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Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V.


An das
Bundesministerium für Gesundheit
Referat 314
z.Hd. Frau Dr. Kriegel
Am Probsthof 78 a
53121 Bonn

11.3.2000

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Ministerin Fischer,
sehr geehrte Frau Dr. Kriegel,

im Namen des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) möchte ich mich herzlich für das atmosphärisch so angenehme Gespräch vom 10.2.2000 mit Frau Ministerin Fischer, Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen bedanken. Wir wissen Ihre freundliche Haltung gegenüber unseren Anliegen zu schätzen.

Aufgrund der begrenzten Zeit erlauben wir uns, Ihnen noch einige Punkte schriftlich einzureichen, um unsere Anliegen zu verdeutlichen.

Hintergrund unseres Anliegens war und ist die Umsetzung des Consensus-Papiers, das bei der Konferenz von WHO/Europarat (»Balancing Mental Health Promotion and Mental Health Care«) in Brüssel, 22. – 24.4.1999 verabschiedet wurde. Für uns besonders wichtig sind die Punkte aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik, Förderung von Selbsthilfeansätzen und nicht-stigmatisierenden, nichtpsychiatrischen Ansätzen und vor allem Freiheit zur Auswahl aus Behandlungsangeboten zur Stärkung der Menschenrechte.

Themenkomplex 1: Stärkung von Selbsthilfe und nicht-stigmatisierenden, d.h. nicht-psychiatrischen Alternativen für Menschen mit psychosozialen Problemen

  1. Aufbau von Beratungsmöglichkeiten von Psychiatrie-Erfahrenen für Psychiatrie-Erfahrene

  2. Auch wenn uns Frau Dr. Kriegel im Vorgespräch wenig Hoffnung auf die Bewilligung unseres Antrags auf Projektförderung gemacht hat, haben wir die Hoffnung auf ein kleines Wunder doch noch nicht aufgegeben. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie im Haushalt doch noch Mittel für unser Projekt finden (Modellprojektantrag liegt vor).
    Selbstverständlich werden wir entsprechend Ihrem Vorschlag nun rasch auch auf Länderebene aktiv werden.

  3. Das Weglaufhaus-Team hat sich sehr über den von Frau Ministerin in Aussicht gestellten Besuch gefreut. Für den Fall, dass ein Termin näher rückt, bitte ich Sie, mich wegen der Planung anzurufen: 030-85963706

Themenkomplex 2: Sicherung der Patientenrechte / Stärkung von Menschenrechten / Fragen der Gleichbehandlung

  1. Einrichtung eines unabhängigen Modells von Beschwerdestellen / Patientenanwälten / Patientenvertrauenspersonen

  2. Sicherstellung von Wahlmöglichkeiten unter den angebotenen Hilfeleistungen als wesentlichen Aspekt der Stärkung der Menschenrechte Psychiatriebetroffener

  3. Stärkung der Rechtswirksamkeit von Vorausverfügungen zur Verbesserung der Rechtssicherheit.

  4. Durchsetzung des Rechts auf komplette Akteneinsicht (incl. Arztaufzeichnungen und Pflegeberichte) wie im somatischen Bereich

  5. Verbesserung der Rechtsstellung von Heimbewohnern

  6. Durchsetzung der Aufklärungspflicht

Mit Freunde lasen wir bereits die »Eckpunkte zur Gesundheitsreform 2000«, vereinbart zwischen den Arbeitskreisen »Gesundheit« der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen und dem Bundesministerium für Gesundheit vom 2. März 1999, wonach Patienten nicht mehr als Objekte der Fürsorge gelten sollen, sondern als Akteure in die Gestaltung des Gesundheitswesens einbezogen würden, was eine bessere Verankerung des Patientenschutzes und eine umfassende, rechtlich abgesicherte Information und Aufklärung der Versicherten und Patienten voraussetzt. Hierzu bedürfe es der Schaffung und Unterstützung entsprechender unabhängiger Anlauf- und Beratungseinrichtungen wie z.B. Patientenstellen oder Verbraucherzentralen. Wir fühlen uns von diesen Passagen, die der Intention des o.g. Consensuspapiers vorweggenommen scheinen, voll angesprochen in unserem bereits genannten Anliegen. Alte Institutionen genügen nicht länger, die Zeichen der Zeit stehen auf »Rechtsgleichheit statt Gnadenakt«, um die soziale Schieflage zu beseitigen.

