite hin bearbeitet werden kann. Die Psychotherapie erledigt aber allzuoft das Geschäft der herrschenden, nach rückwärts gewandten oder abwehrenden Bewältigungsmodelle oder steht im Dienst der Befreiung und kulturkritischen Betrachtung. Das therapeutische Modell wird da selbst schief, wo es zusehends Herrschaftsfunktionen ausübt, unerträgliche Zustände übertüncht, die der Illusion bedürfen, über alle anderen Veränderungsmodelle (kulturelle, politische, religiös-spirituelle) triumphiert. Es wirkt da antitherapeutisch, wo ein heikles Gleichgewicht durch ein starres, die Ordnung wiederherstellendes Lösungsmuster aufgefangen wird, die Ursachen für die Vormachtstellung des Modells selbst unsichtbar gemacht werden und die Aufwertung der Subjektivität durch die Einseitigkeit und Monopolstellung des Therapiemodells wieder entwertet wird. Dann beteiligt es sich ebenso wie andere sozialstaatliche und reformistische Reparaturmodelle an der Verschleierung und Verteidigung lebensfeindlicher Verhältnisse.

Als ein Modell unter anderen aber hat das therapeutische Modell seine Berechtigung und wird sich behaupten. Denn menschenunwürdige Zustände und die Unfähigkeit, diese politisch zu verändern, ergeben noch keine glaubwürdige Erklärung für Gleichgültigkeit, zynische Enthaltung und demagogische Ausbeutung akuten Leidens. Viele KritikerInnen, auch solche, die nicht nur mit Geringschätzung und Abwehr auf den Psychoboom reagieren, predigen öffentlich das Wasser politischen Kampfes und therapeutischer Enthaltsamkeit und trinken heimlich den Wein des Psychobooms. Dieser Widerspruch wäre es wert, von ehrlichen KritikerInnen selbst zum Gegenstand der Kritik erhoben zu werden. Die Gefahren des Therapiemodells zu erkennen und Abgrenzungen vorzunehmen ist das eine, zuzugestehen, dass persönliches Leiden mitunter gross und Psychotherapie, zumal glaubwürdigere Alternativen – von organisierter Selbsthilfe mit ihren spezifischen Möglichkeiten abgesehen – ausser Sichtweite sind, ein attraktives Modell der Konfliktbearbeitung bleibt, das andere. Suchen wir allerdings therapeutische Modelle, die mehr verheissen als die Umwandlung von neurotischem Elend in durchschnittliches, wirft dies ein Licht auf uns selbst zurück.

Emanzipative Psychotherapie ist weder voraussetzungslos noch traditionsfrei, sie bewahrt sich aber eine kritische Grundhaltung und bietet, als befragende Instanz, grundsätzlich keine Lebensvorschläge. Sie schaut sich selbst ins Gesicht und untersucht auch die Abhängigkeits- und Machtverhältnisse innerhalb der Therapie. Psychotherapie wird nur solange emanzipativ sein, als sie sich nicht am Triumph des therapeutischen Modells beteiligt, sondern die Vielfalt fortschrittlicher Konflikt- und Veränderungsmodelle verteidigt. Sie setzt sich mit dem Spannungsfeld persönlicher Wünsche und kultureller Werte auseinander, das sich als »Widerspruch im Subjekt« (Paul Parin) niederschlägt. Genau an dieser Schnittstelle kann emanzipative Psychotherapie fruchtbare Verbindungen mit politischen, sozialen und kulturellen Veränderungsmodellen eingehen.

Anmerkung der Herausgeber

(1) Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Artikels, der original erschien unter dem Titel »Psychoboom und Imitation. Formen, Modelle, Funktionen« in: Jörg Huber / Martin Heller / Hans Ulrich Reck (Hg.): »Imitationen. Nachahmung und Modell: Von der Lust am Falschen«, Basel: Stroemfeld Verlag und Frankfurt am Main: Verlag Roter Stern 1989, S. 32-44 Pfeil


Über den Autor

Psychologe und Hausmann in Zürich. Arbeitet zur Zeit bei der schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana, die sich zum Ziel gesetzt hat, die rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Menschen mit psychischen Schwierigkeiten zu verbessern. Sozial- und gesellschaftspolitische Interessen. In seiner Arbeit steht deshalb der Versuch, die Tendenz der Gesellschaft, Menschen in Krisen oder mit Handicaps an den Rand zu drängen, zu verstehen und ihr zu widerstehen, im Vordergrund. Publiziert regelmässig in politischen und Fachzeitschriften. Versteht sich weder als psychiatrisch noch als antipsychiatrisch Tätiger und versucht immer wieder, von der Fixierung auf die medizinisch-psychiatrische Monokultur, aber auch von der Trennungslinie Psychiatrie-Antipsychiatrie wegzulocken und die Energie auf ein Begreifen, Unterstützen und Begleiten von Menschen mit Krisen und 'Kränkungen' jenseits von Psychiatrie und Antipsychiatrie zu konzentrieren. Zur Zeit mehr als oft ein verzweifelter Versuch mit kärglichem Ergebnis. (Stand: 1993)


© 1993 by Urs Ruckstuhl