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in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 51-54

Kerstin Kempker

Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?

Wo bin ich verrückt geworden, selbstzerstörerisch, stumm, schlaflos, getrieben, wie in Trance? In der Psychiatrie. Vor diesem Verrücktwerden schützt mich das Fernbleiben der Psychiatrie, das faktische und auch das stimmungsverdunkelnde der Erinnerung.

Ich bin als 17jährige in der Psychiatrie gelandet, und heute, 17 Jahre später, lasse ich mich von der Erinnerung nicht mehr verfolgen, sondern drehe den Spieß herum. Ich nehme die Fährte der drei Jahre Anstalt auf, so wie man Licht macht, um das mächtige Gespenst zu bannen. Begonnen habe ich damit zaghaft und eher theoretisch im Studium und mit der Diplomarbeit. Ich lernte in Berlin die Irren-Offensive und das KommRum kennen und wurde dann im Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt aktiv. Ohne diese gemeinsame politische Perspektive, den persönlichen Austausch und Rückhalt hätte ich die Konfrontation mit meiner Psychiatriezeit nicht gewagt.

Um funktionieren, studieren, meine Kinder versorgen zu können, hatte ich die drei Jahre nicht aus dem Gedächtnis, aber aus meinem aktuellen Leben gestrichen. In Alpträumen und Momenten der Verzweiflung und des Befremdens waren sie jedoch immer wieder aufgetaucht. Dumpf und gesichtslos, keinen konkreten Erlebnissen zuzuordnen, oft verbunden mit Atemnot und Todesangst, das pure Entsetzen. An diesem Punkt kam ich auch mit der Gesprächstherapie nicht weiter, da fehlten die Worte.

Neben dem herzlichen und wie selbstverständlichen Rückhalt durch andere Psychiatriebetroffene im Verein hat mir bei der Spurensuche entscheidend geholfen, die Akten über den schwärzesten und am wenigsten erinnerten Teil meiner Psychiatriezeit, die Mainzer Uni-Anstalt, zu lesen. Zu diesem Zweck musste ich sie letztes Jahr vor Ort stehlen.

5 Elektroschocks, wochenlang tägliche Insulinschocks (400 Einheiten i.v.), Antidepressiva-Infusionen, 14 verschiedene Neuroleptika, Tranquilizer, Antidepressiva und Barbiturate plus Kreislaufmittel plus Anti-Parkinsonmittel. Der Speiseplan am 28. März 1976, einem schockfreien Tag, sah z.B. so aus: Lyogen ret. 3 mg, Melleril ret. 2 x 30 mg, Ordinal ret. 1 Dragee, Dihydergot 3 x 20 Tr., Tavor 2,5 mg, Pertofran 75 mg, Akineton ret. 1 Dr, Luminal 3 x 1,0 Tb., Valium 2 x 10 mg, Valium 20 mg. i.m. Zusätzlich zum E-Schock vom 16. März 1976 und den dabei verabreichten Herz-, Beruhigungs- und Betäubungsmitteln (Atropin, Brevimytal, Succinylcholin) gab es neben weiteren Kreislaufmitteln 2 Neuroleptika, 2 Tranquilizer und 1 Antidepressivum. Die laut Peters (damals Anstaltsleiter, heute Chef der DGPN) »exzessiv hohe« Dosis von 400 Einheiten Alt-Insulin i.v. reicherte er noch an mit 3 mg Lyogen, 2 x 200 mg Melleril, 1 Dr Ordinal, 3 x 20 Tr. Dihydergot, 2,5 mg Tavor und 1 Luminal. Am 20. Februar 1976 brauchte er zusätzlich 10 Ampullen Traubenzucker i.v., um mich aus dem Koma zu holen.

Was war geschehen? War ich eine extrem selbst- und fremdgefährliche unheilbar Schizophrene, kataton, stuporös, hebephren, manisch, depressiv, alles gleichzeitig und zudem kurz vor dem Tod?

