Referat bei der Veranstaltung "Krisenpension
Ein Modell der integrierten Versorgung", Berlin, Rathaus
Schöneberg, 13. Februar 2008 |
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Peter
Lehmann
Erfahrungen mit der Krisenherberge in Ithaca, New York
State
Ich möchte – stark verkürzt – die Ergebnisse einer betroffenendefinierten
Alternative zur stationären Psychiatrie, das Crisis Hostel (Krisenherberge),
wiedergeben, über die Jeanne Dumont und Kristine Jones einen Beitrag
für das 2007 erschienene Buch „Statt Psychiatrie 2“ verfasst haben.
Jeanne Dumont ist eine promovierte psychiatriebetroffene Forscherin,
die das nationale Forschungsprojekt leitete; sie hat beträchtliche
Erfahrung in der Erstellung rechnergestützter Wissenslandkarten
für Theoriebildung, Programmplanung und Evaluation. Die promovierte
Ökonomin Kristine Jones arbeitet im Bereich Statistik und Dienstleistungserforschung
am Nathan-Kline-Institut in Orangeburg, New York State; sie forschte
über den Einfluss von traumatischen Erfahrungen Psychiatriebetroffener
auf die Behandlungskosten und von Managed Care auf die sozialen
Kosten, führte diverse Kosten-Nutzen-Analysen von spezialisierten
psychiatrischen Diensten in den USA durch und erforschte Finanzierungsmodelle
von Trägern psychiatrischer Dienste.
Hauptziel der Krisenherberge war es, einen Ort in Tompkins County
im Bundesstaat New York bereitzustellen, wohin Menschen sich zurückziehen
konnten, die einen Psychiatrieaufenthalt für nötig hielten und/oder
das Risiko einer Unterbringung fürchteten. Von 1994 bis 1996 arbeiteten
hier Menschen mit einschlägigen Erfahrungen nach ein paar einfachen
Regeln; es gab dort die Möglichkeit zum Meditieren, zur Massage
und zum Austoben. Die Planung hatte mehrere Jahre gedauert, finanziert
wurde das Projekt von der Mental Health Association (ein gemeinnütziger
psychosozialer Verein) im Tompkins County mit dem Ziel, eine selbstständige
Betroffenenorganisation aufzubauen.
Das Programm der Krisenherberge bestand aus zwei Komponenten:
zum einen dem Angebot von vorsorglicher Krisenplanung und Training
zur Krisenbewältigung, verbunden mit Unterstützung in einer Beratungsstelle;
zum anderen einer Unterkunft für Leute, die auf Grundlage eigener
Einschätzung diese benötigten, weil sie sich in Gefahr wähnten,
psychiatrisch untergebracht zu werden. Während der Planungs- und
Entwicklungsphase waren es im Wesentlichen Psychiatriebetroffene,
deren Initiative, Fachwissen, Überlegungen und Arbeitskraft das
Projekt voranbrachten. Die Art der Auswertung sollte den Nutzern
des Projekts und den Geldgebern Aufschluss darüber geben, wie
das bestehende psychiatrische Dienstleistungssystem verbessert
werden kann.
Die Krisenherberge unterschied sich von konventionellen Krisendiensten
durch die Einbeziehung von Betroffenen, das zwangfreie nichtmedizinische
Modell, die eigene Definition von Bedürfnissen und die gegenseitige
Unterstützung als Basis.
Bei der Auswertung der Resultate lagen die Daten von 265 Leuten
zugrunde, über deren Aufnahme in die Krisenherberge per Zufallsauswahl
entschieden worden war. Alle Teilnehmer an der Studie hatten Diagnosen
nach dem DSM-III R (»Diagnostisches und statistisches Handbuch
psychischer Störungen«). Sie hatten beträchtliche Klinikaufenthalte
hinter sich, die Mehrheit war vier Mal oder häufiger eingewiesen
worden, wobei der längste Aufenthalt durchschnittlich länger als
einen Monat währte.
Die Personen der Testgruppe hatten Zugang zu allen Angeboten
der Krisenherberge; dies betraf die Vorbereitung auf den Aufenthalt
in der Krisenherberge, Krisenunterstützung, längerfristige Workshops,
Beratung durch andere Betroffene, Rechtsberatung, Zugang zu einem
Raum zum Toben oder Entspannen und zur Übernachtung. Die Inanspruchnahme
dieser Angebote war freiwillig. Während der Dauer der Studie mussten
die Gäste für diese Dienste nichts bezahlen selbst kleine Gebühren
wurden von den Zuwendungsgebern nicht zugelassen). Wie die Kontrollgruppe
hatten auch die Teilnehmer der Testgruppe Zugang zu den üblichen
Diensten. Die Kontrollgruppe konnte keine Angebote der Krisenherberge
in Anspruch nehmen. Ansonsten wiesen die Mitglieder der beiden
Gruppen keine grundsätzlichen Unterschiede auf.
Die Teilnehmer wurden bei der Aufnahme in die Studie und dann
wieder nach sechs und zwölf Monaten beurteilt, und zwar hinsichtlich
Selbstermächtigung, Gesundung, Symptomen, Klinikaufnahmen und
Aufenthaltsdauer, beruflicher Situation und Zufriedenheit mit
den Dienstleistungen. Sie wurden auch zum Aufenthalt in der Krisenherberge,
in der örtlichen Klinik und in psychiatrischen Landeskrankenhäusern
und zur Inanspruchnahme von spezialisierten psychiatrischen Gemeindeeinrichtungen
befragt.
