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des Antipsychiatrieverlags
Vortrag bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Sozialpsychiatrie, Berlin, 2. November 2000
Hannelore
Klafki
Mauer im Kopf
Eigentlich bin ich überhaupt keine Freundin von langen Vorträgen
schon gar nicht von langen Vorreden und steige deswegen gleich
voll ein:
Wir befinden uns im Jahr 1961
Die Mauer Synonym für Spannung, Teilung, Grenze
wird am 13. August in Berlin errichtet. Ich bin knapp neun Jahre
alt, kam kurz vorher mit Bruder, Schwester und der Mutter nach
Westberlin; über die Hälfte der Familie bleibt »drüben«
(wie wir damals sagten). Nach der ersten Verständnislosigkeit,
den vielen Fragen ohne Antworten, finde ich mich wie so
viele andere auch mit den Gegebenheiten ab. Die Mauer tritt
in den Hintergrund sie ist eben da und punkt, fertig. Bald
bekomme ich auch selber genug mit mir zu tun. Ein paar Jahre später
fange ich an, Stimmen zu hören und muss meine ersten Psychiatrie-Erfahrungen
machen.
1989
28 Jahre nach dem Mauerbau beginnen die ersten Mauerspechte,
sie wieder zu demontieren. Ungläubig sehe ich die Fernsehbilder
und habe Angst vor diesem »Massenwiedervereinigungstaumel«.
Kurz vorher aus der Eschenallee entlassen, wird es mir unmöglich,
die überquellenden öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen,
ich kann nicht in die utopisch vollen Supermärkte zum Einkaufen
gehen und kämpfe zusätzlich noch mit meinen Stimmen,
die entsetzliche Hasstiraden auf mich niederschmettern. Alle um
mich herum sind glücklich und umarmen sich, während
ich tieftraurig und verzweifelt bin. Meine Psychiatrie-Karriere
mit durchschnittlich zwei bis drei Aufenthalten pro Jahr beginnt
jetzt erst richtig.
2000
Die Mauerspechte haben ihr Werk vollendet. Fast nichts im Stadtbild
erinnert heute noch an die Mauer von damals und doch ist sie da:
in den Köpfen der Menschen Ossis und Wessis wollen
möglichst wenig miteinander zu tun haben.
Warum erzähle ich Ihnen das? Was hat diese Problematik mit
der Psychiatrie zu tun? Ich möchte dieses Bild übertragen
auf uns alle, die sich in der Psychiatrie-Szene bewegen.
Nehmen Sie mich als Beispiel. Wie im Stadtbild kaum noch etwas
an die Mauer erinnert, so erinnert heute wenn Sie mich
so sehen kaum noch etwas an die Drehtürpatientin von
damals. Und doch ist mein Leben mit der Berliner Mauer und der
Psychiatrie verbunden.
Nach vielen Klinikaufenthalten, Tagesklinik, Tagesstätte,
Kämpfen mit Psychiatern, Betreuern und meinen Stimmen, habe
ich mein Leben wieder im Griff. Es war ein langer Weg.
Wie damals, als ich ungläubig vor dem Fernseher die Bilder
vom Mauerfall sah, musste ich in der Psychiatrie oft ungläubig
mit ansehen, was da mit mir und meinen Mitpatienten und -patientinnen
angestellt wurde. Der Unterschied zu damals ist, dass ich
nach der ersten Traurigkeit zornig geworden bin.
Nein, ich habe mich nicht zu einer militanten Vertreterin der
Antipsychiatrie entwickelt, und möchte mich an dieser Stelle
ganz ausdrücklich von der Berliner Irren-Offensive distanzieren.
Wer fordert, die Psychiatrie gehöre gänzlich abgeschafft,
ohne irgendwelche Alternativen anzubieten, weil es angeblich keine
psychisch kranken Menschen gibt, ist in meinen Augen unmenschlich
und geht an der Realität vorbei.
