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In: Andreas Knuf & Ulrich Seibert (Hg.): »Selbstbefähigung fördern – Empowerment in der psychiatrischen Arbeit«, Bonn: Psychiatrieverlag 2000, S. 261-275

Peter Stastny

Strukturelle Etablierung von Empowerment-Projekten – Chancen und Grenzen am Beispiel der USA

Schnittstellen besetzen!

Seit nahezu 15 Jahren arbeite ich an einer Schnittstelle zwischen psychosozialem Dienst und Selbsthilfebewegung. Mangels eigener Erfahrungen als Psychiatriepatient war meine Stellung zwar keine leichte, aber wegen ihrer zweifachen Perspektive für mich umso interessanter. Seit meinem ersten Selbsthilfeprojekt in einer Landesnervenklinik und meiner derzeitigen Arbeit in der Verbreitung von Selbsthilfe und Empowerment in öffentlichen Ambulanzen des Bundesstaates New York hatte ich wiederholt Gelegenheit, die Entwicklung autonomer Projekte mitzuverfolgen, und die damit einhergehenden neuen Beziehungen von Profis und Betroffenen zu beobachten. Die Erfolge dieser Arbeit scheinen mir trotz aller damit zusammenhängenden Schwierigkeiten sehr wesentlich, obwohl gewissen ambitionierten Zielen durchaus Grenzen gesetzt wurden.

Unsere Projekte waren natürlich nicht nur von örtlichen Initiatoren abhängig, sondern auch von einer Reihe historischer und wirtschaftlicher Faktoren, ohne die unser Fortschritt nicht in dieser Form und diesem Ausmaß hätte stattfinden können. Zum Beispiel wäre unser erstes Selbsthilfeprojekt »Share your bounty«, eine Nahrungsmittelbank für Obdachlose in New York, ohne die Unterstützung des National Institutes of Mental Health nie zu einer selbstständigen Firma mit einem Jahresbudget von etwa 150.000 DM geworden. Ebenso wäre das »Peer Specialist«-Projekt ohne ausgiebigen Forschungsetat nicht zu dem wegweisenden Ergebnis gelangt, dass eigens ausgebildete Betreuer mit Betroffenenerfahrung spezifische Beiträge zur Besserung der Lebensqualität ihrer »Kollegen« leisten können.

Es ist allgemein bekannt, wie wichtig die Anfangsphasen sozialer Experimente sind. Die meisten Änderungsversuche scheitern am falschen Beginn. Die Arbeit in einer relativ konventionellen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt scheint a priori nicht als Übungsgebiet für Empowerment- und Selbsthilfeexperimente geeignet. Ein solcher Versuch sollte auf Grund der belastenden Anstaltsstrukturen und dem oft peinlichen geschichtlichen Hintergrund eher scheitern. Das Beispiel der »Psychiatria Democratica« Italiens hat gezeigt, dass Anstalten zwar als Startrampen für »Befreiungsbewegungen« fungieren können, aber im gleichen Zuge ihre Funktion einbüßen, um dann als ruinöse Relikte einer vergangenen Zeit dazustehen.

Andererseits gibt es vor allem in den USA einige Beispiele von Versuchen, die Entstehung von selbstverwalteten Projekten im Anstaltsbereich zu fördern. Allen voran steht das »Fairweather Lodge Modell« der frühen sechziger Jahre, in dem stationäre Langzeitpatienten gegenseitige Stützung und anstaltsunabhängiges Leben in der Gruppe erlernten (Fairweather u. a. 1969). Seit dem Fairweather-Experiment wissen wir, dass die Strukturen einer »therapeutischen Gemeinschaft« nur dann Erfolgschancen haben, wenn sich die erlernten Erfahrungen auf das reale Gemeinschaftsleben außerhalb der Anstalt übertragen lassen. Tatsächlich hat das »Fairweather Lodge«-Experiment gezeigt, dass viele Langzeitpatientinnen und -patienten durch Teilnahme an zunehmend anspruchsvolleren Gruppenerfahrungen einen hohen Grad an Unabhängigkeit erreichen können.

»Share your bounty« – Von der Anstalt zur autonomen Firma

Den ersten Schritt zur Selbsthilfe auf unserer Station im Bronx Psychiatric Center tat ein junger Mann aus Jamaika, den störte, dass in Flugzeugen und Krankenhäusern wertvolle Nahrungsmittel verschwendet werden. Sein Vorschlag, diesen Überschuss zu sammeln und an Obdachlose zu verteilen, war der Anstoß für »Share your bounty«. Diese Idee wurde zu einer Zeit an uns herangetragen, in dem wir freundschaftliche Beziehungen unter Patienten aktiv unterstützten. Dies führte zu »Living with friends«, einem Programm, mit dem Gruppen von anstaltsabhängigen Menschen in gestützte Wohngemeinschaften übersiedelten. Damals hatten wir noch kaum Erfahrungen mit Selbsthilfe und autonomen Patientenorganisationen. Es gab entweder die radikale anti-institutionelle Kritik à la Basaglia, den »schizophilen« Ansatz von Laing und Cooper oder den banalen gemeindepsychiatrischen Ansatz der Sektor-Bewegung. Von autonomen Patientengruppen war weit und breit nichts zu sehen, obwohl es sie natürlich längst gab. Nur fanden sie keinen Platz in den theoretischen oder gar den praxisbezogenen Überlegungen von Psychiatern und anderen Profis. Das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg war vielleicht die einzige international bekannte Ausnahme.