Zu a) Einrichtung eines unabhängigen Modells von Beschwerdestellen / Patientenanwälten / Patientenvertrauenspersonen

Bei unserer Jahrestagung 2000 wird das Thema »Einrichtung eines unabhängigen Modells von Beschwerdestellen / Patientenanwälten / Patientenvertrauenspersonen« im Mittelpunkt stehen. Die Förderung unserer Tagung ist für uns sehr hilfreich, um das Für und Wider einzelner Beschwerdeeinrichtungen zu diskutieren. Gerne würden wir einen Vertreter bzw. eine Vertreterin Ihres Ressorts bei uns zu Gast haben, um auch von Ihren Kenntnissen hinsichtlich der Möglichkeit der Einrichtung von Beschwerdestellen zu profitieren.

Da Psychiatriefragen bei Verbraucherzentralen bisher kaum Berücksichtigung finden, im Gegenteil sogar in Publikationen des Verbraucherverbands die Meinung vertreten wird, Elektroschock-Verabreichung sei eine ungefährliche Methode, ist eine Förderung einer eigenständigen Beratungstätigkeit von Psychiatrie-Erfahrenen für Psychiatrie-Erfahrene dringend angezeigt.

Da sich eine Reihe von Beschwerden auf gemeindenahe psychiatrische Einrichtungen bezieht, sollte eine Beschwerdestelle auch unabhängig von sozialpsychiatrischen Trägereinrichtungen sein.

Zu b) und c) Die Sicherstellung von Wahlmöglichkeiten unter den angebotenen Hilfeleistungen als wesentlichen Aspekt der Stärkung der Menschenrechte Psychiatriebetroffener und die Stärkung der Rechtswirksamkeit von Vorausverfügungen zur Verbesserung der Rechtssicherheit setzt eine stärkere Berücksichtigung der Rechtsposition von Psychiatrie-Erfahrenen voraus. Wir meinen, Sie sollten sich auch dieses Themas annehmen. An einer Initiative gegenüber dem Justizministerium Ihrerseits zur Verbesserung der Rechtsposition von Psychiatrie-Erfahrenen würden wir uns gerne beteiligen.

Uns ist durchaus klar, dass die jetzigen Besitzstandinhaber ihre übermäßigen Rechte verteidigen wollen, wenn es darum geht, bisher relativ rechtlosen Psychiatrie-Erfahrenen mehr Rechte zu verschaffen. Ein Vorschlag eines Psychiatrieanwalts geht in die Richtung, z.B. in Krankenhausverträge einen Passus aufzunehmen, in dem die höchstpersönliche Schuld bei Verstößen gegen Vorausverfügungen deutlich gemacht und somit eine klare Warnung vor einer individuell ausgerichteten zivil- und strafrechtlichen Verfolgung ausgesprochen wird.

Zu d) Durchsetzung des Rechts auf komplette Akteneinsicht (incl. Arztaufzeichnungen und Pflegeberichte) wie im somatischen Bereich: Als mögliche flankierende Maßnahmen könnten wir uns eine Regelung analog der Sozialgesetzgebung vorstellen, die die Auskunftsverweigerung von Arbeitgebern in bezug auf Beschäftigungsverhältnisse als Ordnungswidrigkeit mit nachfolgendem Bußgeld wertet; wieso soll die Verweigerung in bezug auf die Offenlegung von Behandlungsmaßnahmen nicht ebensolche Folgen haben? Eine Gleichstellung von sogenannten psychisch Kranken und von somatisch Kranken sollte auch ein gleiches Recht auf Einsicht in die eigenen Behandlungsakten einschließen. Selbst psychiatrische Verbände fordern diese Gleichstellung. Eine andere Möglichkeit scheint uns die Änderung von Krankenhausaufnahmeverträgen, in denen ein Passus über das uneingeschränkte Recht auf Akteneinsicht bereits enthalten sein könnte.