Ver-rücktsein ist eben nicht nur das schillernde Anderssein,
das eine Gesellschaft auszuhalten hat. Ver-rücktsein hat
eben auch mit ganz viel Not und Pein zu tun. Wo sollen die Menschen
denn hin, wenn sich die ganze Welt gegen sie verschworen hat und
sie vor Angst vergehen? Wo sollte ich hin, wenn ich vor
Angst erstarrt wie eine Puppe mich nur noch mit äußerster
Kraftanstrengung bewegen konnte? Gäbe es die Psychiatrie
nicht, würde ich vielleicht schon lange nicht mehr leben.
Aber das hindert mich natürlich nicht, Missstände
in der Psychiatrie zu kritisieren und selbstverständlich
bin ich auch wenn ich mich vorhin von der Berliner Irren-Offensive
distanziert habe Mitglied im Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen.
Denn es gibt noch sehr viel zu tun.
Zwei Bereiche möchte ich aufgreifen, die mir in meinem
Umfeld immer wieder begegnen und auf den Nägeln brennen.
Um beim Thema zu bleiben: gerade hier sehe ich eine fast unüberwindlich
scheinende Mauer im Kopf aller Beteiligten.
Zum Beispiel die Medikamente
auch wenn es Ihnen schon zu den Ohren rauskommen sollte, will
und muss auch ich das aufgreifen:
Wussten Sie eigentlich, dass 95% aller psychiatrisierten Menschen
Neuroleptika verabreicht bekommen? Ich wusste das jedenfalls bis
vor ein paar Wochen nicht. 95%! Das muss man sich mal auf der
Zunge zergehen lassen! Viele lebenslang obwohl inzwischen
alle Verantwortlichen wissen, wie schädlich das auf Dauer
ist!
Ich bin gar nicht soo total gegen Medikamente eingestellt. Mir
selber hat in akuten Phasen z.B. Fluanxol geholfen. Es hat zwar
nicht die Stimmen beeinflusst, aber es hat die Angst eingedämmt,
sodass ich wieder zur Ruhe kommen und zu mir selber finden konnte.
Und ich sehe ein, dass es Menschen gibt, die ohne Medikamente
diese Gesellschaft wahrscheinlich nicht aushalten könnten.
Zum Beispiel unser Johannes (übrigens habe ich ihn vorher
gefragt, ob ich von ihm erzählen darf und tue das mit seiner
ausdrücklichen Genehmigung) Johannes also schrie, tobte und
wetterte in seinen akuten Phasen, dass uns die Ohren weh taten.
Er hatte so große Angst, jemand könnte ihm etwas tun,
dass er immer ein Rasiermesser bei sich trug. Einmal stand er
auch mit gezücktem Messer hinter mir und meinte, ich wäre
nicht Hannelore, sondern eine Doppelgängerin. Und er hat
auch jemanden verletzt. Wir hatten damals große Angst, dass
er wieder in die Forensik muss, aber Gott sei Dank wurde die Anklage
fallen gelassen und er landete auf der geschlossenen in Spandau.
Lange Rede, kurzer Sinn jetzt hat er endlich ein Medikament,
mit dem er ohne größere Beeinträchtigungen leben
kann. Er hat zwar immer noch seine (wie er selber sagt) verrückten
utopischen Ideen, mit denen er uns manchmal ganz schön auf
die Nerven gehen kann seine Rasiermesser aber hat er weggeschmissen.
Und trotzdem: gleichzeitig sehe ich Menschen, die trotz hochdosierter
Medikation ausrasten, in die Klinik müssen, noch mehr Medikamente
erhalten, wieder rauskommen, wieder ausrasten... usw. usf. Ich
verstehe nicht, warum ambulante und stationäre Psychiatrie
hier nicht zusammenarbeiten. Wenn alle hochdosierten Medikamente
nicht greifen, muss doch nach anderen Wegen gesucht werden!