Unser Mann aus Jamaika war der erste Lichtblick in dem säuberlich geschnürten psychosozialen Netz, mit dem die Gemeindepsychiatrie Ende der siebziger Jahre operierte. Etwa fünf Jahre lang blieb das Projekt auf Sparflamme. Einige Mitarbeiter fürchteten, dass vorzeitige Aufmerksamkeit, vor allem Außenstehender, dem Projekt mehr schaden als nützen würde. So bildete sich allmählich eine Organisation innerhalb unseres klinischen Betriebs heraus, deren Uhrwerk ganz von allein tickte. Jeden Tag gegen 10 Uhr klopfte ein junger Mann namens William an das Dienstzimmer und bekam den Schlüssel zum Projektraum ausgehändigt, wo 6-8 Leute mit den Vorbereitungsarbeiten begannen. Gegen 11 Uhr waren sie fertig und eine kleinere Gruppe machte sich auf den Weg nach Manhattan, bepackt mit Rucksäcken oder Einkaufswagen, aus denen sie Brötchen, Säfte und Milch an bereits wartende Obdachlose verteilten. Dies ging einige Jahre so, bis uns bekannt wurde, dass das National Institute of Mental Health ein Forschungsprogramm zur Förderung von Selbsthilfeprojekten ausgeschrieben hatte. Schließlich wurde »Share your bounty« als eines von dreizehn Projekten ausgewählt und war darunter das einzige, das seinen Ursprung auf einer psychiatrischen Station hatte.

Ohne im Detail auf die beeindruckende, aber letztlich traurige Geschichte von »Share your bounty« einzugehen, möchte ich trotzdem unterstreichen, wie wesentlich diese Organisation für die Weiterentwicklung der Patienten und, in geringerem Maße, der Therapeuten war. Es gibt nichts Eindrucksvolleres als die Äußerungen und Tätigkeiten von Menschen, denen man bis dato kaum ein sicheres Dasein außerhalb der Anstalt zugetraut hätte. Die Wandlung von Hilfesuchenden zu Hilfeleistenden war so dramatisch, dass keinem der Profi-Zaungäste je eingefallen wäre, das Projekt zu bremsen. Komplizierter war die Frage, wie man seine Begeisterung am besten ausdrückt, ohne das Projekt zu belasten. Pragmatische Stützung war der erste Ansatz, gefolgt von einem Hände-Davonlassen mit beständiger Bereitschaft zur gemeinsamen Lösung von Problemen.

Man darf nicht vergessen, dass die Regelungen psychiatrischer Anstalten autonomen Patientenprojekten meistens Schwierigkeiten bereiten. Zum Beispiel benötigten die Mitarbeiter sehr bald ein Fahrzeug, um weit reichender und effizienter arbeiten zu können. Anstaltseigene Fahrzeuge durften damals nur von Spitalsbediensteten gefahren werden, obwohl im Prinzip nichts dagegensprach, dass qualifizierte Patienten als Fahrer zugelassen werden. Nach einigen Jahren gelang es uns tatsächlich, dies durchzusetzen. Eines Tages bemerkte unser Reha-Spezialist von der Gegenfahrbahn aus, dass der SYB-Wagen eine Panne hatte. Beinahe kehrte er um und wollte helfen, besann sich aber eines Besseren, überzeugt, dass die SYB-Leute auch mit dieser Situation zurechtkommen würden.

Zehn Jahre nach Beginn des Projektes waren die Mitglieder von »Share your bounty« gezwungen, ihre Firma aufzulösen. Weder die Stadt noch der Bundesstaat New York sahen sich im Stande, die notwendigen Fördergelder nach Auslaufen der NIMH-Unterstützung zur Verfügung zu stellen. Und die SYB-Leute weigerten sich, ihren Arbeitsbereich nach den Vorstellungen der örtlichen Behörden umzumodeln. Jeder ging seinen Weg und heute, acht Jahre später, sind nur zwei der ehemaligen 16 SYB-Leute im Selbsthilfebereich tätig.

»Peer Specialist« – Von der autonomen Firma zurück zur Anstalt

Die Auflösung von SYB, so traurig sie war, konnte den weiteren Fortschritt der Empowerment- und Selbsthilfebewegung in unserem Bereich nicht aufhalten. Mehr oder weniger gleichzeitig entwickelten sich zwei Ansätze, deren Bedeutung wir damals noch nicht abschätzen konnten: Der Einsatz von Leuten mit Psychiatrieerfahrung in der Betreuung von anderen; und die Entwicklung von autonomen Selbsthilfeprojekten außerhalb der Anstalt. Betreuung von Gleichgestellten (»peers«) war gegen Ende der achtziger Jahre zwar nicht unerhört, aber unsere Vorstellungen unterschieden sich in einem entscheidenden Punkt von den anderen Ansätzen: Wir wollten nicht beweisen, dass ehemalige Patientinnen und Patienten die Arbeit anderer Betreuer übernehmen können, indem sie zum Beispiel als »case manager« arbeiten, sondern dass sie einen besonderen Beitrag zur Gesundung (»recovery«) und Lebensqualität ihrer Kollegen leisten können. Das Besondere dieses Beitrags ergibt sich aus den speziellen Erfahrungen ihrer »Patientenkarrieren« und ist daher von Menschen ohne Psychiatrieerfahrung nicht nachvollziehbar. Aus diesem Grund erfanden wir auch den Titel »Peer Specialist«, womit Gleichstellung und Expertise zum Ausdruck kommen.