Zu e) Verbesserung der Rechtsstellung von Heimbewohnern: Heimbewohner sind rechtlich mit am schlechtesten gestellt; oft werden

  • von ihnen Zustimmungen erpresst mit der Drohung, den Heimvertrag zu kündigen, d.h. die Betroffenen auf die Straße zu setzen

  • von ihnen pauschale Schweigepflichtentbindungen verlangt, ohne dass die Betroffenen Kenntnis darüber erhalten, von welchen Daten und Akten sie entbinden

  • von ihnen vor Eintritt ins Heim Verpflichtungen verlangt, alle angebotenen sogenannten Therapieformen mitmachen zu müssen, eine Ablehnung einer einzelnen Maßnahme führe zur Kündigung des Vertrags,

  • von ihnen Voraberklärungen zur möglichen späteren Anstaltseinweisung ohne Gerichtsbeschluss gefordert,

  • sie genötigt, den mit dem Heim kooperierenden Arzt aufzusuchen und sich pauschal und vorab mit dessen Behandlungsvorschlägen abzufinden, womit ihnen das Recht auf freie Arztwahl und das Selbstbestimmungsrecht über ihre körperliche Integrität abgesprochen wird.

  • Wir bitten sie, sich dieses Themas anzunehmen. An Aktionen Ihrerseits zur Verbesserung der Situation von Heimbewohnern würden wir uns gerne beteiligen. Analog einem Gesetz über die Qualität von Pflegeheimen und ambulanten Diensten sollte es auch ein Gesetz über die Qualität von psychiatrischen Heimen und sogenannten Übergangseinrichtungen geben. Gerne würden wir Sie mit unseren Erfahrungen beratend unterstützen. Sollte dieser Bereich in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Soziales fallen, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns über das zuständige Referat in Kenntnis setzen.

Zu f) Durchsetzung der Aufklärungspflicht: Wie nötig eine Durchsetzung der Aufklärungspflicht ist, zeigte die Diskussion von 1981, die Prof. Hanfried Helmchen, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, publik machte: z.B. bei der Verordnung von Neuroleptika über das Risiko einer tardiven Dyskinesie (bei normaler Dosierung im Lauf der Verabreichung häufig auftretende, veitstanzförmige oder durch Krämpfe gekennzeichnete nicht behandelbare und mit der Verkürzung der Lebenserwartung einhergehende Muskelerkrankung) drei Monate nach Beginn der Verabreichung zu informieren oder nach einem Jahr oder Zeitpunkt ihres Auftretens.

Wir sehen die dringende Notwendigkeit einer staatlichen Regulierung, insbesondere auch angesichts der Tatsache, dass weder im Verlauf der Anstaltsbehandlung noch beim Übergang zur Langzeitverabreichung aufgeklärt wird. Dies zeigen übereinstimmende Erkenntnisse psychiatrischer Untersuchungen und Erfahrungen des BPE.

Unterlassene Aufklärung kann nicht weiterhin ein Kavaliersdelikt sein. Sollte für dieses Problem das Justizministerium zuständig sein, bitten wir Sie um Mitteilung über die zuständige Dienststelle.

Themenkomplex 3: Einbeziehung von Betroffenen in allen politischen Entscheidungsebenen

Bereits auf unserer Jahrestagung im Juni 1999 hat uns Herr Staatssekretär Jordan Mut gemacht, als er beim Thema Psychiatriereform die Umfrage des BPE erwähnte:

»... dass wir zusammen daran arbeiten müssen, dass Sie als Betroffene selbstverständlich in für sie wichtige Entscheidungen einbezogen werden. Dazu müssen sie den Sachverhalt der Entscheidungsvorschläge erkennen und die Ebenen des Patientenschutzes benutzen können. (...) Deshalb brauchen wir eine Umorientierung hin zu einer stärkeren Berücksichtigung der Anliegen und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten. Dazu müssen der Patientenschutz besser verankert und eine umfassende Information und Aufklärung rechtlich abgesichert werden. (...) Das Bundesministerium für Gesundheit ist z.Z. auch dabei, ein Gesamtkonzept für die Verbesserung der Information, der Rechte und der Beteiligung der Patienten zu erarbeiten. Dies wird rechtzeitig mit allen Beteiligten, Bund, Länder, Kassen, Verbänden und natürlich auch mit den Selbsthilfegruppen erörtert.«

Wir wiederholen unsere Bereitschaft, zu Arbeitskreisen und Hearings zu kommen und Stellungnahmen zu Problemen wie z.B. Wirksamkeitsstudien abzugeben, zu deren Lösung wir als Psychiatrie-Erfahrene sicher etwas beitragen können.

