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des Antipsychiatrieverlags
in:
Peter
Lehmann / Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2. Berlin /
Eugene / Shrewsbury: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2007, S.
418-420 (E-Book 2022)
Pat
Bracken
Jenseits von Modellen und Paradigmen Eine
radikale Interpretation von Recovery
Ursprünglich wurde der Begriff "Recovery" in einigen einflussreichen
Erfahrungsberichten von Betroffenen verwendet, um ein alternatives
Programm in der Psychiatrie anzukünden. In den letzten Jahren
benutzt man den Begriff "Recovery" immer häufiger. Meist geht
es dabei um den Wandel von einem "medizinischen" zu einem "Recovery-orientierten
Modell", was zu einem "Paradigmenwechsel" in unserem Verständnis
psychiatrischer Probleme führen soll. In diesem Beitrag will ich
die radikalere These vertreten, dass es bei der Recovery-Bewegung
nicht um den Wechsel von einem Paradigma zu einem anderen (oder
von einem Modell zu einem anderen) geht, sondern um die generelle
Überwindung des Denkens in Paradigmen und Modellen.
Zuerst sollten wir uns darüber klar sein, wozu wir eine Alternative
suchen. Üblicherweise ist es das "medizinische Modell", das als
Problem angesehen wird, da ein medizinisches Verständnis von verrückten
Erfahrungen und psychischem Leid als falsch und schädlich angesehen
wird. Dies führt bei dem irrigen Versuch, "Symptome" zu behandeln,
zum unnötigen und zerstörerischen Einsatz von Psychopharmaka und
Elektroschocks und ist natürlich ein großes Problem. Ich denke
aber, dass das medizinische Modell nur Teil eines grundlegenderen
Problems ist: der Tendenz, menschliche Schwierigkeiten auf die
eine oder andere Art als technische Probleme zu verstehen. Dieses
"technologische Paradigma" beeinflusst unsere grundlegendsten
Ansichten über uns selbst und das Wesen von Gesundheit und Heilung.
Es legt fest, wie Probleme für uns in Erscheinung treten, und
leitet unsere Gedanken auf vielen verschiedenen Ebenen. Im Wesentlichen
fördert es eine "modellbasierte" Herangehensweise an menschliche
Schwierigkeiten. So umfasst das technologische Paradigma nicht
nur das medizinische Modell, sondern auch die meisten psychologischen
und Management-Ansätze psychischer Gesundheit. Neben biologischen
Modellen der Produktion von "Symptomen" haben wir kognitive, psychoanalytische
und auch soziale Modelle aller Art.
Das technologische Paradigma stellt die Entwicklung von Modellen,
Klassifikationssystemen, den Vergleich verschiedener Eingriffe
usw. ins Zentrum unseres Diskurses über psychische Gesundheit.
Dies erkennt man sofort beim Durchblättern der meisten psychiatrischen
und psychologischen Fachzeitschriften. Innerhalb dieses technologischen
Paradigmas werden Aspekte wie Werte, Bedeutungen, Beziehungen
und Macht nicht ignoriert, sind allerdings gegenüber den technischen
Aspekten des psychosozialen Bereichs zweitrangig. Darüberhinaus
unterstreicht es die zentrale Stellung von "Experten": Professionellen,
Akademikern, Forschern und deren Verfahrensregelungen, Fortbildungen
und Universitätsfakultäten. Betroffene können zwar nach ihrer
Meinung zu Modellen, Eingriffen und Forschung befragt werden,
sind aber immer Empfänger von Expertenwissen, das anderswo geschaffen
wurde.
Meiner Meinung nach ist die Recovery-Bewegung und die Entstehung
eines betroffenengeleiteten Diskurses über psychische Gesundheit
nicht nur für das medizinische Modell eine radikale Herausforderung,
sondern auch für das dahinter stehende technologische Paradigma.
In diesem Betroffenendiskurs geht es nicht um neue Paradigmen
oder neue Modelle, sondern um die komplette Neuorientierung unserer
Denkweise über psychische Gesundheit. In der nichtpsychiatrischen
Recovery-Literatur werden Aspekte der Macht und Beziehungen, Zusammenhänge
und Bedeutungen, Werte und Prioritäten erstrangig. Therapie, Dienste,
Forschung und sogar Psychopharmaka werden zwar nicht abgelehnt,
jedoch als zweitrangig eingestuft. Geht es um Psychopharmaka,
will die unabhängige Literatur von Psychiatriebetroffenen mit
Hilfe von Informationen über deren Wirkungsweise, unerwünschte
Wirkungen und deren fragliche Wirksamkeit erreichen, dass Psychopharmaka
nur mit informierter Zustimmung verabreicht und die Profite der
Pharmakonzerne aufgezeigt werden. Diese Literatur kritisiert auch
deren Einfluss auf psychiatrische Fachbereiche an Universitäten
und die dort betriebene Lehre und Forschung, auf Krankheitsmodelle
und Klassifikationssysteme.
Um zu beurteilen, inwieweit die Recovery-Bewegung akzeptiert
wird, müssen wir uns ansehen, welche Bedeutung man dem Betroffenendiskurs
in Bildung und Fortbildung zuschreibt. Die radikalste Folgerung
der Recovery-Bewegung mit ihrer Umkehrung dessen, was erst- und
zweitrangig ist, besteht in der Feststellung, dass es die Betroffenen
sind, die das größte Wissen und die meisten Informationen über
Werte, Bedeutungen und Beziehungen besitzen. Im Sinne der Recovery-Bewegung
sind sie die wahren Experten.
Aus dem Englischen von Pia Kempker
Copyright by Peter Lehmann 2007