Das »Wir« hatte sich inzwischen auch geändert. Während des Wirkens von »Share Your Bounty« trafen sich Kliniker und Betroffene je nur untereinander. Gemeinsame Begegnungen waren selten. Einige Kliniker fungierten als Gesandte zum Projekt, während das andere Personal die Entwicklungen nur von weitem mitverfolgte. Das »Peer Specialist«-Projekt war von Anfang an als kollaborativ konzipiert. Das Planungsteam bestand aus zwei Dritteln Profis und einem Drittel Betroffenen. Im täglichen Ablauf gab es keine separaten Treffen und die mittlere Verwaltung des Projektes befand sich ganz in Händen von erfahrenen Betroffenen.

Zwanzig Kandidaten bewarben sich um drei Stellen. Dazu bestellten wir einen »Facilitator«, der die Supervision der Peer Specialists übernahm. Nach Anstellung folgte ein sechswöchiger Kurs, in dem die Peer Specialists sowohl mit den Arbeitsmethoden des Krankenhauses und des »Intensive Case Management«-Programms als auch mit den Prinzipien der Selbsthilfe und des »Peer Counselling« vertraut gemacht wurden. Jeder Peer Specialist betreute etwa 6-8 Nutzer des »Intensive Case Management«-Programms direkt und hatte weniger intensive Kontakte zu den meisten der restlichen 100 Klienten des jeweiligen Teams. Das ICM-Programm war für eine Betroffenengruppe vorgesehen, deren Bedarf an Dienstleistungen als besonders hoch eingeschätzt wurde. Die Arbeit der Peer Specialists bestand hauptsächlich aus »Peer Counselling«, einer Beratungsform, bei der die gemeinsamen Erfahrungen als Betroffene im Vordergrund stehen. Dazu kam noch Freizeitgestaltung, soziale Fürsprache sowie Vermittlungsdienste zwischen Nutzern und professionellen Betreuern. In einer späteren Phase gründeten die Peer Specialists einen selbstverwalteten Klub gemeinsam mit ihren Klienten. Der Vergleichsgruppe standen drei paraprofessionelle Helfer zur Verfügung, die weder Patientenerfahrung noch fachliche Ausbildung vorweisen konnten. Die Paraprofessionals leisteten hauptsächlich Hilfedienste für die ICMs, zum Beispiel als Begleiter von Klienten zu Terminen und Erledigungen.

Unsere Forschungsarbeit ergab, dass Peer Specialists im Vergleich zu Paraprofessionellen einen zusätzlichen und besonderen Beitrag zur Lebensqualität ihrer »Leute« leisteten (Felton u. a. 1995). Insbesondere berichteten die Klienten der Peer-Specialist-Gruppe nach einem Jahr über eine geringere Anzahl von Lebensproblemen und waren mit den finanziellen, rechtlichen und medizinischen Aspekten ihres Lebens zufriedener als die beiden Vergleichsgruppen (mit oder ohne zusätzlichem Betreuungspersonal). Dieses erfreuliche Ergebnis stellte sich trotz bedeutender Anfangsschwierigkeiten ein: Zwei der vier Peer Specialists mussten während des Projektes ausgewechselt werden; einer aus Überlastungsgründen, der andere, weil er eine besser bezahlte Stelle annahm. Der erste »Facilitator« konnte auf Grund einer neu diagnostizierten Krebserkrankung seine Dienstzeit nicht beenden und wurde durch eine Peer Spezialistin ersetzt.

Einige der Case-Manager zeigten offen feindselige Haltungen gegenüber den Peer Specialists, während die meisten entweder positiv reagierten oder neutral blieben. Dazu muss gesagt werden, dass wir die Peer Specialists aus wissenschaftlichen Gründen den ICMs willkürlich zuteilten, was nicht gerade für das beste Arbeitsklima sorgte. Der Selbsthilfeklub hielt sich in beschränktem Rahmen, letztlich bestehend aus zweiwöchentlichen, freizeitorientierten Zusammenkünften. Der große Erfolg lag primär in dem persönlichen Einsatz der Peer Specialists und der relativ besseren Lebensqualität ihrer Klienten laut unserer Vergleichsuntersuchung.

Mit diesem Ergebnis gelang es uns, den Titel »Peer Specialist« im öffentlichen Dienst des Bundesstaates New York einzuführen. Heute, fünf Jahre nach Ende des Forschungsprojektes, sind sehr viele Personen – ein winziger Bruchteil der Beschäftigten im psychosozialen Bereich – im Bundesstaat New York als Peer Specialists beschäftigt. Deren Tätigkeit zielt mehr auf Systemveränderung als auf die Lage Einzelner ab, in der Hoffnung, dass trotz der geringen Stellenanzahl eine möglichst breite Wirkung erreicht werden kann. Trotz dieses Erfolges bin ich mir nicht sicher, inwieweit eine Einbeziehung von Selbsthelfern in den klinischen Betrieb wirklich als Fortschritt einzuschätzen ist oder, im schlimmsten Fall, als neuerliche Einordnung ehemaliger Patienten unter das traditionelle klinische Regime. Die direkte Zusammenarbeit mit Peer Specialists ist sehr viel einfacher als die endlosen Machtkämpfe mit Klinikern und Forschungskollegen.