Warum gibt es keine medikamentenfreien Räume, wo noch einmal
ganz neu nachgeschaut werden könnte, oh die Medikamente wirklich
das einzige sind, was hilft? Ein Armutszeugnis für die Psychiatrie,
dass es die nur im Weglaufhaus gibt Glück leider nur
für ganz wenige von uns.
In der Septemberausgabe der »Sozialen Psychiatrie«
habe ich im Beitrag von Matthias Seibt gelesen, dass einer von
400 an den Folgen der Neuroleptikaeinnahme stirbt. Eine abstrakte
Zahl, die für mich aber schmerzlich gefüllt ist: innerhalb
kürzester Zeit sind bei uns in Schöneberg sechs Menschen
gestorben. Menschen, die als chronisch und schwierig galten und
mir ans Herz gewachsen waren.
Und sehr auffällig ist für mich, dass in der
letzten Zeit zunehmend mehr Menschen, die Psychopharmaka nehmen,
plötzlich Zucker und erhöhte Blutfette haben oder der
Stoffwechsel entgleist mit Nierenversagen und allem was dazu gehört
so total, dass Lebensgefahr besteht und die Intensivstation angesagt
ist.
Sie sehen, wie zerrissen auch ich gerade an diesem Punkt bin.
Auf der einen Seite: ja, Medikamente können helfen, stützen,
eine Krücke sein. Auf der anderen Seite in meinen Augen vollkommen
überdosierte Medikation, Stoffwechselentgleisungen und Todesfalle.
Hier sehe ich eine ganz dicke Mauer im Kopf, weil alle möglichst
wenig mit diesem Thema zu tun haben wollen und viele nicht bereit
sind, darüber nachzudenken, oh die Medikamente wirklich über
30, 40 Jahre hinweg nötig sind. Alle sind aufgefordert, hier
Mauerspechte zu sein, nach neuen Wegen und verantwortungsbewussten
Ärzten zu suchen, die sich gerade auch den oft sehr schlechten
somatischen Zustand betrachten, der in der Klinik so oft vom Tisch
gewischt wird.
Hier mache ich jetzt einen Punkt und komme zu dem für mich
genau so wichtigen Bereich, wo die Mauer im Kopf fast körperlich
spürbar für mich ist.
Gehen wir einen kleinen Schritt in der Zeitgeschichte zurück:
1994
der Weltkongress für soziale Psychiatrie in Hamburg
die Idee des Trialogs wird geboren und ist von da an aus
der Psychiatrie-Szene nicht mehr wegzudenken. Immer mehr Psychose-Seminare
und Trialoggruppen entstehen und Angehörige und Psychiatrie-Erfahrene
halten auf Fachtagungen Vortrage.
Fast euphorisch wird der Trialog gefeiert und erinnert mich ein
bisschen an diesen Wiedervereinigungstaumel von 1989. Die Kernaussage
ist: der Trialog ist die Voraussetzung, um Reformen in der Psychiatrie
erfolgreich durchsetzen zu können.
Auch ich lasse mich von der Begeisterung anstecken und höre
fasziniert, wie die Profis das Bild vom gemeinsamen Boot heraufbeschwören.
Anfangs denke ich: ja, da ist schon was dran, irgendwie sitzen
wir alle im gleichen Boot.
Das war vor sechs Jahren und heute? Heute weiß ich,
dass wir noch meilenweit von einer demokratischen Psychiatrie
entfernt sind.
Denn wo sind die guten Ansätze und Ideen geblieben? Wo
ist der Trialog verwirklicht? Wo sitzen Angehörige, Psychiatrie-Erfahrene
und Profis gemeinsam z.B. in Planungsgremien zusammen? Was haben
Sie persönlich getan, um den Trialog auf Ihrer Arbeitsstelle
umzusetzen? Wann haben Sie das letzte Mal auf Ihrer Arbeit mit
einem selbstbewussten Psychiatrie-Erfahrenen gesprochen? Ist es
nicht vielleicht doch eher so, dass es den Trialog nur auf Tagungen
und in Seminaren gibt, während er am Alltag schlicht und
ergreifend einfach vorbeigeht?