Themenkomplex 4: Qualitätsverbesserung in der Psychiatrie

  1. Anhebung der Qualität im Alltag psychiatrischer Einrichtungen durch Auflagen wie z.B.

    • Patiententelefone in einer Kabine auf jeder Station

    • Münzkopierer deutlich sichtbar im Eingangsbereich jeder Anstalt

    • auf jeder Station deutlich sichtbar ein Anschlag, dass auf Wunsch Briefpapier, Briefumschläge und Briefmarken zur Verfügung gestellt werden

    • Aufhängen des BPE-Flugblatts auf jeder Station

    • Anbieten eines täglichen Spaziergangs unter freiem Himmel von mindestens 1 Std. Dauer

    • Einrichten einer Teeküche auf jeder Station, dass man sich rund um die Uhr zu essen und zu trinken machen kann

    Wie Sie wissen, haben wir diese Minimalforderungen schon 1995 bei der Bundesdirektorenkonferenz vorgetragen. Bisher fühlte sich keine Institution berufen, auf unsere Forderungen einzugehen. Wir wären Ihnen ausgesprochen dankbar, wenn Sie uns mitteilen, an wen wir uns wenden müssen, um mit den Forderungen Gehör zu finden.

  2. Suizidprophylaxe:

    Der Psychiater Peter Müller von der Universitätsklinik Göttingen warnte bereits 1981:

    »Depressive Syndrome nach der Remission der Psychose und unter neuroleptischer Behandlung sind nicht selten, sondern treten etwa bei zwei Dritteln der Patienten auf, teilweise auch noch häufiger, besonders wenn parenteral Depot-Neuroleptika gegeben werden. Ohne neuroleptische Behandlung finden sich hingegen nach vollständiger Remission diese depressiven Verstimmungen nur ausnahmsweise.«

    1976 schrieb Hans-Joachim Haase, Psychiater der Psychiatrischen Klinik Landeck, die Anzahl lebensgefährdender depressiver Erscheinungen nach Anstaltsbehandlung mit Psychopharmaka habe sich seit Einführung der Neuroleptika mindestens verzehnfacht, und dessen Kollege Jiri Modestin von der Universitätsklinik Bern warnte 1982:

    »Unsere Resultate zeigen eine dramatische Zunahme der Suizidhäufigkeit unter den in der PUK Bern sowie auch PK Münsingen hospitalisierten Patienten in den letzten Jahren.«

    Selbst Asmus Finzen, jetzt Universitätsklinik Basel, wies 1988 in seinem Buch »Der Patientensuizid« auf eine enorme Dunkelziffer hin:

    »... in Krankengeschichten und Entlassungsbüchern oft kein Vermerk über den Tod oder den Suizid der Patienten zu finden war. Wenn sich der Suizid während eines Urlaubs ereignet hatte, wurde er nicht selten rückwirkend entlassen. Wenn der Suizidversuch nicht zum sofortigen Tod geführt hatte, galt er für das Krankenblatt und die Statistik als verlegt in die Innere oder in die Chirurgische Klinik.«

    Wir halten ein Tätigwerden des BMG z.B. in Form eines Suizidregisters unter besonderer Berücksichtigung beteiligten Psychopharmaka/Elektroschocks, von vorangegangener Fixierung und anderer Formen vorangegangener psychiatrischer Zwangsmaßnahmen für dringend erforderlich, um geeignete Formen der Suizidprophylaxe zu entwickeln.

  3. Änderung des Berufsgruppenschlüssels in der PsychPV zugunsten von PsychologInnen.

    Unser für die PsychPV zuständiges Vorstandsmitglied Frau Ursula Zingler hat sich bereits über den Personalschlüssel beklagt, der einem Klinikpsychotherapeuten 36 Klinikinsassen und -insassinnen zuordnet. Da wir uns verstärkt für eine psychotherapeutische Orientierung der Psychiatriereform einsetzen, appellieren wir erneut, alles in Ihrem Möglichkeiten liegende zu tun, um den Stellenschlüssel in Kliniken zugunsten von psychotherapeutischer Arbeit zu verbessern und die Voraussetzungen für eine konfliktaufarbeitende und damit mittel- und langfristig kostensparende Ausrichtung der Kliniken zu veranlassen.

Über eine Antwort auf unsere Fragen und Vorschläge würden wir uns sehr freuen.

Für den Vorstand
Hochachtungsvoll
Peter Lehmann