Ich selbst zog daraus die Konsequenz, im Wesentlichen nur mehr direkt mit Betroffenen zu arbeiten, ohne zu versuchen, unmittelbar auf die Einstellungen und Tätigkeiten meiner professionellen Kollegen einzuwirken. Diese Konsequenz brachte mir sicher bei den Kollegen keine Lorbeeren, dafür allerdings umso mehr positive Reaktionen aus der Betroffenenbewegung, wobei ich trotzdem hoffe, dass meine Kollegen die Erfahrungen des Peer-Specialist-Projektes in ihren Bereichen anwenden werden.

Selbsthilfe als Dienstleistung im ambulanten Bereich

Die Pendelbewegung zwischen intra- und extramuralen Interventionen – womit ich mich nicht nur auf die sichtbaren Anstaltsmauern, sondern auch auf die weniger deutlichen institutionellen Eigenschaften gemeindenaher Einrichtungen beziehe – begründet sich auf die wohlbekannte Dialektik zwischen systemimmanenten Änderungsversuchen und autonomen, anti-institutionellen Ansätzen. Selbstverständlich waren dem revolutionären Potenzial von »Share Your Bounty«, auf Grund der Entstehung innerhalb des traditionellen Versorgungssystems, von vorneherein Grenzen gesetzt. Man kann sagen, dass nur ein echtes »Graswurzel«-Projekt Chancen auf autonome, nicht-institutionelle Praxis hat. Es gibt zahlreiche solcher Organisationen in Amerika, doch sind auch diese inzwischen nicht mehr in der Lage, ihre Unabhängigkeit vollständig zu wahren. Mit dem Annehmen öffentlicher Gelder sind Konditionen verbunden, die ein unabhängiges Projekt unweigerlich näher zu den Werten und Vorstellungen der Geldgeber drängen. Nur völlig eigenständige Selbsthilfegruppen, die sich privat treffen und ohne großen Aufwand an Geld oder Infrastruktur auskommen, haben die Chance, wirklich eigene Wege zu gehen.

Nach dem Ende des »Peer Specialist«-Projektes nahm ich eine Stelle als Projektleiter im Büro für Betroffenenangelegenheiten (»Bureau of Recipient Affairs«) des New York State Office of Mental Health an. Meine neue Aufgabe bestand darin, innerhalb des Netzes von staatlich geleiteten, ambulanten Versorgungseinrichtungen einen Selbsthilfe- und Empowerment-Schwerpunkt zu propagieren. Dieses Ziel ergab sich aus der Überlegung, dass die angebotenen Dienstleistungen im ambulanten Bereich nicht nur die üblichen klinischen Interventionen anbieten, sondern auch mit den Entwicklungen im Selbsthilfebereich Schritt halten sollten. Konkret geht es darum, innerhalb von 75 Einrichtungen mit rund 30.000 Klienten Maßnahmen zu fördern, deren gemeinsamer Nenner die leitende und ausführende Rolle von Betroffenen ist. Die Motivation der Gesundheitsbehörde erklärt sich offiziell aus dem Interesse des Staates, Dienstleistungen »konsumentengerechter« zu verpacken. Dabei spielen finanzielle Faktoren sicherlich keine geringe Rolle. Das »Managed Care«-Prinzip beruht auf Einsparungen durch Senkung der Betriebskosten sowie auf Marktkonkurrenz durch Erfolg versprechendes Angebot und vermehrte Konsumentenzusprache. Dabei spielen Selbsthilfe und Empowerment eine zweischneidige Rolle: Einerseits tragen sie tatsächlich zur Verbesserung der Lebensqualität der Konsumenten bei, andererseits lassen sie sich oft als Kosten sparende Marketingstrategien einer minderwertigen Einrichtung entlarven.

Zunächst verlangten wir von der klinischen Leitung der Ambulanzen ortsspezifische Pläne, die aufzeigen sollten, wie Selbsthilfe und Empowerment eingeführt und möglichst vielen Interessenten zugänglich gemacht werden sollten. Das Ziel unserer Direktive war, innerhalb der einzelnen Ambulanzen eine sichtbare Präsenz des Selbsthilfeansatzes zu erwirken. Konkret bedeutete dies, dass jeder Nutzer über Selbsthilfe und Empowerment informiert werden sollte, um danach aus mehreren spezifischen Angeboten in diesem Bereich wählen zu können.