Dann möchte ich aber lieber doch nicht mit Ihnen in einem
Boot sitzen, denn wie würde das aussehen?
Die Profis stehen am Steuer, die Angehörigen dürfen
wenn überhaupt ein bisschen mitrudern und wir
Psychiatrie-Erfahrenen? Na, wir schrubben die Planken rein
arbeitstherapeutisch gesehen, versteht sich ist doch klar,
oder? Nein danke, ehe ich mich zu Ihnen in ein Boot setze muss
erst noch eine ganze Menge passieren.
Ich befürchte inzwischen, dass wir mit dem Trialog eine
abgehobene Ideologie verbreitet haben, weil ich hier in Berlin
keinen Ort kenne, wo der Trialog auch nur ansatzweise verwirklicht
ist schon gar nicht in den Kliniken.
Ein Beispiel: vor zwei Wochen habe ich zufällig einen Oberarzt
aus der Psychiatrie getroffen. Der meinte zu mir: »Ich weiß
gar nicht, was Sie haben, meine Patienten haben jeden Tag ihr
Gespräch während der Visite«! Ich dachte, wir wären
uns wenigstens an diesem Punkt einig, nämlich dass wir gemeinsam
die gesprächslose Psychiatrie kritisieren!
Ein anderes Beispiel: vor ein paar Tagen habe ich mich mit einer
jungen Psychiatriemitarbeiterin unterhalten. Die meinte: »Ach
ja, der Trialog, kenn wa, ham wa schon durch, dit wa ma so'n Modewort
in den 90er Jahren.«
Irgend etwas stimmt da doch nicht! Die Leute, die sich den Trialog
wünschen, müssen sich sagen lassen, dass sie sich auf
eine akademische Diskussion eingelassen haben, die an den meisten
vorbeigeht.
Zur Klarstellung; ich will nicht den Trialog angreifen, sondern
auf der einen Seite diejenigen unter uns, die behaupten, er wäre
langst verwirklicht und meinen sich satt zurücklehnen zu
können und auf der anderen Seite diejenigen, die den Trialog
mal kurz im Seminar durchgesprochen und dann als nicht zu verwirklichen
beiseite geschoben haben.
Gegner des Trialogs halten mir zusätzlich entgegen, er
würde nur unnötig unterschiedliche Interessen und Standpunkte
verschleiern. Das ist in meinen Augen Unsinn, denn wir wollen
ja keine Verbrüderungsarien feiern, sondern die Psychiatrie
verändern, verbessern. Gemeinsam könnten wir es schaffen.
Deshalb ist der Trialog so wichtig. Er darf einfach nicht
als bloßes Modewort verkommen zu den Akten gelegt
werden. Es sind gute Impulse aus ihm hervorgegangen. Nur zwei
Beispiele von vielen sind die Psychose-Seminare und das Netzwerk
Stimmenhören. Ohne Hierarchien und Machtstrukturen wird hier
auf einer gleichberechtigten Ebene miteinander umgegangen. Das
können alle lernen und dann wieder in den Alltagsbereich
hineintragen, um so den Trialog vielleicht eher Schritt für
Schritt umzusetzen.
Sicher wird der Trialog nicht auf allen Ebenen zu verwirklichen
sein und ist vielleicht auch nicht immer sinnvoll. Wir wollen ja
z.B. auch keine Profis in unseren Selbsthilfegruppen haben. Im großen
und ganzen aber steht für mich die Kernaussage des Weltkongresses:
der Trialog ist die Voraussetzung, um Reformen in der Psychiatrie
erfolgreich durchsetzen zu können.