Nach sechs Monaten wies die Testgruppe bessere Gesundungsresultate
auf (p = 0.04), was sich auch nach zwölf Monaten bestätigte (p
= 0.05). [Der p-Wert sagt aus, wie groß die Wahrscheinlichkeit
ist, dass der gemessene Unterschied dem Zufall entspringt. Ist
beispielsweise p unter 0.05, dann bedeutet dies, die Wahrscheinlichkeit,
dass der gemessene Unterschied zwischen zwei Vergleichsgruppen
auf Zufall beruht, ist kleiner als 5 % – P.L.] In Hinblick auf
den Faktor Selbstermächtigung hatte die Testgruppe nach sechs
Monaten (p = 0.02) und nach zwölf Monaten (p = 0.01) höhere Werte
als die Vergleichsgruppe. Beide Gruppen berichteten, über die
gesamte Dauer der Studie gleich viele Stunden bezahlt oder ehrenamtlich
gearbeitet zu haben.
Berichte der Testgruppe überraschen wohl wenig, wonach die Krisenherberge
zeitnahere und hilfreichere Krisenhilfe geleistet habe mit sachkundigerem
Personal, das die Rechte der Betroffenen mehr respektierte als
die üblichen Krisendienste. Die Testgruppe erlebte eine stärkere
Unterstützung bei der Gesundung und Selbsthilfe als die Kontrollgruppe.
Insgesamt war in der Testgruppe die Zufriedenheit mit den Angeboten
höher als in der Kontrollgruppe (p = 0.00).
Obwohl in dem Halbjahr vor Beginn der Studie in der Testgruppe
die Rate von Klinikaufenthalten höher lag (24,7 % gegenüber 17,5
%), war sie in den ersten sechs Monaten mit 11,9 % vergleichbar
der Rate von 12,6 % in der Kontrollgruppe. Auch wenn der Unterschied
statistisch unauffällig war, sank die Rate in der Testgruppe im
zweiten 6-Monats-Intervall auf 7,7 % gegenüber einer nahezu gleichbleibenden
Rate von 13,2 % in der Kontrollgruppe.
Von den Personen mit Klinikaufenthalten verbrachte die Testgruppe
weniger Zeit in der Klinik als die Kontrollgruppe. Im Jahresdurchschnitt
lag die Aufenthaltsdauer in der Testgruppe bei 10,7 und in der
Kontrollgruppe bei 15,2 Tagen, also um fast 50 % höher. Dieser
Unterschied war statistisch nicht signifikant, aber ein Ansatz
mit wiederholten Messungen, der alle Teilnehmer berücksichtigte,
ergab einen signifikanten Unterschied in der durchschnittlichen
Aufenthaltsdauer (p = 0.02).
Zur Frage, ob ein Dienstleistungssystem mit integrierter Krisenherberge
billiger ist, zeigte ein Vergleich der Klinikkosten der zwei Gruppen
(gemessen als Aufenthalts- und Behandlungskosten in der Notaufnahme),
dass Personen mit Zugang zur Krisenherberge während der Dauer
der Studie wesentlich weniger Kosten in der Psychiatrie verursachen
(p = 0.05). Diese lagen im Durchschnitt bei $ 1057, in der Kontrollgruppe
bei $ 3187. Hier waren die Kosten für Krisendienste doppelt so
hoch wie in der Testgruppe. Selbst wenn man die Kosten für die
Krisenherberge zu den Kosten weiterer in Anspruch genommener Krisendienste
hinzuzählt, bleiben die Kosten in der Testgruppe niedriger als
in der Kontrollgruppe. Die durchschnittlichen Gesamtkosten der
Testgruppe für Krisendienste lagen bei nur $ 2018, mehr als ein
Drittel unter den durchschnittlichen Kosten der Kontrollgruppe.
Wenn man alle spezialisierten psychiatrischen Dienste – sowohl
die Krisendienste wie auch die psychiatrischen Gemeindedienste
und die Programme für betreutes Wohnen – zusammenrechnet, hatte
die Testgruppe immer noch niedrigere Behandlungskosten. Die durchschnittlichen
Kosten für diese erweiterten Arten von Dienstleistungen lagen
bei $ 9088, die der Kontrollgruppe bei $ 13919. Dies bedeutet
eine Kostenersparnis von durchschnittlich $ 4831 pro Person in
nur einem Jahr!
In fast allen Bereichen waren bei Personen, die durch Zufallsauswahl
Zugang zur Krisenherberge gewonnen hatten, die Ergebnisse besser
und die Kosten niedriger. Sie zeigten größere Fortschritte bei
der Gesundung, Selbstermächtigung und Zufriedenheit. Sofern es
überhaupt zu Ausfällen im Arbeitsleben kam, waren diese geringer.
Klinikaufenthalte waren im Schnitt seltener und kürzer. Kosten
für Krisendienste und die Gesamtkosten für psychiatrische Dienste
waren für die Testgruppe niedriger als für die Kontrollgruppe.
Fazit: Dieses mit der Krisenpension Berlin relativ vergleichbare
Projekt arbeitete preiswerter, hatte bessere Ergebnisse als die
Psychiatrie und den Betroffenen ging es anschließend besser als
normalen Psychiatriepatienten.
Quelle