Nach Erstellung der Selbsthilfe-Pläne konstituierte sich ein Dreier-Team. Das Team entwickelte eine doppelte Strategie: Wir planten Besuche aller Ambulanzen, um Informationen über Selbsthilfe und Empowerment anzubieten und gleichzeitig Einsicht in die gängigen Strukturen gewinnen zu können; parallel dazu organisierten wir zentrale Zusammenkünfte von Betroffenen, die bereit waren, eine aktive Rolle in der Verbreitung von Selbsthilfe in den Ambulanzen zu übernehmen. Diese Vernetzungsstrategie erschien uns als die beste Chance, mit relativ kleinem Aufwand einen möglichst großen Kreis von Interessenten zu mobilisieren. Der Frage, inwieweit unser Plan tatsächlich zu konkreten positiven Resultaten führte, gingen wir etwa ein Jahr später mit einer neuen Runde von Besuchen nach, diesmal mit explizit evaluatorischem Ziel.

Im Folgenden möchte ich zunächst das monatliche »Self-Help and Empowerment Seminar« in der Stadt New York beschreiben, welches seit drei Jahren Selbsthelfer aus etwa 20 ambulanten Einrichtungen zusammenbringt. Danach werde ich auf die Resultate unserer Evaluationsbesuche zurückkommen.

Das »New York City Self-Help and Empowerment Seminar« erwies sich als der stärkste Knotenpunkt unserer organisatorischen Arbeit. Daneben gab es dreimonatliche Treffen in Middletown, etwa hundert Kilometer nördlich von New York, und sporadische Seminare an entlegeneren Orten. Diese geographische Aufteilung ergab sich einerseits aus der Tatsache, dass zwei der drei Teammitglieder in der Stadt New York ansäßig waren, andererseits daraus, dass nahezu die Hälfte der Nutzerinnen und Nutzer aus dem Einzugsbereich der Stadt kam. So trafen sich an jedem ersten Donnerstag des Monats zwischen 20 und 40 Betroffene aus neun Bezirken in und um New York City.

Das Format des dreistündigen Treffens entwickelte sich nach anfänglichen Unsicherheiten zu einer Runde von Berichten über die Begebenheiten des letzten Monats, einer thematisch begrenzten Präsentation des Teams oder geladener Experten und abschließend einer Diskussion von Möglichkeiten und Hindernissen in der Verbreitung von Selbsthilfeaktivitäten. Die Betroffenen kamen fast immer ohne Begleitung von Betreuungspersonen und in einigen Fällen sogar unter Benutzung der anstaltseigenen Dienstfahrzeuge. Etwa die Hälfte der Beteiligten erschien mit großer Regelmäßigkeit, während unter den anderen ein ziemlich reger Wechsel herrschte. Im Laufe der Zeit entwickelten sich viele der Beteiligten zu verlässlichen Selbsthelfern, die sich zur Aufgabe stellten, den Gedanken der Selbsthilfe unter die Nutzer ihrer jeweiligen Kliniken zu bringen. Während anfangs nur die wenigsten für ihre Anstrengungen bezahlt wurden, bekommt jetzt, drei Jahre später, etwa die Hälfte der Leute einen Lohn, wobei Einzelne sogar als Peer Specialists vollbeschäftigt sind.

Bei unseren Besuchen in den Stammeinrichtungen der Seminarteilnehmer ergab sich, wie erwartet, ein vielfältiges Bild von Selbsthilfe. Das Spektrum reichte von Kliniken, in denen nahezu nichts von Selbsthilfe zu bemerken war, zu komplexen Organisationsformen, die das Konzept unseres Netzes widerspiegelten. So zum Beispiel in dem New Yorker Stadtteil Queens, wo unter dem Einfluss der neuen Selbsthilfedirektive ein pyramidenförmig organisiertes Netz von Selbsthelfern entstanden ist. Beginnend mit freiwilligen Arbeitern, die für ihre Leistungen als Gruppenkoordinatoren nicht bezahlt wurden, bis zu »Senior Peer Counselors«, welche die Arbeit der anderen überwachten und den Kontakt zu den Profi-Betreuern aufrechterhielten, lehnte sich diese vierstufige Struktur an ähnliche Organisationsformen bei professionellen und paraprofessionellen Betreuern an, mit dem Unterschied, dass die Letzteren immer bezahlt werden. Die Erwartung, dass sich im Betroffenenbereich kooperative, nicht-hierarchische Strukturen herausbilden sollten, erwies sich in diesen Einrichtungen als unrealistisch.

Auch in Queens gab es ein monatliches Treffen der Selbsthelfer von den vier Satelliten-Ambulanzen zum Zweck der gegenseitigen Unterstützung und des Informationsaustausches. Die Möglichkeit eines basisnahen Einstieges ohne große Verpflichtungen schien es den Leuten zu erleichtern, die Arbeit als Selbsthelfer auszuprobieren, wodurch sie sich besser vorstellen konnten, eine ähnliche Arbeit mit größerem Zeitaufwand und Verantwortung zu übernehmen. Die Ambulanzen in anderen Stadtteilen wie Staten Island und Südwest-Brooklyn entwickelten ähnliche Strukturen, mit dem Unterschied, dass sie »Kunden-Vertretung« betonten, während es in Queens um Selbsthilfegruppen und gemeinsame Unternehmungen ging. In den Kliniken des restlichen Brooklyn (insgesamt 5 Millionen Einwohner!) entwickelte sich Selbsthilfe eher zögernd, und zwar bis zu dem Zeitpunkt im letzten Jahr, an dem vier Peer Specialists angestellt wurden. Seither sind sie mit der Verbreitung von Selbsthilfe bedacht und bieten den Nutzern ihrer vier Ambulanzen ein regelmäßiges Programm kollaborativ ersonnener Aktivitäten.