Ich war eine 17jährige Schülerin kurz vor dem Abitur, las Camus, Thomas Bernhard und Kafka, stand also der herrschenden Realität eher skeptisch gegenüber, schrieb Tagebuch und galt als umgängliche Eigenbrötlerin. Zuhause stritten sich die Eltern, in der Schule, einem von Nonnen geführten Mädchengymnasium, verweigerte ich schließlich die Mitarbeit, die bewertbare Leistung. Der Teufelskreis begann:

Ich wurde einer Psychiaterin vorgeführt, die mich ins Allgäu zur Jugendkur schickte. Dort lag ich mit mehreren Mädchen im engen Schlafsaal, um zehn ging das Licht aus, Rückzug gab es nicht, stattdessen Pflichtprogramm rund um die Uhr: Körperertüchtigung, Wettkämpfe, nicht einmal der Saunagang war freiwillig. Ich wünschte mir sehnlichst meine Ruhe und geistigen Austausch. Da die Betreuerinnen das nicht begriffen, gab ich einer von ihnen mein Tagebuch mit den verzweifelten Eintragungen der letzten Tage zu lesen, um so die Kur abbrechen zu können. Das klappte auch. Nur verstand der noch in der Nacht informierte Allgäuer Hausarzt mich noch viel weniger und sah sich stattdessen genötigt, einen Alarmruf an die Mainzer Psychiaterin zu schicken, die mir daraufhin – ohne mein Wissen – einen Platz in der Mainzer Uni-Klinik, Psychotherapeutische Abteilung, verschaffte. Also lag ich in einem Klinikbett, mein Tagebuch war konfisziert, und ein eingebildeter und kaltschnäuziger junger Arzt befragte mich. Man injizierte mir Insulin, um meine Gesprächsbereitschaft zu fördern. Als ich eines Morgens statt zu frühstücken lieber schlafen wollte, wurde ich gleich mit der Diagnose: »Verdacht auf progrediente (fortschreitende) psychiatrische Auffälligkeiten, die über das Ausmaß einer Pubertätskrise hinausgehen«, in die Psychiatrische Abteilung eskortiert. In dem Begleitschreiben hieß es, ich sei negativistisch und man wolle mich wegen »gewisser suizidal wirkender Impulse« (das stehengelassene Frühstück) über die Weihnachtstage loshaben, nehme mich danach aber gerne wieder auf.

Ich erwachte im Gemeinschaftsschlafsaal der Geschlossenen Frauenabteilung. Prof. Dr. Uwe Henrik Peters kam kurz herein und antwortete auf meine Frage, weshalb ich hier sei: »Das wissen Sie ja selbst. Sie sind schizophren.« Die ›Behandlung‹ begann, als Privatpatientin genoss ich eine besonders intensive. FreundInnen und Bekannte kamen nur einmal und suchten erschrocken das Weite. Fünf Monate später fand ich mich in einem aufgedunsenen, 12 kg schwereren, von Akne befallenen Körper (nicht) wieder, den ich nicht bewegen konnte, wie ich wollte, mit einer Zunge, die zu schwer zum Sprechen war, Fingern, die nicht greifen, geschweige denn schreiben konnten, einem weithin leergefegten Gedächtnis und einem Gehirn, das zur Konzentration nicht mehr taugte.

Aus dieser Haut wollte ich raus. Als ›Schizophrene‹ auf der Geschlossenen sah ich neben dem hartnäckig vorgetragenen Wunsch, ›hier weg‹ zu müssen, weil es mir doch nur schlechter gehe (eine Äußerung, die von ›meinem‹ Psychiater gerne mit weiteren Schocks beantwortet wurde), nur noch die Selbsttötung als Ausweg.

Damit hatte sich die psychiatrische Einstufung vom Beginn dieses Teufelskreises, die als suizidal ausgelegte Frühstücksverweigerung, also bewahrheitet. Ich war tatsächlich gequält, lebensüberdrüssig und -untauglich geworden. Die Mainzer Uni-Anstalt hatte mich verrückt gemacht, verrückt in diesem zerstörerischen und unproduktiven Sinn von ›mir selber fremd und im Wege‹.

Vor dieser Art des Ausrastens schützt mich die gemeinsame politische, öffentliche und persönliche Auseinandersetzung mit der Psychiatrie. Nicht ich muss mich schämen, dort gelandet zu sein. Und einen Arbeitsplatz, für den ich meinen Lebenslauf frisieren muss, oder FreundInnen, denen ich nur die Rosinen meiner Vergangenheit auftischen kann, will ich nicht.

Die andere lebendigere Verrücktheit, die überbordende, unmögliche, unvorsichtige der symbolträchtigen Handlungen und rotierenden Gefühle, bleibt eine Möglichkeit von mir, auf Unsägliches zu reagieren. Wichtig ist dabei, Zeit und Ort noch bestimmen zu können. Diese Zeitbombe, die die Ereignisse entzünden können, braucht eine lange Lunte, damit ich sie richtig plazieren kann, gefahrlos, aber wirkungsvoll. Erfahrungswerte, eigene und die anderer, können da hilfreich sein.


© 1993 by Kerstin Kempker