Konkret handelt es sich bei den neu eingeführten Selbsthilfe- und Empowerment-Aktivitäten in den New Yorker Ambulanzen in erster Linie um Gruppen, die von Freiwilligen geleitet und ohne Beisein von Betreuungspersonal im Rahmen des Wochenprogrammes angeboten werden. Am häufigsten sind es Selbsthilfegruppen, in denen es ohne vorgegebenes Thema um gegenseitige Stützung und Problemlösung geht. Außerdem gibt es spezielle Gruppen: Frauen- oder Männer-Gruppen, solche, die sich mit bestimmten Themen befassen (Depression, Stimmenhören, Freizeitgestaltung etc.), und letztlich auch 12-Stufen-Gruppen nach vorgegebenem Schema (»Anonyme Alkoholiker« etc.). In manchen Ambulanzen entwickelten sich kompliziertere Selbsthilfeeinrichtungen wie »Drop-In Centers«, verschiedene Kleinfirmen, soziale Dienste, Warm-lines (telefonische Bereitschaft), Ferienklubs und anderes.

Zusätzlich zu diesen »basisnahen« Aktivitäten, die prinzipiell für alle Interessenten zugänglich sind, gibt es Komitees und Ausbildungsveranstaltungen, die nur für speziell angemeldete Nutzerinnen und Nutzer bestimmt sind. In Buffalo, einer mittelgroßen Industriestadt an der kanadischen Grenze, nehmen zum Beispiel speziell ausgesuchte Betroffene an Verwaltungssitzungen des Spitals teil, womit sie eine Vermittlerrolle zwischen Profis und den anderen Betroffenen übernehmen. In der Ambulanz des etwas entlegenen Ortes Carmel in Westchester County konstituierte sich ein »Peer Counselor Training Program«, welches Klienten zu Betreuern ausbildet. Nach Absolvierung eines achtwöchigen Kurses können die Teilnehmenden Telefonanrufe von krisenbedrohten Klienten entgegennehmen und verschiedene Selbsthilfegruppen leiten. Ähnliche Funktionen leisten die »Customer Representatives« (Kundenvertreter) und »Peer Advocates« (Fürsprecher) in anderen Ambulanzen. Viele der Ambulanzen stellen den Nutzern zumindest einen Raum als »Selbsthilfebüro« zur Verfügung, mit mehr oder weniger großzügigem Mobiliar wie Computer etc.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Selbsthilfeprogramme der beobachteten Ambulanzen aus einer Mischung von Selbsthilfegruppen im engeren Sinn und fantasievolleren Anwendungen bestehen. In vielen Fällen gelang es den Profis, für die Tätigkeiten der Selbsthelfer bescheidene Gelder zur Verfügung zu stellen.

Diese bruchstückhafte Darstellung unseres Projekts der Selbsthilfe-Verbreitung soll aufzeigen, wie auf der Makroebene ein Versuch angestellt werden kann, die Mikroebene zu beeinflussen. Dies funktionierte zunächst auf Grund einer expliziten Direktive, dass Selbsthilfe und Empowerment als Dienstleistung anzubieten seien, und einem kleinen Team erfahrener Ausbilder. Nach einiger Zeit erschien es notwendig, die weitere Verbreitung von Selbsthilfen an örtliche Strukturen und das Personal zu binden, wozu ein größerer Finanzaufwand nötig wurde. Der Peer-Specialist-Titel erwies sich in diesem Zusammenhang als äußerst willkommen, wobei dessen Funktion jetzt mehr auf systemverändernde als auf einzelorientierte Interventionen abzielt. Peer Specialists werden dementsprechend in der Leitung von Selbsthilfegruppen, Ausbildungsveranstaltungen und anderen gruppenorientierten Aktivitäten eingesetzt. Sie haben keine spezifische Verantwortung für die Probleme einzelner Nutzer, obwohl sie natürlich des Öfteren mit Einzelsituationen konfrontiert sind. In solchen Fällen leisten sie in erster Linie Vermittlungsdienste mit dem Ziel, die verantwortlichen Betreuer zu unterrichten und gegebenenfalls im Interesse des Nutzers zu beeinflussen.

Das Hauptproblem dieser Arbeitsweise ist die große Distanz zwischen mir als Koordinator und jenen Leuten, die an der Basis arbeiten. Abgesehen von meinen beiden Teamkollegen und den Mitarbeitern des Betroffenenbüros habe ich kaum Kontakt zu den Dutzenden Selbsthelfern der jeweiligen Lokalitäten. Meine Arbeit wurde somit verwaltungstechnischer, dafür aber auch deutlich weiter reichend. Problematisch ist zudem die mangelnde Einbeziehung von Profis in diesen Prozess. Wir hatten zwar anfangs in jeder der 19 Anstalten eine Person als »Selbsthilfe-Liaison« eingesetzt, konnten aber wenig direkten Einfluss auf das andere Personal nehmen. An vielen Orten erschien es uns, als ob die Kliniken zweigeteilt wären – auf der einen Seite gab es einen mehr oder weniger autonomen Nutzerbereich, während sich das klinische Personal auf die andere Seite zurückgezogen hatte. Nur selten sahen wir eine wirklich integrierte Einrichtung, wo jeder Zugang zu allen Räumen hatte.

Wann immer wir direkt mit klinischem Personal interagierten, zeigte sich deren Ambivalenz gegenüber der Selbsthilfeentwicklung. Während viele den Einsatz von Selbsthilfegruppen im Rahmen des klinischen Betriebs begrüßten, konnten nur wenige etwas mit einem breiteren Empowerment-Ansatz anfangen. Daneben gab es auch einige offen ablehnende Stimmen, meistens von Seiten des medizinischen Personals, wobei oft stigmatisierende Haltungen zu Tage kamen. Für manche Psychiater ist die Diagnose »Schizophrenie« nach wie vor nicht mit der Teilnahme an oder gar der Leitung von Selbsthilfegruppen zu vereinbaren. Es ist noch zu früh um festzustellen, ob sich die Einstellungen der Profis mit der Zeit ändern. Derzeit sind mehrere Studien im Gang, die uns Hinweise auf solche Entwicklungen liefern können. Die neuen Peer Specialists sind noch kein Jahr im Dienst und die Verbreitung der Selbsthilfe zeigt noch keine direkten Einwirkungen auf die Profis. Man kann aber mit Sicherheit sagen, dass viele Profis, deren Interessen bereits in diese Richtung gingen, jetzt konkrete Ansatzmöglichkeiten für ihre Ideen haben.

Für mich als Psychiater war es immer wieder eine traurige Erfahrung, dass mein Enthusiasmus gegenüber der Betroffenenbewegung nur von ganz wenigen Kolleginnen und Kollegen geteilt wurde.

Beteiligung von Betroffenen im Planungs- und Dienstleistungsbereich

Seit etwa zehn Jahren gibt es verschiedene Ansätze, sowohl eng umschriebene wie auch größere Versorgungsbereiche unter Beteiligung von Betroffenen umzuorganisieren. An der Westküste der USA, im Bundesstaat Oregon, entstand Anfang der neunziger Jahre ein Projekt, in dem eine Betroffenenorganisation (»mind empowered«) mit der Versorgung von etwa 100 Langzeitpatienten aus dem Landeskrankenhaus betraut wurde. In Kalifornien wurden in mehreren Bezirken selbstverwaltete Krisenhäuser ins Leben gerufen. Fast alle Bundesstaaten bekamen Unterstützung aus Washington, um ihre Versorgungssysteme unter Beteiligung von Betroffenen zu verbessern (»State Service System Improvement Grants«). Mit Hilfe dieser Gelder entstand zum Beispiel in Michigan ein dichtes Netz autonomer Selbsthilfegruppen; in ca. 20 Bundesstaaten entstanden Betroffenenbüros, die sich stark nach dem Modell des oben beschriebenen New Yorker Büros ausrichteten. Vor zwei Jahren wurde eine Ausschreibung durchgeführt, in der eine große Multicenter-Studie über die Wirkung von Selbsthilfeinterventionen gefördert wurde. Die Leitung dieses Projektes liegt in der Hand einer Forschungsgruppe, deren Mitglieder großenteils selbst Patientenerfahrungen vorweisen können. Zusätzlich existieren in den USA zwei Organisationen, die mit der Verbreitung von Selbsthilfe und autonomen Projekten betraut sind.

Diese weit reichenden Interventionen im Stile des oben beschriebenen Selbsthilfe-Verbreitungs-Projektes weisen bis dato noch keine konkreten Resultate auf. Man kann aber auch ohne harte Daten mit Sicherheit sagen, dass die Gesamtzahl der Betroffenen, die aktiv an Selbsthilfe und Empowerment beteiligt sind, in den letzten zehn Jahren mindestens um das Zehnfache gestiegen ist. Als grobe Schätzung für New York kann man annehmen, dass heute ca. 10 Prozent aller Nutzerinnen und Nutzer der ambulanten Programme aktiv an Selbsthilfe beteiligt sind. Im Rahmen der staatlichen Kliniken wären das ca. 3000 Personen und im Rahmen der Gesamtversorgung wahrscheinlich nahezu 10.000.

Was bedeutet diese Kräftepotenzierung? Hauptsächlich bedeutet sie, dass wir die obere Grenze der Selbsthilfe-Verbreitung noch nicht kennen. Warum sollten nicht weitere 30 bis 40 Prozent der Betroffenen an dieser Entwicklung teilnehmen? Sollte dies tatsächlich der Fall sein, müssten die diversen Infrastrukturen und das verfügbare Potenzial mit dieser Entwicklung Schritt halten können, was noch keineswegs der Fall ist. So stehen beispielsweise derzeit in New York insgesamt nur 40 Peer-Specialist-Positionen zur Verfügung, die bestenfalls 1000-2000 Menschen mit Selbsthilfe in Kontakt bringen können. Wahrscheinlich wären etwa 300 Stellen notwendig – sicherlich keine unrealistische Zahl, wenn man die Gesamtzahl der Profis im psychosozialen Dienst in Betracht zieht. Andererseits stellt sich die Frage, ob an einem gewissen Grad der prozentualen Beteiligung von Betroffenen ein Umkippen der herrschenden Betreuungsordnung stattfinden muss. Allerdings fragt sich: wenn umkippen, dann wohin umkippen?

Der ärztliche Leiter der psychiatrischen Versorgung von Malmö erklärte unlängst, dass er eine Umgestaltung des dortigen Systems unter Einbeziehung von Betroffenen auf allen Ebenen ins Auge gefasst habe. Auch in Malmö ist nicht klar, in welche Richtung diese Umgestaltung gehen soll. Einerseits könnte es sein, dass im Zuge der Einbeziehung von Betroffenen das medizinische und das psychosoziale Modell als überholt erkannt und durch ein »Empowerment-Modell« ersetzt werden müssten. Leider gibt es noch kein lebendiges Beispiel eines solchen Modells, und daher besteht die Gefahr, dass trotz Einbeziehung von Betroffenen keine grundlegenden Veränderungen stattfinden werden und, im schlimmsten Fall, dass gar allgemein abgelehnte Aspekte des medizinischen Modells durch diese Beteiligung stillschweigend »abgesegnet« werden.

Diese traurige Erfahrung musste ich jüngst in unserem Versorgungssystem in New York machen. Während Hunderte Betroffene hoffnungsvoll in Selbsthilfegruppen und sonstige Meetings pilgern, scheint sich an den Praktiken der psychiatrischen Versorgung wenig zu ändern. Die stationäre Behandlung ist weitgehend abgeschottet gegen jede Reformbewegung; die Gesetzeslage verschiebt sich deutlich in Richtung auf weniger Freiheit und mehr Kontrollmöglichkeiten durch klinische Interventionen; Medikamente werden immer mehr als das Ein und Alles der Behandlung angesehen, und kaum ein Mensch mit schweren psychischen Krisen kommt in den Genuss von Alternativmodellen wie Soteria, Windhorse etc. Der entscheidende Dialog zwischen Klinikern und Betroffenen über die Inhalte der Heilungsarbeit findet nicht statt, weil die Konflikte nicht offen ausgetragen werden – und niemand auf Machtpositionen verzichten will.

Auch das Übertragen sämtlicher Versorgungsfunktionen auf Betroffenenorganisationen, wie zum Beispiel im US-Bundesstaat Oregon, hat sich nicht als Wundermittel erwiesen, denn auch von deren Warte gibt es bis dato keine erprobten Ansätze, die zum Beispiel gewaltfrei mit schweren Krisen umgehen können. Daher kann sich nur die Hoffnung ausdrücken, dass in der nächsten Phase der Empowerment-Bewegung ein intensiver und praxisnaher Dialog zwischen Profis und Betroffenen stattfinden wird und dieser sich in der Verwirklichung von partnerschaftlichen Versorgungsmodellen niederschlagen kann.

Und Deutschland?

Das Zusammentreffen von professionellen Interessen und den Vorstellungen Betroffener in der Selbsthilfebewegung spielt sich derzeit auf vielen internationalen Schauplätzen ab. Die Inhalte variieren von organisatorischen, arbeitsorientierten Ansätzen wie zum Beispiel in Deutschland und Italien (Selbsthilfefirmen), zu ganzheitlich-gesundheitlichen Ansätzen wie in England und Holland (z. B. Stimmenhörerprojekte). Starke antipsychiatrische Modelle haben sich an einigen Orten herausgebildet (Weglaufhaus in Berlin, Holland, Australien etc.).

Die Intervention des Staates im Selbsthilfebereich, die vielleicht als Spezialität der USA angesehen werden kann, ist höchst problematisch. Einerseits ermöglicht sie durch bedeutende finanzielle Unterstützung eine rasche Entwicklung von Arbeitsplätzen und selbstverwalteten Projekten, andererseits verhindert der Staat gleichzeitig das Heranwachsen von wirklich autonomen Organisationen. Es wäre vielleicht gut, jetzt einen Schritt zurück zu tun und sich mehr auf die Ziele und Inhalte der Selbsthilfe zu konzentrieren als auf die taktischen und finanziellen Notwendigkeiten ihrer Durchführung. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, gemeinsam und separat die altbekannten klinischen und »psychosozialen« Versorgungsansätze von Grund auf neu zu überdenken. Dabei sollte geklärt werden, ob progressive Ansätze wie Soteria, Windhorse, Weglaufhaus, Stimmenhörer etc. einen zentralen Platz im Gesundheitssystem einnehmen sollen oder weiterhin in ihre marginale Luxusrolle gebannt werden. Erst dann können die Fragen der Kontrolle und Finanzierung dieser Elemente geklärt werden.

Es ist sicher, dass in keinem der deutschsprachigen Länder sowie in den USA von Seiten der herrschenden psychiatrischen Strukturen eine Bereitschaft zur Machtteilung mit Betroffenen vorzufinden ist. Dies bedeutet, dass wir wahrscheinlich noch lange an einem zweigeteilten Gesundheitssystem herumlaborieren werden: einerseits die ärztlich verschriebene Ordnung, andererseits die von Betroffenen propagierte »Unordnung« der persönlichen Heilung.

Literatur

Fairweather, George W. et al.: Community life for the mentally ill: An alternative to insitutional care. Chicago: Aldine Pub. Co. 1969